Wann immer die EU-Innenminister zusammen treffen, um über Asylfragen zu beraten, kennzeichnen Doppelzüngigkeit und Verdrehungen die anschließenden Verlautbarungen. Nicht anders war es beim informellen Treffen der Justiz- und Innenminister der EU im niederländischen Scheveningen am 30. September und 1. Oktober. Auf der Tagesordnung stand der Vorschlag des deutschen Innenministers Otto Schily (SPD), in Nordafrika Flüchtlingslager für Asylbewerber einzurichten. Vereinbart wurde, in einem Pilotprojekt in fünf Staaten "Aufnahmezentren" einzurichten. Der noch amtierende EU-Kommissar für Justiz und Inneres, Antonio Vitorino, beeilte sich zwar zu versichern, dass diese mit dem Vorschlag aus dem Hause Schily nichts zu tun hätten. Aber das ist barer Unsinn.
Angeblich beschränken sich die Pilotprojekte, die die EU in Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) betreiben will, nur auf die Entsendung von Beamten und finanziellen Hilfen, um in fünf nordafrikanischen Staaten - Marokko, Algerien, Tuniesien, Libyen und Mauretanien - ein eigenständiges Asylsystem aufzubauen. Die Absicht dahinter ist jedoch unmissverständlich: Es soll verhindert werden, dass Flüchtlinge überhaupt bis nach Europa kommen.
Zu dem angestrebten Asylsystemen in Nordafrika gehören nicht nur ein Paar Büros, die mit von der EU unterwiesenen Beamten besetzt sind, dazu gehören vor allem Unterkünfte für Flüchtlinge, die in Nordafrika Hunderttausende zählen sollen. Diese Unterkünfte werden unweigerlich die Form von Lagern haben, in denen Tausende Flüchtlinge zusammengepfercht werden. Im Orwellschen Neusprech werden diese von der EU, dem UNHCR und den afrikanischen Ländern gemeinsam betriebenen Lager "Aufnahmezentren" oder "Begrüßungszentren" heißen, obwohl die Flüchtlinge dort weder Willkommen geheißen werden, noch die Aussicht haben, in die EU aufgenommen zu werden.
Vielmehr werden die Flüchtlinge dort einem kurzen "Screening" unterzogen. Für diejenigen, denen Asylgründe zugestanden werden, sollen Lösungen innerhalb Afrikas gesucht werden, die Masse hingegen wird abgeschoben.
Bis Juni 2005 soll die EU-Kommission Details zur Umsetzung der Flüchtlingslager ausarbeiten, im Dezember 2005 sollen sie dann den Betrieb aufnehmen.
Auch dabei wird klar, dass die "Aufnahmezentren" den Plänen Schilys sehr nahe kommen. Geregelt werden soll, welches Asylrecht in Anschlag gebracht wird, befindet man sich doch auf dem Territorium souveräner Staaten. Schily hat hier klare Vorstellungen, dass in den Lagern weder EU-Recht zur Anwendung kommt, noch eine gerichtliche Überprüfung der Asylanträge möglich ist. Und das aus für ihn ersichtlichem Grund, werden doch in der EU je nach Mitgliedsland zwischen 30 und 60 Prozent aller Asylbewilligungen nicht durch Erstentscheider sondern durch Gerichte erteilt. Dem soll mit den "Aufnahmezentren" ein Riegel vorgeschoben werden.
Auch die Zuständigkeit, Finanzierung und Ausführung der Abschiebungen soll noch geklärt werden. Die zu erwartenden massenhaften "Rückführungen" von Flüchtlingen, wie es im EU-Jargon heißt, sind auch der einzige Grund, warum Antonio Vitorino die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in den fünf nordafrikanischen Ländern als Bedingung für die Errichtung der Flüchtlingslager genannt hat. Die EU will sich rechtlich absichern, dass Flüchtlinge nicht in Länder abgeschoben werden, in denen sie von Folter, Verfolgung und Tod bedroht sind.
Allerdings ist das ein mehr als lächerlicher Versuch, Staaten, die bis vor kurzem noch als "Schurkenstaaten" galten, wie Libyen, oder schwerster Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wurden, wie Algerien und Tunesien, in den Olymp humanitärer und fairer Flüchtlingshilfe zu heben.
