Leipzig: 1000 Protestierende stundenlang im Polizeikessel festgehalten

Bis zu elf Stunden lang hielt die Polizei in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Leipzig-Connewitz rund 1000 Demonstranten in einem Polizeikessel gefangen, die gegen das Urteil vom 1. Juni gegen Lina E. protestierten.

Selbst Minderjährige wurden stundenlang festgehalten, zunächst ohne Zugang zu Trinkwasser und Toiletten. Alle im Kessel wurden erkennungsdienstlich behandelt, ehe sie, die letzten erst um fünf Uhr früh am Sonntagmorgen, endlich freigelassen wurden. Mehrere berichteten, dass sie ihre Handys hatten abgeben müssen.

50 Personen wurden in eine Gefangenen-Sammelstelle der Polizei gebracht, wo sich 30 von ihnen auch am Montagmorgen noch befanden. Ihnen drohen Anklagen wegen des Verdachts des schweren Landfriedensbruchs und tätlicher Angriffe auf Einsatzkräfte.

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Berichte im Netz dokumentieren derweil die brutale Gewalt, die von der Polizei ausging. So zum Beispiel ein Video von Tim Lüddemann, einem taz-Reporter. Er kommentierte: „Als die Polizei die Straße räumen wollte, zückte ein Beamter seinen Schlagstock und schlug damit für mich anlasslos auf Kopfhöhe wild um sich. Aus meiner Sicht unverantwortlich, weil schlimmste Verletzungen damit einhergehen können.“

Ein anderes Video hatte Lüddemann zusammen mit seinem Kollegen Konrad Litschko direkt aus dem Polizeikessel ins Netz gestellt. Darin Litschko: „Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde hier sehr, sehr limitiert.“

Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) bedankte sich am Sonntag bei der Polizei und beschimpfte die festgehaltenen Jugendlichen als „durchgeknallte Straffällige in Connewitz“.

Aber der Leipziger Polizeikessel war alles andere als eine spontane Reaktion der Polizei auf gewaltbereite Randalierer. Er war vielmehr eine bewusst geplante Provokation, um linken Protest einzuschüchtern. Gleichzeitig diente er der Stimmungsmache, um schärfere Gesetze durchzusetzen und demokratische Grundrechte abzubauen.

Schon am Sonntag forderte der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) ein „Konzept gegen Linksextremismus“ auf Bundesebene. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte am Sonntag an, der Staat werde „die gewaltbereite linksextremistische Szene in den kommenden Tagen und Wochen weiterhin ganz genau im Fokus“ behalten und „konsequent einschreiten, wenn es zu Straf- und Gewalttaten kommt“.

Allerdings zeigt gerade der Polizeikessel von Leipzig, wie sehr die Gewalt vom Staat ausgeht, der Gewalt bewusst provoziert, selbst rücksichtslos einsetzt und propagandistisch ausschlachtet.

Die Demonstration vom Samstagabend in Leipzig-Connewitz war Bestandteil der angekündigten Reaktion auf das Dresdener Urteil gegen Lina E.. Die 28-Jährige war zu fünf Jahren und drei Monaten, ihre drei Mitangeklagten zu jeweils rund drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, da sie angeblich eine kriminelle Vereinigung gebildet und Neonazis angegriffen und verletzt hatten.

Der Protest gegen dieses harte Urteil richtete sich auch gegen einen Staat, der die extreme Rechte fördert oder deckt. Dies hatte sich schon am NSU-Umfeld gezeigt, das von Dutzenden V-Männern durchsetzt war, oder am Hannibal-Netzwerk von Prepper-Gruppen in der Bundeswehr. Die Tentakel des Rechtsextremismus reichen bis in die höchsten Ebenen von Staat und Politik.

In Leipzig waren kurz nach dem Urteil vom Mittwoch alle Demonstrationen mit Bezug zum Fall Lina E. verboten worden, weil angeblich ein „unfriedlicher Verlauf“ zu erwarten sei. Über einen Teil der Stadt wurde ein 48-stündiger polizeilicher „Kontrollbereich“ verhängt. Nur eine Kundgebung wurde am Samstagabend erlaubt.

Angemeldet hatte sie Jürgen Kasek, ein Leipziger Rechtsanwalt und Stadtrat der Grünen, unter dem Motto: „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“. Zu der Demonstration am Alexis-Schumann-Platz kamen mehrere tausend Teilnehmer, darunter sehr viele Jugendliche, die Pappschilder mit Aufschriften wie „Free Lina“ oder „Solidarität gegen Nazis!“ trugen. Daneben wurden auch Familien mit Kinderwagen, „Omas gegen rechts“ und eine Gruppe gesehen, die sich mit inhaftierten türkischen Oppositionellen solidarisierte.

