Am 17. Juli beerdigte die russische Regierung in der St.-Peter-und-Pauls-Kathedrale die Überreste von Zar Nikolaus II. und seiner Familie. Als die Zeremonie über die Bühne ging, waren es auf den Tag genau achtzig Jahre, seitdem die Zarenfamilie mitten im Bürgerkrieg, nach der russischen Revolution von 1917, von revolutionären Truppen erschossen worden war.
In seiner Grabrede erklärte der russische Präsident Boris Jelzin: "Diese Bestattung ist ein Akt menschlicher Gerechtigkeit, ein Symbol der Vereinigung Rußlands und die Einlösung einer gemeinsamen Schuld." Er rief zur Wiedergutmachung einer der "beschämendsten Seiten unserer Geschichte" auf.
In den vergangenen Wochen wurde die russische Bevölkerung mit Berichten über das glorreiche Zarentum überschwemmt. Ein Reporter von Associated Press berichtete: "Es ist in Rußland in diesen Wochen schwierig, das Fernsehen anzustellen, ohne ein Programm über die Zarenfamilie voller Archivaufnahmen über Nikolaus, seine Frau Alexandra und ihre Kinder zu sehen." Ein anderer Journalist meinte, trotz dieser Welle, zu der auch ungewöhnliche Live-Sendungen und Berichte über die Beerdigung im Internet gehörten, sei die Reaktion in der Öffentlichkeit bis jetzt "eher zurückhaltend. ... Die Wirtschaftsprobleme bringen es mit sich, daß viele Russen sich mehr um die Lohnrückstände sorgen."
Politiker führten einschmeichelnde Dispute mit russisch orthodoxen Kirchenfürsten und Nachkommen der Romanows, und der Ablauf der Feierlichkeiten war von politischem Zynismus und finanzieller Berechnung bestimmt. Das Ereignis kam derart ins Gerede, daß Jelzin seine Anwesenheit erst am 16. Juli bestätigte.
An der Zeremonie sprach der russische Präsident in blumigen Worten über den Zaren und seine Familie. Er konnte jedoch nicht allzu sehr ins Detail gehen, da er schließlich die Absicht hatte, Sympathie für den toten Herrscher zu wecken.
Nikolaus II., der von 1894-1917 an der Macht war, regierte in luxuriösem Prunk über ein halbfeudales Reich, das die gewöhnliche russische Bevölkerung brutal unterdrückte. Während Aristokratie und Königsfamilie in Saus und Braus schwelgten, mußten viele Millionen Bauern und Industriearbeiter im schlimmsten Elend leben. Das zaristische Rußland war in der ganzen zivilisierten Welt gleichbedeutend mit Rückständigkeit, Unterdrückung und Unwissenheit. Nikolaus stützte seine Macht auf ein Heer von Polizisten und Spitzeln. Jede fortschrittliche politische Bewegung und Idee war verboten. Das Regime trieb seine politischen Gegner zu Tausenden in die sibirische Verbannung, weitere Tausende starben in mittelalterlichen Gefängnissen.
Jelzin, der Mann, der sein eigenes Parlamentsgebäude bombardieren ließ und in Tschetschenien einen blutigen Krieg gegen die nationalistischen Kräfte führte, verurteilte in seiner Rede vom 17. Juli heuchlerisch jede Gewaltanwendung als "veraltet" und hob die geistige Bedeutung des Jahrtausendwechsels hervor.
In dieser Hinsicht ist die Geschichte Nikolaus II. lehrreich, denn seine tyrannische Herrschaft trug einiges dazu bei, das zwanzigste Jahrhundert aus der Taufe zu heben. Als Tausende von Arbeitern am 9. Januar 1905 zum Winterpalais marschierten, um dem Zaren eine Petition mit der Forderung nach Reformen zu unterbreiten, befahl Nikolaus seinen Soldaten, das Feuer auf die unbewaffneten Arbeiter, ihre Frauen und Kinder zu eröffnen. Über tausend Menschen wurden getötet und fünftausend verletzt.
Die Antwort des Zaren und seiner Regierung auf die Revolution von 1905 bestand darin, ein Terrorregime zu entfesseln, das sich besonders gegen Juden richtete. Im Oktober 1905 wurden 690 Pogrome durchgeführt, nur zwei Wochen, nachdem ein Zarenmanifest veröffentlicht worden war, das demokratische Einrichtungen in Aussicht stellte. Dreitausend Juden wurden in dieser Zeit ermordet. Ein Pogrom in Odessa forderte unter den Juden achthundert Todesopfer. Fünfhundert wurden verletzt und über hunderttausend vertrieben. Diese Pogrome wurden mit ausdrücklicher Billigung der Regierung entfesselt.
