Sechs Jahre nach der Regierungsübernahme durch SPD und Grüne ist die deutsche Bevölkerung Angriffen auf soziale und demokratische Rechte ausgesetzt, die sich zur Zeit der Kohl-Regierung kaum jemand hätte vorstellen können. Der Widerspruch zwischen den Wahlversprechen von 1998 und der gesellschaftlichen Wirklichkeit von heute könnte nicht größer sein.
Die östlichen Bundesländer leiden unter zunehmender Entvölkerung. Die Arbeitslosenrate liegt dort vielerorts über zwanzig Prozent, während sich die Zahl der Beschäftigungslosen bundesweit trotz wiederholter Korrektur der Statistik bedrohlich der Fünf-Millionen-Grenze nähert.
Mit den Hartz-Gesetzen sind die sozialen Absicherungen, die Arbeitslose bisher vor dem völligen Absturz in die Armut schützten, mit einem Schlag beseitigt worden. Über Fünfzigjährige haben kaum mehr eine Chance auf einen Arbeitsplatz und verlieren, noch bevor sie das Rentenalter erreichen, all ihre Ersparnisse und Ansprüche. Schul- und Studienabgänger haben nur geringe Aussichten, jemals eine anständig bezahlte Arbeit zu bekommen.
Die großen Konzerne haben die Möglichkeiten, die ihnen der wachsende Druck auf die Arbeitslosen bietet, sofort erkannt. Siemens, DaimlerChrysler, Karstadt-Quelle, Opel und VW haben nacheinander die Belegschaften mit Entlassungsdrohungen erpresst, um Lohnsenkungen im zweistelligen Prozentbereich zu erzwingen. Der Niedergang der Einkommen hat ein weiteres Ausbluten der Sozialkassen zur Folge. Die Renten werden in den kommenden Jahren nicht mehr angehoben - bei rapide steigenden Preisen.
Mittlerweile bereitet sich die Union darauf vor, auch die solidarische Krankenversicherung abzuschaffen. Das ist die Bedeutung von Merkels Kopfpauschale. Die Folge werden Verhältnisse sein wie in den USA, wo jeder siebte Einwohner nicht krankenversichert ist, oder wie in Großbritannien, wo Patienten monatelang auf lebenswichtige Operationen warten müssen und ab einem bestimmten Alter überhaupt keinen Anspruch mehr darauf haben.
Die Abwärtsspirale, die hier in Gang gesetzt wird, führt ins Bodenlose. Ein Ende ist nicht abzusehen. Ergänzt wird sie durch den Abbau demokratischer Rechte im Rahmen der angeblichen "Terrorismusbekämpfung" und im Umgang mit Flüchtlingen. Monat für Monat kommen an den EU-Außengrenzen Dutzende ums Leben, oder sie werden durch unmenschliche Bedingungen in Lagern und Abschiebegefängnissen in den Tod getrieben. Das Asylrecht existiert faktisch nicht mehr.
Der Widerstand gegen diese Entwicklung wächst - auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Breite Teile der Bevölkerung sind nicht bereit, den gesellschaftlichen Niedergang tatenlos hinzunehmen. Vor eineinhalb Jahren gingen weltweit Millionen gegen den Irakkrieg auf die Straße. Im April diesen Jahres demonstrierten dann allein in Deutschland eine halbe Million Menschen gegen die Kahlschlagpolitik der Regierung. Im Sommer entwickelten sich die Massenproteste gegen Hartz IV. Und im vergangenen Monat reagierte die Belegschaft von Opel Bochum auf Entlassungspläne von General Motors, indem sie eine Woche lang die Arbeit niederlegte.
All diesen Protesten ist gemeinsam, dass sie Teile der arbeitenden Bevölkerung einbeziehen, die bisher kaum politisch aktiv waren, und dass sie weitgehend außerhalb der Kontrolle der traditionellen Parteien und Gewerkschaften verlaufen oder sich direkt gegen diese richten. Hier zeichnet sich eine internationale Offensive der Arbeiterklasse ab, wie sie seit den Jahren 1968 bis 1975 in diesem Ausmaß nicht mehr stattgefunden hat.
