EU-Referendum in Frankreich

Arroganz und Verzweiflung: Sozialistische Partei verleumdet Nein-Wähler

PARIS - Wenn man eine der 450 Versammlungen gesehen hat, mit denen die Sozialistische Partei in Frankreich für die europäische Verfassung wirbt, zweifelt man nicht mehr daran, dass das Referendum vom kommenden Sonntag scheitern wird.

Das Treffen, zu dem die Pariser Sozialisten am Mittwoch Abend in die Mutualité im Quartier Latin eingeladen hatten, strotzte vor Selbstzufriedenheit, Zynismus und Arroganz. Etwa 150 Teilnehmer waren erschienen, größtenteils loyale Parteimitglieder. Die Atmosphäre war familiär. Man kannte sich, duzte sich und nannte sich Genosse. Kleine Scherze lockerten die Beiträge auf.

Die gesellschaftliche Realität dagegen blieb vor der Tür. Auf Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Armut und all die anderen Sorgen, die Millionen Menschen in Frankreich und Europa quälen, ging kein Redner ein. Statt dessen malten sie ein demokratisches und harmonisches Europa an die Wand, das mit der täglich erfahrenen Wirklichkeit nichts gemein hat. Die Atmosphäre hatte etwas Irreales - oder besser Surreales, abgehoben von der wirklichen Welt.

Das Treffen begann mit leisen Tönen. Ein Vertreter des Parti Radical de Gauche, eines Relikts der großen bürgerlichen Partei der Dritten und Vierten Republik, begründete sein Eintreten für die Verfassung. Sie stehe für ein demokratisches Europa. Beweis? Das Verbot der Todesstrafe. In China würden jährlich Tausende und in Amerika einige Dutzend hingerichtet. Die Logik des Arguments blieb den meisten Zuhörern verborgen, hat doch niemand vorgeschlagen, die Todesstrafe in Europa einzuführen, falls die Verfassung abgelehnt wird.

Es folgte Anne Hidalgo, erste Stellvertreterin des Bürgermeisters von Paris. Die Mittvierzigerin blickt auf eine Karriere in verschiedenen Ministerien und beim Wasserkonzern Vivendi zurück, wo sie als "Direktorin für menschliche Ressourcen" wirkte.

Sie hielt sich an die offizielle Parteilinie: Für ein starkes Frankreich in einem starken Europa; Export des französischen Gesellschaftsmodells. Die ganze Welt rufe danach: "Lateinamerika, Asien und Afrika sagen: ‚Wir brauchen ein starkes Europa’." Zwischendurch giftete Hidalgo gegen die Gegner der Verfassung. Laurent Fabius, Wortführer des Nein-Lagers innerhalb der Sozialistischen Partei, solle den Psychiater aufsuchen.

Dann wurde es allmählich lauter. Francois Rebsamen, Nummer Drei der Partei und im Vorstand für die Ja-Kampagne zuständig, griff in die demagogische Trickkiste.

Er beschwor Jean Jaurès und Léon Blum. Einer der grundlegendsten Werte der Sozialisten stehe auf dem Spiel, der Internationalismus. Rebsamen ist offenbar entgangen, dass der sozialistische Internationalismus darauf abzielt, die Arbeiter gegen Bourgeoisie und Regierungen zu vereinen, während Sinn und Zweck der Verfassung darin bestehen, die europäischen Regierungen und Konzerne gegen die Bevölkerung zusammenzuschließen.

Die Verankerung des "freien und unverfälschten Wettbewerbs" in der Verfassung rechtfertigte Rebsamen damit, dass dies schon in den Römer Verträgen von 1957 der Fall gewesen sei. Es handle sich um eine Schlussfolgerung aus dem Nationalsozialismus, der sich bekanntlich auf die großen Monopole und Trusts gestützt habe - als würden die wirtschaftsliberalen Bestimmungen der Verfassung nicht die mächtigsten Finanzinteressen begünstigen.

Rebsamen pries "die Entscheidung für die Verantwortung", die von den Sozialisten getroffen worden sei. Riefe die Sozialistische Partei nicht zum Ja auf, sagte er in einem entlarvenden Kommentar, würden 70 Prozent der französischen Wähler mit Nein stimmen. In der Tat, die herrschende Klasse Frankreichs hat den Sozialisten viel zu verdanken. Ob es allerdings für eine Annahme der Verfassung reicht, bleibt höchst ungewiss.

Das erzürnte auch Rebsamen, der seinen Beitrag damit abschloss, dass er den Verfassungsgegnern Verantwortungslosigkeit vorwarf. Sie würden überhaupt nicht die Frage stellen: "Was passiert danach?"

Hauptredner der Versammlung war Pierre Moscovici, Europaminister unter Lionel Jospin. Der Absolvent der Eliteschule ENA hatte der LCR Alain Krivines angehört, bevor er 1984 in die Sozialistische Partei überwechselte. Er hatte sich als Mitglied des Verfassungskonvents persönlich an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt und ließ nun seiner Wut über ihre Gegner freien Lauf.