Hinzu kommt, dass nicht nur Flüchtlinge in die Lager eingewiesen werden sollen, deren Flucht sie bis nach Nordafrika gebracht hat, sondern auch Flüchtlinge, die im Mittelmeer auf hoher See aufgegriffen werden. Bislang wurden Flüchtlingsboote zur Umkehr gezwungen, so dass die Flüchtlinge erneut versuchen konnten, in die EU zu gelangen. Mit den Lagern in Nordafrika besteht nun die Möglichkeit, Flüchtlinge auf See aufzunehmen und direkt in die Lager zu bringen. Das Tor zu Europa wird noch fester verschlossen. Dazu haben die Innenminister vereinbart, die gemeinsamen Patrouillenfahrten zu verstärken.
Über kurz oder lang werden dann auch Flüchtlinge in die Lager gebracht, die bereits EU-Territorium erreicht haben. Das Vorpreschen der italienischen Regierung vor zehn Tagen, Flüchtlinge ohne jede Asylanhörung nach Libyen zu deportieren, war ein erster Vorgeschmack auf die zukünftige EU-Asylpolitik.
Es ist kein Wunder, dass sich Schily nach dem Treffen sehr zufrieden zeigte. Auch wenn seine Pläne offiziell nur als "interessante Gedanken, die weiter verfolgt werden sollen" bezeichnet wurden, werden die vereinbarten Pilotprojekte eher früher als später genau den Zweck erfüllen, den Schily von Beginn an verfolgt hat: Asylbewerber aus Afrika gar nicht erst nach Europa kommen zu lassen.
Die humanitären Gesichtspunkte, die immer wieder vorgebracht werden, um die Auffanglager in Afrika zu rechtfertigen, dienen dazu, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. Ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge will die EU schon lange nicht mehr nachkommen. Schily begründete in Scheveningen seinen Vorschlag nach Informationen der Welt mit den Worten, "die EU könne entweder mit den Achseln zucken und warten, bis die Probleme Europa erreichen, oder aber diese Probleme aktiv bekämpfen". Man muss nur "Probleme" durch Flüchtlinge ersetzen, und das Ansinnen des deutschen Innenministers tritt offen zu Tage.
Dabei sollte einem schon der Begriff "Pilotprojekte" stutzig machen, decken die Lager doch mit Ausnahme Ägyptens die gesamte afrikanische Mittelmeerküste ab und dazu noch die Atlantikküste bis weit südlich der zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. Um Pilotprojekte handelt es sich wohl eher, wenn Österreich und Polen solche Auffanglager auch in der Ukraine und in Russland errichtet wissen wollen. Dadurch würden rund um die Außengrenzen von der EU finanzierte und eingerichtete Flüchtlingslager entstehen. Die EU selbst könnte dann zur flüchtlingsfreien Zone erklärt werden.
Kritische Einwände gegen die Flüchtlingslager wurden nur vom schwedischen und französischen Innenminister vorgebracht und berührten nicht die Idee als solche, sondern deren Umsetzung. Dominique de Villepin etwa argwöhnt, dass in den Lagern "mafiöse Strukturen" entstehen könnten, also Schlepper dort gezielt und geschützt tätig werden könnten. Im Klartext befürchtet de Villepin, dass die EU zwar die aufwändige Finanzierung der Lager übernimmt, aber trotzdem nicht weniger Flüchtlinge nach Europa kommen.
Die EU-Pläne zur Auslagerung des Flüchtlingsschutzes
Wenig glaubhaft ist auch die Behauptung, dass die "Aufnahmezentren" den verbliebenen Flüchtlingsschutz innerhalb der EU nur ergänzen und nicht ablösen. Vielmehr passen sich die geplanten Flüchtlingslager harmonisch in eine von der EU-Kommission entwickelte langfristige Perspektive der Flüchtlingspolitik ein, mit der die EU den Flüchtlingsschutz vollständig auslagern will. Es ist eine Mär, dass Otto Schily mit seinen Flüchtlingslagern einen Alleingang gewagt hätte, er hat nur offen ausgesprochen, was die EU ohnehin plant und damit die Umsetzung des Ganzen forciert.
Angefangen hat alles vor 15 Monaten als der britische Premier Tony Blair seine "neue Vision für Flüchtlinge" präsentierte. Bis heute wird in den offiziellen Medien lanciert, Blairs Pläne, außerhalb Europas Flüchtlingslager einzurichten und langfristig in den Herkunftsregionen Protektorate für Flüchtlinge zu schaffen, seien von den EU-Staaten mehrheitlich abgelehnt worden.
