Große Koalition - illegitim und undemokratisch

Die große Koalition, die Union und SPD in Berlin jetzt vorbereiten, ist undemokratisch und illegitim. Eine derartige Regierung wird eine Politik im Interesse der Wirtschaftsverbände und Besitzenden verwirklichen, der die überwiegende Mehrheit der Wähler am 18. September eine entschiedene Abfuhr erteilt hat.

Der CDU-Politiker Norbert Röttgen hat dies unverblümt ausgesprochen. "Eine Große Koalition kann die unbequemen Fragen angehen, zu deren Lösung der Politik in den letzten 15 Jahren der Mut fehlte", sagte er der Berliner Zeitung. Es ist bezeichnend, dass Röttgen damit nicht nur der Regierung Schröder mangelnden Mut vorwirft, unbequeme Fragen anzugehen, sondern auch ihrer Vorgängerin unter Helmut Kohl. Eine große Koalition wird eindeutig rechts von beiden stehen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass es "einer großen Koalition viel schwerer fällt, die bisherige Politik des Sozialabbaus fortzusetzen", und dass sie das "weitaus geringere Übel als eine schwarz-gelbe Regierung" darstellt - wie dies Oskar Lafontaine von der Linkspartei schon vor der Wahl behauptet hatte.

Während über Führung und Zusammensetzung einer großen Koalition noch heftig gestritten wird, liegen die Grundzüge ihrer Politik bereits fest. Sie wird von heftigen Angriffen auf die arbeitende Bevölkerung geprägt sein. Alle Pressekommentare und Äußerungen von SPD- und Unionspolitikern stimmen in dieser Hinsicht überein.

Als erstes soll der Bundeshaushalt saniert, das heißt eine neue Runde sozialer Kürzungen eingeleitet werden.

Als zweites steht eine grundlegende Umwandlung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung auf dem Programm. Hier vertreten SPD und Union zwar unterschiedliche Konzepte. Sie stimmen aber überein, dass die Unternehmen von Sozialausgaben (den sogenannten Lohnnebenkosten) entlastet, die Leistungen an die Versicherten zusammengestrichen und die Versicherungskassen weitgehend privatisiert und für den Kapitalmarkt geöffnet werden sollen. Viele Kommentatoren sehen in der Demontage des über hundertjährigen Sozialversicherungssystems die eigentliche "historische Chance" einer großen Koalition.

Schließlich sollen die Steuern für Wirtschaft und Reiche weiter gesenkt und die sogenannte Föderalismusreform unter Dach und Fach gebracht werden. Auch wenn Professor Kirchhof nicht am Kabinettstisch einer großen Koalition sitzen wird, symbolisiert sein Name ihre Marschrichtung.

Hinzu kommen die weitere Aufrüstung des Staatsapparats und der Abbau demokratischer Rechte. Darüber wird kaum gesprochen, da in dieser Frage seit langem Übereinstimmung zwischen SPD und Union besteht. Da die Politik einer großen Koalition unweigerlich auf massiven Widerstand in der Bevölkerung stoßen wird, wird diese zu repressiven Maßnahmen greifen, um kritische Meinungen zu unterdrücken und Widerstand zu brechen.

Laut Angaben des Deutschen Journalistenverbands sind in Deutschland schon von 1987 bis 2000 über 150 Zeitungsredaktionen, Funkhäuser und Privatwohnungen von Journalisten durchsucht und Recherchematerialien beschlagnahmt worden. Das Ziel war Einschüchterung. Es kam in keinem einigen Fall zu einer Verurteilung der verdächtigten Journalisten. Dieser Trend, kritische Stimmen einzuschüchtern, wird sich unter einer großen Koalition noch verstärken.

Durch die Einbindung der SPD und vor allem der Gewerkschaften in eine große Koalition soll der Widerstand gegen den sozialen Kahlschlag zumindest teilweise neutralisiert werden.

Wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung jetzt meldet, haben sich der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und der hessische Ministerpräsident Roland Koch bereits letzten Freitag zu einem vertraulichen Gespräch in Berlin getroffen. Das CDU-Vorstandsmitglied Koch ist eine der Schlüsselfiguren im Poker um die Regierungsbildung. Koch soll Sommer zugesagt haben, von den Maximalforderungen der Union nach einer Lockerung des Tarif- und Arbeitsrechts abzurücken, falls der DGB eine große Koalition unterstützt.

An der Lage der Arbeitnehmer, die seit Jahren mit sinkenden Einkommen und sich verschlechternden Arbeitsbedingungen zu kämpfen haben, würde dies wenig ändern, von den Arbeitslosen ganz zu schweigen. Wohl aber würde so die Stellung der Gewerkschaftsapparate und ihrer Funktionäre gestärkt.

Die taz, die sich für eine große Koalition einsetzt, hat diesen Zusammenhang auf den Punkt gebracht. Unter der Überschrift "Der Marrakesch und die große Koalition" lobt sie die Entscheidung des VW-Konzerns, das Modell "Marrakesch" nun doch in Wolfsburg und nicht wie angedroht im Niedriglohnland Portugal bauen zu lassen - und zieht eine direkte Parallele zur großen Koalition: "Die Thatcher’sche Revolution findet mangels Wahlsieg nicht statt, die CSU hat ihr Herz fürs Soziale wiederentdeckt," schreibt sie und folgert: "Der rheinische Kapitalismus, also die sozialpartnerschaftliche Wärmestube statt der profitmaximierenden Kältekammer, versucht noch einmal, auf die Füße und in Schwung zu kommen."

Die taz unterschlägt, dass mit der in Wolfsburg getroffenen Vereinbarung die "Thatcher’sche Revolution" in vollem Gange ist. Betriebsrat und IG-Metall haben als Gegenleistung zur Produktionszusage einen Vertrag unterschrieben, der drastische Lohnsenkungen für Neueingestellte und die Verpflichtung zu kostenloser Mehrarbeit bei Qualitätsmängeln enthält - und dies ungeachtet des geltenden Tarif- und Arbeitsrechts.

So ähnlich wird eine große Koalition funktionieren. Die Union gibt den rabiaten Kurs vor, SPD und DGB verkaufen ihn. Eine "sozialpartnerschaftliche Wärmestube" ist die große Koalition nur für die Funktionäre der SDP und der Gewerkschaften, für die Masse der Arbeitenden und Arbeitslosen ist sie dagegen eine "profitmaximierenden Kältekammer".

Von der illegitimen Wahl zur illegitimen Regierung

Das Vorziehen der Bundestagswahl diente von Anfang an dazu, einer Regierung den Weg an die Macht zu ebnen, die unpopuläre Maßnahmen gegen die Bevölkerungsmehrheit durchsetzen kann. Bundeskanzler Schröder entschloss sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt, nachdem seine Agenda 2010 auf wachsenden Widerstand gestoßen war, der auch die eigene Partei in Mitleidenschaft zog.

Nachdem im Mai in Nordrhein-Westfalen die letzte rot-grüne Landesregierung gefallen war, wollten die tonangebenden Kreise in Wirtschaft und Politik keine weitere 18 Monate auf einen Regierungswechsel in der Hauptstadt warten. Schröders Entschluss, den Bundestag vorzeitig aufzulösen, war nahezu gleichbedeutend mit der freiwilligen Übergabe der Regierungsmacht an Merkel und die Union.

Jedenfalls machte Schröder deutlich, dass er unter keinen Umständen von seiner Agenda 2010 abrücken werde. Er stellte die Wähler vor das Ultimatum: Entweder ihr wählt mich und schluckt die Agenda 2010 oder Merkel, Westerwelle und Stoiber servieren euch ihre eigene, noch schärfer gewürzte Agenda. Dieses Erpressungsmanöver wurde vom Bundespräsidenten und dem Bundesverfassungsgericht abgesegnet.

Doch zwei Entwicklungen machten Schröder und der herrschenden Elite einen Strich durch die Rechnung.

