Das elende Leben indischer Witwen

Water - Drehbuch und Regie von Deepa Mehta

Water, der jüngste Spielfilm von Deepa Mehta und dritter Teil ihrer "Elemente-Trilogie", läuft seit September auch in deutschen Kinos. Im vergangenen halben Jahr wurde er schon auf mehreren internationalen Filmfestivals gezeigt und kam in zahlreichen Ländern in die Kinos. Wie die ersten beiden Filme der Trilogie - Fire (1996) und Earth (1999) - hat auch Water viel Lob und positive Kritiken erhalten.

Mehtas Trilogie spielt in Indien und bedient sich der Hindu-Sprache; sie stellt unterschiedliche Formen religiöser Intoleranz und kultureller Rückständigkeit - sexuelle Bigotterie (Fire), religiöses Sektierertum (Earth) und Unterdrückung der Witwen (Water) - in Frage. Aus diesem Grund wurde Mehta zur Zielscheibe bösartiger politischer Angriffe der Hindu-fundamentalistischen Bharathiya Janatha Party (BJP) und der ihr nahe stehenden extremistischen Organisationen, die auf der Grundlage der Hindutva-Ideologie (hinduistischer Nationalismus) für die Wiederbelebung alter gesellschaftlicher Werte und religiöser Praktiken eintreten.

Hindu-Extremisten inszenierten Krawalle und setzten Kinos, in denen Fire 1996 gezeigt wurde, in Brand. 1998 versuchten sie, ein Verbot von Earth zu erwirken. Im Frühjahr 2000 zwangen sie Mehta, die Filmproduktion von Water abzubrechen. Damals wurde Mehtas Kulissenaufbau in Varanasi, im indischen Staat Uttar Pradesh, von einem Mob von 2000 Menschen zerstört, der von der BJP-Organisation RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) aufgehetzt worden war.

Der Film wurde zu Unrecht beschuldigt, indische Frauen als Prostituierte darzustellen, Teil einer christlichen Verschwörung gegen den Hinduismus zu sein und gar die westliche Unterdrückung Indiens zu unterstützen. Deepa Metha sah sich mit eskalierenden Protesten, Gewaltausbrüchen und persönlichen Todesdrohungen nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen die Hauptdarstellerinnen Shabana Asmi und Nandita Das konfrontiert. Sie entschloss sich deshalb, die Produktion abzubrechen.

Die World Socialist Web Site unterstützte damals Mehtas demokratisches Recht, diesen Film zu drehen, und setzte eine internationale Kampagne in Gang, um die Regisseurin wie auch ihr Recht, zu verteidigen, ihre Arbeit unabhängig von der Kontrolle religiöser oder staatlicher Stellen fortzusetzen (siehe: http://www.wsws.org/de/2000/mar2000/meth-m14.shtml). Die Kampagne wurde von zahlreichen Regisseuren, Künstlern und Schriftstellern auf der ganzen Welt unterstützt. Dagegen schwiegen prominente Persönlichkeiten der kommerziellen indischen Filmindustrie, besonders aus Mumbai, wo Bollywood liegt, über diesen eklatanten Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Obwohl Mehta im Jahr 2000 gezwungen war, Water abzubrechen, gab sie das Projekt niemals auf, und letztes Jahr gelang es ihr endlich, die Produktion in Sri Lanka unter falschem Namen, strikter Geheimhaltung und mit einer neuen Besetzung wieder aufzunehmen. Die jüngere Lisa Ray ersetzte Nandita Das, die die Hauptrolle in Fire und in Earth gespielt hatte, und Seema Biswas (Bandit Queen) erhielt jetzt die Rolle von Shakuntala, die ursprünglich Shabana Azmi gespielt hatte.

Water spielt im Jahr 1938 in Indien, der zu dieser Zeit von Großbritannien beherrschten Kolonie, vor dem Hintergrund von Mahatma Gandhis Aufstieg und der antikolonialen Bewegung. Die Geschichte beginnt damit, dass die achtjährige Chuyia (Sarala), Leidtragende der damals in Indien noch weit verbreiteten Kinderheirat, erfährt, dass ihr fünfzigjähriger Ehemann gestorben ist.

