Am Donnerstag, 14. November, zogen Zehntausende Arbeiter aus El Alto in die 24 Kilometer entfernte Hauptstadt La Paz. In El Alto leben überwiegend Arbeiter und indigene Bevölkerung. Sie forderten den Sturz des Putschisten-Regimes, das in dem ärmsten Land Lateinamerikas die Macht übernommen hat. Bis in die Nacht hinein lieferten sie sich Straßenschlachten mit dem Militär.
Die rechte Vizepräsidentin des bolivianischen Senats, Jeanine Áñez, hatte sich zur Interimspräsidentin erklärt und ein rechtsextremes Kabinett und eine neue Militärführung ernannt. Am Sonntag, 10. November, war die Regierung Evo Morales in einem Putsch gestürzt worden, der die Unterstützung der USA genießt. Seither nimmt der Widerstand gegen das neue Regime ständig zu.
Ein Arbeiter aus El Alto drückte einem Reporter gegenüber die weit verbreitete Stimmung aus: „Wir kämpfen hier, denn wir sind nicht länger bereit, uns zu erniedrigen und vor diesen transnationalen Konzernen zu buckeln, die uns ständig kontrollieren und unterdrücken.“
Der wichtigste Gewerkschaftsbund, COB, der Morales letzten Sonntag zum Rücktritt aufgefordert hatte, drohte am 12. November mit einem unbefristeten Generalstreik, falls das Áñez-Regime nicht „innerhalb von 24 Stunden die verfassungsgemäße Ordnung wiederherstellen“ würde. Seither machte er allerdings keine weiteren Ankündigungen.
Man kann die Haltung sowohl von Morales und seiner bisherigen Regierungspartei MAS, als auch der mit ihr verbündeten COB nur als feige bezeichnen. Diese Leute sind von der Angst getrieben, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen den Putsch zum Sturz der kapitalistischen Ordnung, die sie 14 Jahre lang verteidigt haben, führen könnte.
Morales hatte sich von der mexikanischen Luftwaffe schleunigst aus Bolivien wegschaffen lassen, um einem Haftbefehl und den rechtsextremen Banden zu entgehen. Jetzt hat Morales zu „Gesprächen mit den vier Parteien im Kongress“ aufgerufen – einschließlich derer, die hinter dem Putsch stehen. Er hat seine Rückkehr nach Bolivien angeboten, um bei der „Befriedung des Landes“ zu helfen, und hat den Papst um eine Intervention gebeten.
Am Mittwoch hinderten rechte Schläger und die Polizei Teile des bolivianischen Senats am Betreten des Parlaments, darunter die Senatspräsidentin Angela Salvatierra von der MAS. Salvatierra hatte auf Druck des Militärs ihren Rücktritt angeboten, wie schon vorher Morales und sein Vizepräsident. Damit war der Weg frei für Áñez, sich ohne Bestätigung durch die nationale Legislative, in der die MAS die Mehrheit hat, selbst zur Präsidentin zu küren.
Am Donnerstagmorgen wählten die Abgeordneten der MAS Sergio Choque zum Präsidenten des Unterhauses. Choque ist Abgeordneter für El Alto und stammt aus dem dortigen Bündnis der Nachbarschaftsräte (FEJUVE), das maßgeblich die Proteste gegen den Putsch anführt. Als erstes rief er „alle mobilisierten Bereiche zur Ruhe“ auf. Danach schlug er einen Gesetzentwurf vor, der das Militär zurück in die Kasernen beordern sollte. Dies dient der Illusion, das Militär werde denselben Kräften gehorchen, die es gerade gestürzt hat.