Tatsächlich hatten sich die Regierungschefs beim EU-Gipfel im Juni 2003 im griechischen Thessaloniki nur nicht dazu durchgerungen, Blairs Vision als offizielle EU-Politik zu präsentieren. Die britische Regierung wurde jedoch aufgefordert, eigenständig oder in Kooperation mit anderen Mitgliedsstaaten Pilotprojekte zu starten. Diese Versuche scheiterten zumeist an der Finanzierung.
Gleichzeitig hat die EU-Kommission den Gedanken der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes übernommen. Schon im Juni 2003 legte sie eine Mitteilung mit dem fälschlichen Titel "Für leichter zugängliche, gerechtere und besser funktionierende Asylsysteme" vor, die sowohl eine Steuerung und Begrenzung des Zugangs von Asylbewerbern in die EU als auch eine "heimatnahe" Versorgung von Flüchtlingen sowie den Aufbau von Asylsystemen in Drittstaaten und Transitländern als Zielvorstellungen einer künftigen EU-Flüchtlingspolitik umriss.
Auf dem Gipfel in Thessaloniki wurde die Kommission aufgefordert, Maßnahmen und Vorschläge zur Umsetzung dieser Zielvorgaben auszuarbeiten. Anfang Juni 2004 legte die Kommission dann den geforderten Katalog vor - nicht zufällig nur wenige Wochen bevor Schily die Flüchtlingslager in Afrika ins Spiel brachte. Denn tatsächlich beinhaltet die Kommissionsmitteilung "Verbesserungen des Zugangs zu dauerhaften Lösungen" Vorschläge, die sich mit den Plänen Schilys decken und darüber hinaus gehen.
Explizit wird dort als "dauerhafte Lösung" die Durchführung von Asylverfahren außerhalb der EU umrissen. Das versteht die Kommission als "eindeutiges Signal an die Länder in den Herkunftsregionen [die die Flüchtlinge dann zunächst aufnehmen müssten; MK], dass die EU-Staaten bereit sind, ihren Teil an Verantwortung für die Vertriebenen in diesen Regionen zu übernehmen".
Diese "Verantwortung" wollen die EU-Staaten nicht übernehmen, indem sie Flüchtlingen, denen das Recht auf Asyl zugebilligt wird, die Einreise erlauben. Vielmehr soll in einem "Pledging-Verfahren" jedes Land eine nach eigenem Ermessen festgelegte Quote aufnehmen. Geplant ist dabei ein "Creaming" (zu Deutsch: "Absahnen"), so dass sich die EU-Staaten die Flüchtlinge aussuchen, die sie gerade brauchen. Vollmundig nennt die Kommission dieses Verfahren "Neuansiedlungsprogramm", tatsächlich ist es aber ein Instrument, um die Zuwanderung nicht nur zu steuern sondern vor allem ganz erheblich zu begrenzen.
In den Drittstaaten, in denen die EU Asylanträge prüft, sollen dann auch schon erste "Integrationsmaßnahmen" entsprechend der ausgewählten Gruppen stattfinden. "Die Erarbeitung maßgeschneiderter Integrationsprogramme für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen wäre ebenfalls wesentlich leichter, wenn ein Land von vornherein wüsste, wer auf Dauer einreisen wird. Die Neuansiedlung und Genehmigung der Einreise von Personen, deren Identität und Vorgeschichte im Voraus geprüft wurde, wäre auch unter dem Aspekt der Sicherheit vorzuziehen." Asyl wird dadurch zu einem reinen Gnadenrecht, da nicht mehr die Fluchtursachen entscheiden.
Die Kommission sieht zudem in der exterritorialen Bearbeitung von Asylverfahren eine "potenzielle Zeit- und Kosteneinsparung im Vergleich zu Asylverfahren im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten".
Langfristig sollen jedoch vor allem "Regionale Schutzprogramme" aufgezogen werden mit dem Ziel, Flüchtlinge so heimatnah und weit weg von der EU wie nur irgend möglich zu versorgen. Die Flüchtlingsregionen gehören jedoch zu den ärmsten Gebieten der Welt, so dass den Flüchtlingen dort nicht einmal das physische Überleben gesichert werden kann.