Nach Hindu-Brauch hatte eine Witwe damals drei Möglichkeiten: Sie konnte den jüngeren Bruder ihres Ehemanns heiraten, sie konnte sich auf dem Scheiterhaufen, auf dem ihr Mann verbrannt wurde, neben ihn legen, oder sie konnte sich für ein Leben der Selbstentsagung entscheiden.

Das kleine Mädchen, das sich kaum an seine Hochzeit erinnern kann, geschweige denn versteht, was ihr nun bevorsteht, wird von ihren Eltern in ein Ashram, ein Witwenheim, in der heiligen Hindustadt Varanasi am Ganges geschickt. Man rasiert ihr den Kopf und erwartet von ihr, dass sie ihr restliches Leben in dieser von Armut geplagten Einrichtung verbringt, ohne persönlichen Besitz oder Einkommen und abgeschieden von der übrigen Gesellschaft.

Chuyia ist anfangs verzweifelt und verwirrt, fügt sich jedoch schließlich in das Leben im Ashram mit vierzehn weiteren Witwen in einem heruntergekommenen Gebäude. Eine tyrannische und korrupte alte Witwe, Madhumati (gespielt von der erfahrenen indischen Schauspielerin Manorama) herrscht über den Ashram. Sie raucht jeden Abend Marihuana, das ihr Gulabi (Raghuvir Yadav), der Eunuch und Zuhälter des Ortes, besorgt.

Madhumati und Gulabi verdienen sich ein Zusatzeinkommen, von dem ein kleiner Teil für den Unterhalt des Ashrams benutzt wird, indem sie die schöne junge Witwe Kalyani (Lisa Ray) als Prostituierte an lokale Brahmanen oder Mitglieder der hohen Kasten auf der andern Flussseite vermitteln. Kalyani, deren Haar nicht abrasiert wurde, weil sie ja für ihre Kunden attraktiv aussehen muss, bewohnt im Ashram eine Sonderunterkunft. Sie besitzt außerdem einen kleinen jungen Hund.

Weitere Schlüsselfiguren im Ashram sind Shakuntala (Seema Biswas), eine Frau mittleren Alters und ergebene Hindu, die nachdenklichste und mysteriöseste der Witwen, sowie eine alte Frau (Vidula Javalgekar), "Tantchen" genannt, die Chuyia tröstet. Shakuntala, die zerrissen ist zwischen ihrem religiösen Glauben und ihrem menschlichen Verlangen, wird für Chuyia zu einer Art Mutterersatz.

Als ein hübscher junger Jurist, Narayan (John Abraham), der gerade sein Examen abgelegt hat, Chuyia hilft, das während eines Bads im Fluss entwischte Hündchen von Kalyani wieder einzufangen, entspinnt sich eine Romanze zwischen ihm und Kalyani. Ihre Liebesaffäre bedroht jedoch das gewohnte Kräftespiel im Ashram.

Narayan ist ein Gegner der Kastenunterdrückung und Anhänger Mahatma Gandhis und seiner Bewegung des "passivem Widerstands" gegen die britische Herrschaft. In Liebe entbrannt, lehnt er sich gegen die herrschende Witwenunterdrückung auf und fragt Kalyani, ob sie ihn heiraten will. Er stützt sich dabei auf eine neu eingeführte Rechtsvorschrift, die es Witwen möglich macht, wieder zu heiraten.

Als Chuyia aus Versehen Madhumati von der geplanten Hochzeit wissen lässt, wird die alte Frau zornig und schwört, sie zu verhindern. Sie schneidet Kalyani die Haare ab und sperrt sie im Ashram ein. Shakunthala jedoch beschließt, Madhumati zu trotzen, und befreit die junge Frau.