Die erste war das schnelle Anwachsen der Linkspartei. Diese Partei, angeführt vom ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine und Gregor Gysi von der PDS, vertritt ein rein bürgerliches Reformprogramm und verteidigt die bestehende Ordnung. Dennoch wurde ihr schnelles Anwachsen in den Umfragen, wo sie zeitweilig bis zu 15 Prozent erreichte, von der herrschenden Elite als Alarmsignal verstanden: Es war Ausdruck einer wachsenden Radikalisierung der Bevölkerung.

Der Erfolg der Linkspartei zwang die SPD, ihre Wahlpropaganda zu verändern. Hatte sie sich bisher als Reformpartei dargestellt, die standhaft an der Agenda 2010 festhält, präsentierte sie sich nun als Verteidigerin des Sozialstaats. Schröder nahm Merkels Finanzexperten Kirchhof ins Visier, der den neoliberalen Inhalt des Unionsprogramms unverhüllt zum Ausdruck brachte. Auch die Wahlpropaganda der Grünen vollzog einen deutlichen Linksruck.

Dieser propagandistische Linksschwenk richtete sich weniger gegen Merkel und Kirchhof, mit denen die SPD in weiten Teilen übereinstimmt, sondern er sollte das Anwachsen der Linkspartei unterbinden. Wie die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung nach der Wahl anmerkte, wird die Linkspartei nur dann wieder verschwinden, "wenn die SPD der linken Arbeiter- und gewerkschaftlichen Kleinfunktionärsschicht wieder die Aussicht auf soziale Sicherheit vermittelt".

Der zweite Schock für die herrschende Elite erfolgte am Wahlabend. Union und FDP, die lange Zeit als sichere Wahlsieger galten, erhielten zusammen nur 45 Prozent der Stimmen. Eine eindeutige Mehrheit hatte sich gegen das Programm von Merkel und Westerwelle entschieden.

Das Ergebnis signalisierte keine Zustimmung zur SPD, die eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte erzielte, sondern eine klare Absage an das neoliberale Programm von Union und FDP - und damit indirekt auch an Schröders Agenda 2010. Dies war umso eindeutiger, als sich die SPD im Wahlkampf selbst davon distanziert hatte. Die Linkspartei erzielte auf Anhieb 9 Prozent, mehr als die Grünen jemals in ihrer Geschichte erreicht haben. Sie wurde viertstärkste Partei im Bundestag - vor den Grünen und der CSU. Jeder vierte Wähler in den neuen Bundesländern und jeder vierte Arbeitslose stimmte für sie.

Selten ist ein Wählervotum so eindeutig ausgefallen. SPD, Grüne und Linkspartei verfügen im neu gewählten Bundestag über 40 Sitze mehr als Union und FDP.

Das offizielle Berlin reagierte eine Woche lang mit Hektik und Konfusion auf das Wahlergebnis. Schröder kündigte noch am Wahlabend an, er werde Kanzler bleiben. Er berief sich mit einer gewissen Berechtigung auf die verheerende Niederlage der Union, weigerte sich aber strikt, in irgendeiner Form mit der Linkspartei zusammen zu arbeiten. Die Grünen wiesen Schröders Anspruch auf das Kanzleramt zurück und beteiligten sich an den Spekulationen über eine schwarz-gelb-grüne Koalition.

In den Medien begann eine pausenlose Kampagne, dass jetzt erst Recht eine "stabile Regierung" nötig sei, um die "notwendigen Reformen" gegen die uneinsichtigen Wähler durchzusetzen. Spätestens nach einer Woche hatten sich alle Parteien wieder des ursprünglichen Zwecks der vorgezogenen Neuwahl besonnen.

Schröder betont seit Sonntag ununterbrochen, dass er alles tun werde, um einer großen Koalition zum Durchbruch zu verhelfen. "Ich bin mir ganz sicher, dass es diese Regierung in Form einer großen Koalition geben wird", sagte er am Dienstag in einer europapolitischen Rede in Straßburg.