Doch wie können die drängenden Probleme gelöst werden? Nach einer Antwort auf diese Frage sucht man in den Protesten bisher vergeblich. Deshalb fluten sie immer wieder zurück. Eine besonders demoralisierende Rolle spielen dabei die PDS und andere Organisationen, die sich mit der sozialen Gegenwehr solidarisieren, um dann, sobald sie Regierungsverantwortung übernehmen, auf "Sachzwänge" zu verweisen und die Kahlschlagpolitik mitzutragen.
Ein Zurück zur sozialen Reformpolitik der 1970er Jahre kann es nicht geben. Die Globalisierung ist kein Propagandatrick der Unternehmer, sondern eine Realität. Gegen transnationale Unternehmen, die die Produktion in andere Länder verlegen, um die niedrigsten Löhne und Steuern ausnutzen, und die über eine größere Finanzmacht verfügen als viele Regierungen kleinerer Länder, erweist sich gewerkschaftlicher Druck als stumpfe Waffe.
Ebenso zwecklos sind Appelle an den Staat. Alle Strategien mit dem Ziel, die nationale Wirtschaft vor dem Druck der Weltwirtschaft zu schützen, um einen gewissen sozialen Ausgleich zu erreichen, sind gescheitert - sei es die "soziale Marktwirtschaft" der Sozialdemokratie, der "Sozialismus in einem Land" der Stalinisten oder die Politik der "Importsubstitution" bürgerlicher Nationalisten in den Entwicklungsländern. Der Nationalstaat ist längst zu einem Hindernis für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Menschheit geworden.
Die Politik der "Standortverteidigung", wie sie von den Gewerkschaften betrieben wird, ist deshalb so fatal, weil sie die Arbeiter an einem Standort gegen ihre Kollegen in anderen Ländern und Standorten ausspielt. Sie verwandelt die Gewerkschaften in Büttel des Managements und macht sie - wie es ein Opel-Betriebsrat vor Jahren formulierte - "erpressbar bis zur Kinderarbeit". Um den Standort zu "retten", wird die Arbeitshetze gesteigert, die Arbeitszeit verlängert, werden Arbeitsplätze vernichtet, Zulagen gestrichen und Löhne gesenkt. Im Namen der "Standortverteidigung" wurde die Montanindustrie platt gemacht. Dasselbe geschieht nun mit der Autoindustrie, von der in Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz abhängt.
Ebenso reaktionär sind Forderungen nach protektionistischen Maßnahmen, die den nationalen Markt vor ausländischer Konkurrenz abschirmen. Sie führen unweigerlich in den Handelskrieg, der seinerseits wiederum nur eine Vorstufe zum wirklichen Krieg ist.
Die Tatsache der Globalisierung bedeutet nicht, dass Gegenwehr sinnlos ist und soziale Errungenschaften nicht verteidigt werden können. Aber sie zeigt, dass eine solche Gegenwehr nur im Rahmen einer sozialistischen Strategie Erfolg haben kann. Sie erfordert eine Perspektive, die die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel in Frage stellt und das wirtschaftliche Leben den Bedürfnissen der gesamten Gesellschaft unterordnet.
Vor über hundert Jahren schrieb Rosa Luxemburg in ihrer berühmten Polemik gegen Eduard Bernstein, dass für die (damals noch revolutionäre) Sozialdemokratie "der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck " sei. Die von Bernstein propagierte Erhebung der Sozialreform zum Selbstzweck verwandle die Arbeiterbewegung aus "einem Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung", in "eine müßige Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung".
In den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg mochten diese Worte veraltet erscheinen. Es sah so aus, als könnte die Arbeiterklasse ihre Lebensinteressen im Rahmen der bestehenden Ordnung nachhaltig sichern. Doch mittlerweile hat die "müßige Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung" die Sozialdemokratie vollständig ins gegnerische Lager geführt. Das beweist die Evolution der rot-grünen Regierung während ihrer sechsjährigen Regierungszeit.