Sein gesamter Beitrag drehte sich um das Stichwort "Wut". Dabei schreckte er auch vor Schlägen unter die Gürtellinie nicht zurück. Die Vertreter des Nein-Lagers seien antisozialistisch, antiinternationalistisch und einfach dumm. Sie stellten die Verfassung falsch dar und schürten Illusionen. Sie wollten den Eisernen Vorhang wieder errichten, was er als Sohn eines rumänischen Vaters und einer polnischen Mutter strikt ablehne. Er pries den wirtschaftlichen Fortschritt Osteuropas in höchsten Tönen, ohne mit einer Silbe auf die verheerende sozialen Zustände dort einzugehen. Ausführlich ging er auf den Vorschlag ein, Fabius solle einen Psychiater aufsuchen.

Nach und nach kam Stimmung auf im Saal.

Der Applaus steigerte sich weiter, als Moscovici Präsident Chirac mangelndes Engagement für die Verfassung vorwarf. Jedes Mal, wenn er sich an die Öffentlichkeit wende, gingen die Meinungsumfragen um einige Punkt zurück.

Damit sprach er dem frustrierten Parteivolk aus der Seele. Dieses hatte schon 2002 Wahlkampf für Chirac geführt, nachdem der eigene Kandidat Lionel Jospin dem Faschisten Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der Präsidentenwahl unterlegen war. Chirac hatte damals seine UMP zusammengezimmert und sich auf die Parlamentswahl vorbereitet, die er dann prompt mit großer Mehrheit gewann. Und nun sind sie schon wieder dabei, die Drecksarbeit für Chirac zu machen, der ihnen dieses Referendum durch eine unbedachte Entscheidung eingebrockt hat. Das werden sie im nie verzeihen.

Moscovicis abschließende "Wut" blieb den Wählern vorbehalten, die am Sonntag mit Nein stimmen werden. Er wolle zwar die linken und die rechten Gegner der Verfassung nicht in einen Topf werfen, meinte er, aber ein Erfolg des Nein wäre ein Triumph für Le Pen. Umfragen hätten bewiesen, dass über 50 Prozent der Nein-Stimmen aus dem rechtsextremen Lager stammten.

Das ist, schlicht gesagt, eine Verleumdung. Moscovici schüchtert die Gegner der Verfassung ein, indem er ihnen unterstellt, sie verhälfen dem rechtsextremen Demagogen zu "seinem ersten großen Sieg".

Die Sozialisten haben nichts aus den Ereignissen von 2002 gelernt. Damals hatte Le Pen ihren Präsidentschaftskandidaten überrundet, weil sich viele Wähler enttäuscht über Jospins rechten Kurs von ihnen abgewandt hatten. Die Sozialisten flüchteten unter die Fittiche Chiracs und verklärten den in Korruptionsaffären verstrickten Rechtspolitiker zum Retter der Republik. Nun führen sie erneut Wahlkampf für Chirac - und stempeln jeden, der ihnen widerspricht, zum Helfershelfer der Faschisten.

Die Versammlung endete mit Beiträgen aus dem Publikum. Parteisoldaten hielten agitatorische Reden, um die schwindenden Hoffnungen noch einmal aufzuwecken. Aber es meldeten sich auch einige nachdenklichere Stimmen zu Wort.

Eine junge schwarze Mutter sagte, sie habe nun schon mehrere Wahlversammlungen besucht und wisse immer noch nicht, wie sie abstimmen solle. Sie verstehe nicht, was die Verfassung für sie bedeute - für den Mindestlohn, für die Betreuung ihrer Kinder, für deren Erziehung. Erstaunte Blicke vom Podium und aus dem Publikum.

Ein älterer, etwas schüchterner Teilnehmer wagte anzumerken, dass die Kampagne vielleicht erfolgreicher wäre, wenn man einige positive Botschaften überbringen würde, statt nur auf die Gegner einzuprügeln. Aber mehr als einige Werbesprüche wie "Ein Europa des Herzens statt ein Europa der Angst" (was sich im Französischen reimt) kamen ihm auch nicht in den Sinn.

Wie soll man diese Versammlung einschätzen?

Sie zeigt die enorme Kluft, die sich zwischen der Sozialistischen Partei und der einfachen Bevölkerung aufgetan hat. Sie ist unfähig, die Probleme und Sorgen einfacher Menschen wahrzunehmen, geschweige denn anzusprechen. Autistisch und unempfindlich reagiert sie gereizt und beleidigt auf jede Opposition innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen. Es dauerte lange, bis im Saal so etwas wie Wahlkampfstimmung aufkam, und diese war weniger der Ausdruck echter Begeisterung, als des Versuchs, die eigene Verzweiflung zu überdecken.

Die Partei fühlt sich unter Druck, und zwar nicht von oben, sondern von unten. Daher die hysterische Denunziation der Nein-Wähler als bewusste oder unbewusste Förderer der extremen Rechten. Es kann keinen Zweifel geben, dass die Sozialistische Partei auf jede neue Herausforderung von unten mit einem weiteren Rechtsruck reagieren wird.

Siehe auch:
Nein zur europäischen Verfassung!
(25. Mai 2005)
Die offizielle Debatte
( 26. Mai 2005)
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