Indem die SPD einer großen Koalition in den Sattel hilft, verwirklicht sie, was Schröder mit der vorgezogenen Neuwahl angestrebt und die Wähler am 18. September so deutlich abgelehnt hatten: Er verhilft Merkel zur Kanzlerschaft, egal wie die Wähler entschieden haben. Und wenn nicht Merkel, dann Stoiber, Koch, Wulff oder irgendeinem anderen Unionspolitiker, der denselben Kurs verfolgt. Dass Schröder sich spätestens nächste Woche zurückziehen und seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft aufgeben wird, gilt inzwischen als nahezu sicher.

Die Regierung, die nun gebildet wird, ist zutiefst undemokratisch und illegitim. Die herrschende Elite setzt damit ihren Willen durch - unabhängig davon was die Wähler entschieden und abgestimmt haben. Es gibt im Bundestag eindeutig eine Mehrheit links der Mitte. Merkel und die Union hätten ohne Unterstützung der SPD oder der Grünen keine Chance, eine Regierung zu bilden und ihre Politik zu verwirklichen.

Nun wird die Union praktisch sämtliche Verfassungsorgane dominieren - neben Bundesrat und Präsidentenamt auch das Kanzleramt und indirekt den Bundestag. Die parlamentarische Opposition wird durch eine große Koalition weitgehend ausgeschaltet. Trotz dem zweitschlechtesten Wahlergebnis ihrer Geschichte verfügt die Union dank der SPD über eine Machtfülle wie nie zuvor in ihrer Geschichte.

Die Passivität der Linkspartei

Die Linkspartei tritt dieser Entwicklung nicht entgegen. Sie verhält sich völlig passiv. Sie warnt noch nicht einmal davor, was mit einer großen Koalition auf die Bevölkerung zukommt. Sie spekuliert auf weitere Wahlerfolge, auf einige zusätzliche Abgeordnetensitze in den Landesparlamenten, möglicherweise auch auf eine Abspaltung von der SPD, wenn diese die Politik der Union mit trägt. Wie die anderen Parteien auch betrachtet die Linkspartei die Bevölkerung als Stimmvieh, das ihr zu Ämtern und Einfluss verhilft.

Lafontaines selbstzufriedene Behauptung, eine große Koalition sei aus Sicht der Linkspartei zu begrüßen, erinnert in dieser Hinsicht an die berüchtigte Äußerung des KPD-Führers Ernst Thälmann: "Nach Hitler kommen wir." Während sich die Linkspartei über ihre unverhofften Wahlerfolge freut, wird eine große Koalition Fakten schaffen. Sie wird demokratische und soziale Rechte abbauen und das Fundament der Gesellschaft zerstören. Ein Blick in die USA, nach Großbritannien oder nach Osteuropa zeigt, welchen gefährlichen gesellschaftlichen Fäulnisprozess eine solche Politik des sozialen Kahlschlags in Gang setzt.

Die Linkspartei verhält sich vor allem deshalb so feige und passiv, weil sie im Osten selbst Regierungsverantwortung trägt und eine Politik durchsetzt, die sich nur in Nuancen von jener der Union und SPD unterscheidet. Sie kann die Bevölkerung nicht warnen und aufrütteln, weil ihr sonst selbst die Kontrolle entgleitet.

Wer einer großen Koalition ernsthaft entgegentreten will, muss einsehen, dass kein Weg am Aufbau einer unabhängigen, sozialistischen Arbeiterpartei vorbeiführt. Um die Grundlage für eine derartige Partei zu legen, hat die Partei für Soziale Gleichheit an der Bundestagswahl teilgenommen. Wir haben von Anfang an davor gewarnt, dass mit der vorgezogenen Bundestagswahl weitere und schärfere Angriffe gegen die arbeitende Bevölkerung vorbereitet werden.

Der Widerstand gegen die Angriffe der illegitimen Regierung, die nun in Berlin gebildet wird, muss mit dem Aufbau der Partei für Soziale Gleichheit und dem Kampf für internationale, sozialistische Perspektiven verbunden werden.

Siehe auch:
SPD und Union bereiten sich auf große Koalition vor
(28. September 2005)

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