Nikolaus ermutigte persönlich den Aufbau der Schwarzhunderter, einer paramilitärischen Stoßtruppe, die Juden und andere Minderheiten terrorisierte. Wie Leo Trotzki in seiner "Geschichte der russischen Revolution" schrieb: "Schon in der Morgenröte seiner Regierung lobte Nikolaus die ,braven Fanagorier' für die Niederschießung von Arbeitern. Er ,las mit Vergnügen', wie man mit Nagajkas die ,kurzgeschorenen' Studentinnen peitschte oder während der jüdischen Pogrome hilflosen Menschen die Schädel einschlug. ... Witte, der während der Niederwerfung der ersten Revolution an der Spitze der Regierung stand, schreibt in seinen Memoiren: ,Wenn nutzlose, grausame Ausschreitungen der Anführer von Strafexpeditionen dem Kaiser bekannt wurden, fanden sie seine Billigung, jedenfalls seinen Schutz.' ... Dieser ,Charmeur' ohne Willen, ohne Ziel, ohne Phantasie war schrecklicher als alle Tyrannen der alten und der neuen Geschichte." (L. Trotzki, "Geschichte der russischen Revolution", Frankfurt 1973, S.57-58)
Nikolaus II. war es auch, der sein Land in das Gemetzel des ersten Weltkriegs führte, in dem das russische Heer schrecklich dezimiert wurde, als es gegen die besser ausgerüstete und besser ausgebildete deutsche Armee kämpfen mußte. Schätzungsweise 1,7 Millionen russische Soldaten ließen ihr Leben auf dem Schlachtfeld, über vier Millionen wurden verwundet und 2,5 Millionen gerieten in Gefangenschaft.
Jedenfalls brachen die Revolutionen von 1905 und 1917 nicht grundlos aus. Im Oktober 1917 hatte sich in der überwältigenden Mehrheit der russischen Bevölkerung abgrundtiefer Haß auf den Zaren und seinen ganzen Hof inklusive Rasputin, den wahnsinnigen Mönch, ausgebreitet.
Im August 1917, Monate nach seiner Abdankung, aber noch vor der Revolution der Arbeiter und Bauern, wurden Nikolaus und seine Familie nach Tobolsk in Sibirien gebracht und dort im Haus des Gouverneurs aufgenommen. Nachdem die Bolschewiki die Macht ergriffen hatten, verschlechterte sich ihre Lage, d.h. man gestand ihnen keine Privilegien mehr zu, sie erhielten nur noch soviel zu essen wie jeder gewöhnliche Soldat. Im April 1918 wurde die Familie nach Jekaterinburg im Ural gebracht.
Der Ausbruch des Bürgerkriegs und sein weiterer Verlauf besiegelten das Schicksal des Zaren und der Zarin. Auf einer Sitzung des bolschewistischen Politbüros schlug Trotzki vor, Nikolaus vor Gericht zu stellen und die Gepflogenheiten seines Regimes in einem öffentlichen Prozeß in allen Einzelheiten aufzurollen. Der Prozeß, so der Vorschlag, sollte im Radio verbreitet werden. Obwohl dieser Vorschlag viel Unterstützung fand, war er schließlich nicht durchführbar, weil 14 feindliche Armeen den sowjetischen Arbeiterstaat angriffen, an ihrer Spitze England und Frankreich, und die Revolution zu zerschlagen suchten.
Im Juli 1918 wurde die militärische Lage der Roten Armee in Jekaterinburg immer prekärer. Weiße Truppen drangen vor und die Bolschewiki fürchteten, daß die Zarenfamilie in die Hände der Konterrevolution fallen und dort für die schwankenden und rückständigeren Schichten der Landbevölkerung zum lebenden Symbol werden könnte. Daher wurden der Zar und seine Familie am 17. Juli 1918 exekutiert. Sie teilten somit das Schicksal von Charles I. von England, Louis XVI. von Frankreich und vielen anderen Opfern des menschlichen Fortschritts.
Hunderttausende kamen im dreijährigen, erbitterten Bürgerkrieg um, den die russischen Kapitalisten und Gutsbesitzer mit Rückendeckung der Großmächte vom Zaun gebrochen hatten, um die Sowjetregierung zu stürzen. In diesem Zusammenhang formulierte Trotzki später mit vollem Recht die Gründe der revolutionären Regierung für die Exekution: "Die Unerbittlichkeit der Abrechnung zeigte allen, daß wir entschlossen waren, einen gnadenlosen Kampf zu führen, ohne vor etwas zurückzuschrecken. Die Hinrichtung des Zaren und seiner Familie war notwendig, nicht nur um dem Feinde Angst einzuflößen, ihn in Schrecken zu versetzen und ihm die Hoffnung zu nehmen, sondern auch, um die Menschen in den eigenen Reihen aufzurütteln und ihnen zu zeigen, daß es keinen Rückzug geben konnte, daß wir entweder dem totalen Sieg oder dem totalen Untergang entgegen gingen. - In den Kreisen der Parteiintellektuellen hat es wahrscheinlich Zweifel und Kopfschütteln gegeben. Doch die große Masse der Arbeiter und Soldaten befand sich auch nicht einen Augenblick lang im Zweifel: jede andere Entscheidung hätten sie überhaupt nicht verstanden und hätten sie auch nicht akzeptiert." (L. Trotzki "Tagebuch im Exil", Köln u. Berlin 1958, S. 113)