Nadeschda A. Joffe, die der Linken Opposition unter Leo Trotzki angehört und Stalins Arbeitslager überlebt hatte, starb am 18. März in einem Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Sie hinterläßt ihre Memoiren unter dem Titel "Rückblende. Mein Leben, mein Schicksal, meine Epoche". Nadeschda hatte am 9. März einen Schlaganfall erlitten. Nach ihrer Einlieferung in die Klinik erlitt sie zwei weitere Anfälle und verstarb schließlich, nachdem sie eine Woche lang im Koma gelegen hatte. Sie ist 92 Jahre alt geworden.
Nadeschda A. Joffe war die Tochter Adolf Abramowitsch Joffes, eines Führers der Oktoberrevolution von 1917. Er hatte dem von Trotzki geleiteten Militärischen Revolutionskomitee angehört, das die bürgerliche Provisorische Regierung stürzte und den Sowjetstaat errichtete. Nach der Revolution wurde er einer ihrer herausragendsten Diplomaten. Er nahm als Mitglied der sowjetischen Delegation an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk teil. Seine diplomatische Tätigkeit führte ihn nach Deutschland, China und Japan.
Neben Trotzki stemmte er sich bereits während der frühen zwanziger Jahre der aufkommenden stalinistischen Bürokratie entgegen. Nachdem ihm die Stalinfraktion die Behandlung einer schweren Erkrankung im Ausland unnachgiebig verweigert hatte, wählte er im November 1927 den Freitod, um mit diesem Schritt zugleich ein Fanal gegen Trotzkis Ausschluß aus der Kommunistischen Partei zu setzen.
Nadeschda Joffe, die dem Sozialismus treu ergeben war, hatte sich der Linken Opposition kurz nach deren Gründung im Jahr 1923 angeschlossen. In ihren Memoiren zeichnet sie ein lebhaftes Bild des sowjetischen Lebens während der zwanziger Jahre und erklärt, weshalb viele Menschen, wie sie selbst, die Grundsätze der Revolution zu verteidigen suchten. Das Lebensgefühl ihrer Generation zu jener Zeit beschreibt sie mit den Worten: "Wir alle wollten nichts für uns selbst, wir wollten alle nur das eine: die Weltrevolution und Glück für alle. Und wenn wir dafür unser Leben hätten geben müssen, wir hätten es ohne Zögern getan." (1)
Das Kernstück der Memoiren Joffes befaßt sich mit der Schreckenszeit der späten dreißiger Jahre, als die sozialistischen Intellektuellen und Arbeiter in der UdSSR unter Stalin vernichtet wurden. Nadeschda wurde erstmals 1929 als Oppositionelle verhaftet und für mehrere Jahre deportiert. Eine weitaus schlimmere Zeit begann mit ihrer zweiten Verhaftung und Verbannung nach dem sibirischen Kolyma im Jahr 1936. Hier starben Hunderttausende Linksoppositionelle, Intellektuelle, Arbeiter und Bauern an der Lagerarbeit, an Hunger und Kälte. Nadeschdas erster Mann und politischer Gesinnungsgenosse, Pawel Kossakowski, wurde 1938 in Kolyma ermordet.
In Nadeschda Joffes Leben siegten Grundsatztreue und menschlicher Anstand über die Repression des stalinistischen Terrorapparats. 1996 feierte sie in Brooklyn ihren neunzigsten Geburtstag gemeinsam mit Familienangehörigen und Freunden. Unter den Gästen waren auch ihre vier Töchter, Natascha, Kira, Lera und Larissa. Die beiden jüngeren, Lera und Larissa, waren in den Arbeitslagern der Region Kolyma im nordöstlichen Sibirien zur Welt gekommen, die beiden älteren hatten miterleben müssen, wir ihre Mutter von der stalinistischen Polizei geholt wurde. Alle dankten sie ihr für ihre Liebe, ihre Kraft und die Entschlossenheit, mit der es ihr gelungen war, die Familie trotz unvorstellbarer Schwierigkeiten wieder zusammenzuführen.
Nadeschda Joffes historisch einzigartige Memoiren schließen mit einem kurzen Nachwort an ihre Leser: "Ich kehrte nach meiner Rehabilitierung im Herbst 1956 nach Moskau zurück und schrieb dieses Buch in den Jahren 1971-72, als wir noch solche Worte hörten wie Sozialismus, Revolution, die Partei...
Ich kannte viele Teilnehmer der Oktoberrevolution persönlich. Unter ihnen gab es einige, die ein ruhiges, bequemes oder wohlhabendes Leben aufgaben, weil sie leidenschaftlich an eine strahlende Zukunft für alle Menschen glaubten.
Viele von denen, die Stalin für Oppositionelle hielt, büßten mit vielen Jahren Exil, Gefängnis und Lager für ihren Kampf gegen ihn und dafür, daß sie verstanden hatten, daß der Sozialismus, der in der Sowjetunion aufgebaut wurde, nicht der Sozialismus war, von dem die besten Denker der Menschheit geträumt hatten." (2)
(1) Nadeschda A. Joffe, "Rückblende. Mein Leben, mein Schicksal, meine Epoche", Essen, Arbeiterpresse Verlag 1997, S. 49
(2) ebd. S. 285