Um die Drittstaaten trotzdem zur "partnerschaftlichen Zusammenarbeit" zu bewegen, wie es zynisch heißt, soll "von sämtlichen geeigneten Instrumenten der EU-Außenbeziehungen Gebrauch gemacht" werden. Explizit sind hier die auf dem EU-Gipfel in Sevilla im Juni 2002 beschlossenen Kürzungen der Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe angeführt.
Und schließlich sollen diese Drittstaaten auch dazu gebracht werden, nicht nur eigene Staatsbürger, die aus der EU abgeschoben werden, aufzunehmen, sondern auch "Staatsangehörige anderer Drittstaaten, für die der erstgenannte als Erstasylstaat gedient hat bzw. hätte dienen können". Eine etwas verklausulierte Formulierung, wonach die "Sichere Drittstaatenregelung" der EU, mit der Asylbewerber bereits an der Grenze abgewiesen werden können, selbst bei ferngelegenen Staaten greifen soll.
Das "Pledging-Verfahren" zur Aufnahme von Flüchtlingen nach eigenem Ermessen, hat Otto Schily selbst für die Flüchtlingslager in Nordafrika vorgeschlagen, ebenso die exterritoriale Überprüfung von Asylgründen. Die Anwendung der "Sicheren Drittstaatenregelung" hat Italien bei der Deportation von Flüchtlingen nach Libyen bereits exerziert. Die EU-Kommission geht aber über Schilys Vorschläge noch hinaus, indem sie Asylverfahren praktisch komplett aus der EU auslagern will. Aus dem "Additiv" der jetzt vereinbarten Pilotprojekte wird dann schnell die Alternative zum bestehenden individuellen Asylrecht innerhalb der EU.
Dazu passt auch, dass der Italiener Rocco Buttiglione ab November die Amtsgeschäfte von Antonio Vitorino übernimmt und EU-Kommissar für "Freiheit, Sicherheit und Recht" wird, wie die neue offizielle Bezeichnung lautet. Italien hat aufgrund der geographischen Lage naturgemäß den größten Anteil an afrikanischen Einwanderern in der EU - aber auch eine der restriktivsten und reaktionärsten Einwanderungsgesetzgebungen.
Rocco Buttiglione, glühender Antimarxist und Erzkatholik mit besten Verbindungen zum Vatikan, unterstützt nicht nur die Einrichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika, sondern auch die von der EU-Kommission vorgeschlagene "Auslese" von Migranten, denen Zugang zur EU gewährt werden soll. Was er vollmundig "Asyl aus wirtschaftlichen Gründen" nennt, hat jedoch nichts mit der Not und dem Elend der Flüchtlinge zu tun und soll nur die Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft nach billigen und flexiblen Arbeitskräften befriedigen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lehnte er die Vorgabe von Einwanderungsquoten mit der Begründung ab: "Die Unternehmer machen die Arbeitsverträge - sie bestimmen, wer kommen darf."
Damit die Wirtschaft sich ihre Arbeitskräfte in Ruhe aussuchen kann, so Buttiglione weiter, "sollten auf der anderen Seite des Mittelmeers Zentren errichtet werden, in denen die notwendigen Informationen gegeben werden, in denen auch eine Ausbildung oder Schulung möglich wäre". Eben Schilys Flüchtlingslager plus die von der Kommission vorgeschlagenen passgenauen Integrationsmassnahmen. Überspitzt könnte man es auch als eine moderne Form des Sklavenhandels bezeichnen.
Das Asylsystem wird so langfristig umgewandelt von einem individuellen Rechtsanspruch auf Schutz vor Verfolgung zu einem Steuerungs- und Begrenzungsinstrument der Einwanderung in die EU. Die ersten Opfer werden die afrikanischen Flüchtlinge sein, die bereits jetzt kaum noch eine Chance haben, überhaupt in die EU zu gelangen. Afrikanische Länder spielen bei den Herkunftsländern der Flüchtlinge in der EU seit Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Im Jahr 2003 sanken die Asylanträge in der EU um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr, im gleichen Maße nahmen auch die Anträge von Flüchtlingen aus Afrika ab. Im ersten Halbjahr 2004 sanken die Asylbewerbverzahlen gegenüber dem gleichen Zeitraum 2003 noch einmal um 16 Prozent. Trotzdem müssen die Flüchtlinge aus Afrika nun dafür herhalten, dass das Recht auf Asyl aus der EU verbannt wird.