Um nicht auf alle Details des Films einzugehen: Kalyani entdeckt schließlich, dass Narayans Vater einer ihrer Kunden war, und der Film nimmt eine tragische Wendung. Shakunthala, durch die Ereignisse zutiefst verzweifelt, rettet Chuyia. Im Verlauf der Handlung findet sie sich in einer großen Menschenmenge wieder, die Mahatma Gandhi zuhört, dem Führer des indischen Nationalkongresses, der auf einer seiner nationalen Eisenbahntouren Station macht.

Die bekümmerte Shakuntala ist von Gandhis kurzem Kommentar, man müsse das Streben nach Wahrheit zu seiner Religion machen, ergriffen. Sie bittet mehrere Menschen, ihr bei der Rettung der Kinderwitwe zu helfen, die sie nun "Gandhi schenken" will. Der Film endet damit, dass Shakuntala entdeckt, dass Narayan sich entschlossen hat, mit Gandhi zu gehen. Er nimmt das Kind mit, als der Zug die Station verlässt.

Water zeigt viele tief bewegende Szenen und eine überzeugende Darbietung von Seema Biswas und Sarala; die Filmtechnik und die Musik von Giles Nuttgen, resp. A.R. Rahmans sind erstaunlich. Der Titel ist metaphorisch und wahrscheinlich der passendste zum Thema des Films - dem Hinduismus - der im Wasser die wichtigste Gabe des Schöpfers an die Menschheit sieht. Das Wasser kommt in immer neuen Bildern vor, und Regen und Fluss bilden den Hintergrund der zentralen Filmromanze und ihres tragischen Endes.

In einer Szene, die den Zuschauer wohl am stärksten berührt und die grausamen Entbehrungen der Witwen besonders anschaulich zeigt, gelingt es Chuyia, einen Laddu (eine gebratene Süßigkeit) zu Tantchen, der alten Witwe, herein zu schmuggeln. Dies ist eine der vielen Speisen, die den Witwen verboten sind. Tantchen, die ebenfalls als Kind verheiratet wurde, ist überglücklich, isst den Laddu mit Heißhunger; dabei erinnert sie sich, dass sie zum letzten Mal auf ihrer Hochzeit diese besondere Süßigkeit gekostet hat.

Die ohne Frage überzeugendste Persönlichkeit in Water ist Shakunthala, deren Rolle gegen Ende des Films immer mehr in den Vordergrund tritt. Mehta zeigt an Shankuntala die sozialen und psychologischen Widersprüche auf, mit denen Menschen konfrontiert sind, die Trost in denselben religiösen Werten suchen, die eigentlich verantwortlich sind für ihre Unterdrückung. Seema Biswas schauspielerische Leistung ist außergewöhnlich; mit subtiler Einfühlung stellt sie Shakuntalas Versuche dar, den Abgrund zwischen ihrer natürlichen Freundlichkeit und den Traditionen zu überbrücken, die von ihr die Unterdrückung ihrer Menschlichkeit verlangen.

Sie fördert Kalyani und Narayans romantische Beziehung gegen alle vorherrschenden religiösen Tabus. Da sie tatsächlich die einzige Witwe im Ashram ist, die lesen und schreiben kann, liest sie Kalyani Narayans Liebesbriefe vor und bietet sogar an, dem Paar zur Flucht zu verhelfen. Sie ist überzeugt, dass ihnen dadurch ein glücklicheres Leben gelingen kann, was ihr selbst genommen wurde.

Water weist auch mit Nachdruck auf einige der zugrundeliegenden wirtschaftlichen Faktoren hin, die hinter der Entrechtung der Witwen stecken. So erklärt Narayan den Vorteil einer Trennung der Witwen von Ehemann, Familie und Eigentum: "Einen Mund weniger zu füttern. Vier Saris gespart. Ein freies Bett und eine Ecke mehr im Familienhaus. Einen anderen Grund, warum ihr hierher geschickt werdet, gibt es nicht." Und während die Behandlung der Witwen als Religion getarnt wird, erklärt er: "Es geht nur um Geld." Diese wenigen Sätze werfen ein außerordentlich starkes Licht auf die Situation.