Von Anfang an stieß die Kundgebung auf ein beispielloses Polizeiaufgebot: viele Hunderte martialisch ausgerüsteter Polizisten, darunter Einsatzkräfte aus mehreren Bundesländern traten auf, daneben schweres Gerät, ein Räumpanzer der Bundespolizei und mehrere Wasserwerfer. Über den Köpfen kreiste ein Polizeihubschrauber.

Die Polizei machte von Anfang an deutlich, dass sie keine Demonstration zulassen würde. Damit heizte sich die Stimmung zwangsläufig auf. Während einige Teilnehmer den Polizisten „Wo wart ihr in Hanau?“ zuriefen und damit auf die neun Morde von Hanau praktisch unter den Augen der Polizei anspielten, und Juliane Nagel, eine Abgeordnete der Linkspartei im sächsischen Landtag, laut protestierte, wurden aus einem schwarzen Block heraus einige Flaschen und Steine auf die Polizei geworfen.

Dies diente der Polizei als Vorwand, um einen großen Teil der Demonstration – insgesamt rund 1000 Menschen! – im direkt benachbarten kleinen Park Heinrich-Schütz-Platz einzukesseln und die ganze Nacht festzuhalten. Frustriert konstatierte der Grünen-Stadtrat Kasek: „Ich habe den Eindruck, dass nie geplant war, dass wir laufen dürfen“; das Ganze wirke „wie eine Falle“.

Auch der SPD-Politiker Albrecht Pallas, ein ehemaliger Polizist, kritisierte die „Massivität der Polizeipräsenz“, mit der auf Kleinigkeiten reagiert worden sei. Das habe „eine eskalierende Wirkung“ gehabt, die überwiegend Unbeteiligte getroffen habe.

Die taz kommentierte, hier sei ein „absurd teures Großaufgebot“ und ein „Polizeizirkus jenseits jeglicher Verhältnismäßigkeit“ für ein „paar Hundert teils minderjährige Antifas“ inszeniert worden.

Was in der Samstagnacht in Leipzig geschah, war aber kein übertriebener Einzelfall, der aus dem Ruder lief, sondern eine lange vorbereitete Aktion. Die Medien hatten gewaltsame Proteste schon Tage vor der Verkündung des Urteils regelrecht herbeigeschrieben, die dann weitgehend ausblieben – bis die Polizei durch ihr massives und provokatives Vorgehen Gegenreaktionen provozierte.

Das bestätigen die jüngsten Bemerkungen, die Innenminister Schuster im MDR machte. Schuster sagte, im Vorfeld des Polizeikessels seien „gemeinschaftliche Entscheidungen“ gefällt worden, und es habe „eine perfekte Kooperation an diesem Wochenende [gegeben]: mit der Stadt Leipzig, der Polizei, den Staatsanwälten und Richtern, die ja mit vor Ort waren“.

Der Polizeikessel von Leipzig-Connewitz reiht sich in eine Eskalation von Polizeigewalt und Staatsaufrüstung ein, die darauf abzielt, jede Art von sozialem und politischem Widerstand zu unterdrücken. Wenige Tage vor dem Polizeikessel war es am 24. Mai bereits zu den bundesweiten Razzien gegen führende Mitglieder der „Letzten Generation“ gekommen, deren Website gesperrt und deren Konten eingefroren wurden, obwohl es sich um völlig gewaltfreie Aktivisten handelt. Darauf folgte das drastische Urteil im Fall Lina E. und jetzt der Polizeikessel, der jedes bisher bekannte Maß sprengt.

Es geht dem Staat darum, zivilen Ungehorsam, Streiks und auch friedliche Proteste als „Linksextremismus“ zu brandmarken und im Keim zu ersticken. Die immer brutaleren Polizeiexzesse richten sich nicht gegen einige Randalierer, sondern gegen die arbeitende Bevölkerung. Sie sind die Antwort der Herrschenden auf einen neuen Aufschwung im Klassenkampf in einer Situation, in der die Ampel-Koalition in Berlin ihren Krieg gegen Russland unbedingt führen und gewinnen will.

So zeigt der immer offenere Einsatz der Gewaltorgane auch gegen Jugendliche, friedliche Protestierende und Arbeiter, dass es unmöglich ist, einen Krieg gegen außen zu führen, ohne gleichzeitig den Klassenkrieg im Innern zu führen.

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