Wichtigste Voraussetzung für den Kampf für eine sozialistische Perspektive ist die internationale Einheit der Arbeiterklasse. Die Aufgabe besteht nicht darin, den "Industriestandort Deutschland" zu verteidigen, sondern die Arbeiterklasse weltweit gegen die Angriffe der transnationalen Konzerne zusammenzuschließen. Der Kampf gegen das global operierende Kapital erfordert eine internationale Strategie. Das bedeutet Unterstützung und Solidarität für die bis aufs Blut ausgebeuteten Arbeiter Chinas, Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Osteuropas. Das bedeutet den Aufbau Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa als Alternative zur EU der Konzerne und Banken. Und es bedeutet vor allem die engste Einheit und Zusammenarbeit mit der Arbeiterkasse der USA.
Die Vereinigten Staaten von Amerika, nach dem Zweiten Weltkrieg Rückgrat des internationalen wirtschaftlichen Aufschwungs, stehen heute im Mittelpunkt der Krise des Weltkapitalismus. Die aggressive Außenpolitik der Bush-Administration ist kein Zeichen der Stärke, sondern ein Zeichen der Schwäche der USA.
Bush versucht mit militärischen Mitteln den ökonomischen Niedergang auszugleichen, der sich im sinkenden Anteil an der Weltwirtschaft, im gigantischen Haushalts- und Außenhandelsdefizit und in der sozialen Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft ausdrückt. Mit der Eroberung des Irak sollten die wichtigsten Ölvorräte der Welt unter Kontrolle gebracht und alle potentiellen Rivalen eingeschüchtert werden. Stattdessen hat der wachsende Widerstand gegen die Besatzung die Krise der USA weiter verschärft.
Zum Zeitpunkt der Ducklegung dieser Ausgabe der gleichheit stand das Ergebnis der Präsidentenwahl noch nicht fest. Fest steht aber, dass auch ein Wahlsieg Kerrys an der grundlegenden Ausrichtung der amerikanischen Politik nichts ändern wird. Der demokratische Kandidat hat sich verpflichtet, die Besetzung des Irak "bis zum Sieg" weiter zu führen. Seine Priorität für die Konsolidierung des Haushalts macht alle sozialen Versprechungen zur Makulatur. Kerry vertritt dieselbe schmale Oberschicht wie Bush. Beide sind entschlossen, deren Reichtum mit allen Mitteln zu verteidigen.
Die Interessen der großen Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung finden in den Wahlen dagegen keinen Ausdruck. Die sozialen Spannungen haben mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das die Durchführung regulärer Wahlen nahezu unmöglich macht. Bürokratische Schikanen und die Einschüchterung von Wählern, die dem politischen Establishment ablehnend gegenüber stehen, sind weit verbreitet. Das macht den Ausbruch heftiger Klassenkämpfe in den USA unausweichlich.
Hierin liegt die Bedeutung des Eingreifens der Socialist Equality Party und der World Socialist Web Site in den amerikanischen Wahlkampf. Mit ihrer Wahlteilnahme auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms bereitet die SEP die amerikanische und die internationale Arbeiterklasse auf die kommenden Klassenkämpfe vor.
Diese Ausgabe der gleichheit enthält wie üblich eine Auswahl von Artikeln, die während der letzen zwei Monate auf der World Socialist Web Site erschienen sind. Wir haben dabei zwei Schwerpunkte gesetzt: Der Irakkrieg, die Krise der USA und die amerikanischen Präsidentschaftswahlen - dazu dokumentieren wir einen ausführlichen Vortrag von David North, des Chefredakteurs der WSWS und nationalen Sekretärs der amerikanischen SEP. Und die politischen Fragen, die durch die Verteidigung der Arbeitsplätze bei Opel aufgeworfen werden.
Ergänzt wird dies durch einen Nachruf auf Livio Maitan, den kürzlich verstorbenen führenden Vertreter des Vereinigten Sekretariats. Er zieht eine Bilanz des fünfzigjährigen Kampfs des Internationalen Komitees der Vierten Internationale gegen den Revisionismus von Michel Pablo, Ernest Mandel und Maitan.