Mehtas Film setzt die Folgen dieser brutalen und entmenschlichenden "Traditionen" für die Menschen in Szene, enthält aber auch Elemente des Konventionalismus und Melodramas von Bollywood, die nicht zusammenpassen mit dem fordernden zentralen Thema des Films und die dazu neigen, die dramatische Wirkung abzuschwächen. Die Liebesaffäre zwischen Narayan und Kalyani ist offensichtlich ein wesentlicher Bestandteil der Erzählung, aber das Paar bräuchte mehr Tiefe und Komplexität. Ihre Liebesaffäre hat alle äußeren Attribute - schöne Menschen, romantische Umgebung und lyrische Musik, und selbst eine Rezitation des epischen Liebesgedichts "Meghaduuta" von Kalidasa - aber es fehlt ihm an wirklicher Intensität.

Außerdem ist Lisa Ray, ein früheres Fotomodell, viel zu elegant und edel, um Mitglied in einem von Armut geplagten Ashram sowie eine Prostituierte zu sein. John Abrahm als Narayan, einer von Bollywoods meistgefragten Filmhelden, schaut zuweilen so aus, als sei er gerade aus einem Hochglanzmagazin geklettert. Seiner Persönlichkeit mangelt es an Leidenschaft, was ein Problem ist, weil er in Water eine der bewussteren politischen Rollen spielen sollte.

Die Schlussszenen, in denen Gandhi vorkommt, deuten seine Unterstützung bei den Massen an und die Hoffnung von Millionen, dass er und der indische Nationalkongress die britische Herrschaft, das Kastensystem und andere Formen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung beenden werden.

Man könnte offensichtlich wesentlich mehr über Gandhi und den Kongress sagen, da er trotz seiner Kritik an gewissen Aspekten der Kastenunterdrückung, wie der Isolation der Witwen und dem System der "Unberührbaren", das Kastensystem als solches oder seine wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Grundlagen niemals in Frage stellte.

Die Kämpfe, angestoßen von der Kongresspartei unter Gandhi, wurden immer durch ihre Angst gedämpft, es könnte ein Arbeiteraufstand gegen das kapitalistische und Grundbesitzer-Eigentum und gegen das religiöse Dogma - das dabei half, das Eigentum zu verteidigen - provoziert werden. Das garantierte, dass keins der wesentlichen Probleme, vor denen die Massen standen, gelöst werden konnte, und stellte sicher, dass die Enteignung und Isolation der Witwen und andere Formen sozialer Unterdrückung in Indien bis heute existieren.

Zwar hoffen immer noch einige, darunter vielleicht auch Mehta selbst, dass eine Wiederbelegung des Gandhiismus diese Probleme irgendwie lösen könnte. Aber der Film selbst endet mit dem Blick auf Shakunthalas sorgenvolles Gesicht und wechselt dann zu eingeblendetem Text, der darauf hinweist, dass 2001 in Indien 34 Millionen Witwen lebten, viele von ihnen noch immer unter Bedingungen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Entrechtung. Nachdenklichere Zuschauer werden sich zwangsläufig fragen, warum Gandhis Bewegung sich als unfähig erwiesen hat, dem ein Ende zu bereiten, und woran es liegen mag, dass die Hoffnungen der indischen Massen so tragisch zerschlagen wurden.

Indiens Zensurbehörde hat zwar zugestimmt, Water im nächsten Monat ungekürzt zu zeigen, aber es gibt kaum Zweifel, dass der Film den Zorn der Hindu-Extremisten erregen wird. Für ihren Mut kann man Mehta nur loben und gratulieren. Ihre Weigerung, sich einschüchtern zu lassen, wird in Indien und andernorts all jene ermutigen, die gegen religiöse Rückständigkeit und andere soziale Übel kämpfen. Ungeachtet seiner Schwächen ist Water eine wichtige Errungenschaft.

Siehe auch:
Deepa Metha im Gespräch mit der WSWS
(4. November 2006)
Appell des World Socialist Web Site : Stoppt die Angriffe der Hindu-Extremisten auf die indische Filmemacherin Deepa Mehta
( 14. März 2000)
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