Als Morales der Zeitung El País seine Flucht schilderte, berichtete er: „Die USA haben den Außenminister angerufen. Er sollte mir sagen, sie könnten mich überall hinbringen. Das kam mir seltsam vor.“ Er entschied sich für das Asyl, das ihm Mexiko angeboten hatte. Mexiko konnte zunächst die peruanische Regierung nicht dazu bringen, die Erlaubnis zu erteilen, dass Morales den peruanischen Luftraum überflog. Letzten Endes stimmten die rechten Regierungen in Paraguay und Brasilien zu, Morales' Flucht zu ermöglichen.
Nach wie vor terrorisieren Militär und Polizei die Arbeiterviertel um La Paz. In den Innenstädten sind überall Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aufgefahren. Bereitschaftspolizisten und Hubschrauberpiloten schießen mit scharfer Munition und Tränengas auf Demonstranten. Mehrmals hat das Putsch-Regime Bombenflugzeuge über Massenversammlungen hinwegfliegen lassen. Wie lokale Medien in den sozialen Netzwerken berichten, hat es in den Städten um La Paz viele weitere Tote gegeben. Mehrere landesweite und lokale Radio- und Fernsehsender wurden abgeschaltet.
Die Behörden haben eingeräumt, dass seit Montag, 11. November, drei Demonstranten getötet worden sind. Insgesamt sind seit der Präsidentschaftswahl vom 20. Oktober zehn Menschen getötet und mindestens 400 weitere verletzt worden. Morales hatte diese Wahl mit so großem Vorsprung gewonnen, dass er nicht in die Stichwahl musste.
Der Kongress, in dem die MAS die Mehrheit besitzt, hat den Rücktritten von Morales, seinem Vizepräsidenten und der Senatspräsidentin nicht zugestimmt. Áñez wurde von nur etwa 20 oppositionellen Senatoren „bestätigt“, die keine beschlussfähige Mindestzahl bilden. Während sie sich zur Interimspräsidentin erklärte, wurde sie von hohen Generälen und faschistischen Oppositionellen umringt. Dennoch hat das Verfassungsgericht Áñez zur legitimen Präsidentin des Landes erklärt.
Die treibende Kraft hinter dem Putsch sind die Vereinigten Staaten. Sie haben Morales schon am 22. Oktober beschuldigt, er habe die Wahl „gestohlen“. Sie haben auch als erstes Land Áñez als „Übergangspräsidentin“ anerkannt.
Seither haben mehrere weitere kapitalistische Regierungen Áñez anerkannt, weil sie es auf die immensen Bodenschätze des Landes abgesehen haben. Dazu gehören Brasilien und die Europäische Union, sowie auch Russland, das enge Kontakte zu Bolivien pflegt. Sergei Ryabkow, der russische Staatssekretär für Außenpolitik, betonte, für Russland seien die Geschehnisse, „die dem Machtwechsel vorangingen, mit einem Putsch zu vergleichen“. Er bestätigte, dass Russland Áñez als Regierungschefin von Bolivien anerkenne, bis ein neuer Präsident gewählt sei.
Áñez ließ auch den Oberbefehlshaber der bolivianischen Streitkräfte, Williams Kaliman, ablösen. Dieser hatte Morales am Sonntag den Rücktritt „empfohlen“, und am Dienstag überreichte er Áñez die Präsidentenschärpe. Die argentinische Tageszeitung Infobae erklärte unter Berufung auf „Quellen aus dem Militär“, es habe Forderungen gegeben, das Militär solle „gegen die Demonstranten in den Straßen vorgehen, doch einige Kommandeure unter Kaliman weigerten sich“. Daraufhin ernannte Áñez eine neue Führung.
Der neue Innenminister, Arturo Murillo, erklärte sofort: „Ich habe mit dem neuen Verteidigungsminister [Luis Fernando López Julio] gesprochen – als Partner eine sehr interessante Person. Wir haben das Militär und die Polizei mobilisiert, um den Leuten Sicherheit zu bieten ... Alle Aufwiegler werden ins Gefängnis kommen; wir werden sie alle kriegen.“ Die neue Kommunikationsministerin Roxana Lizárraga kündigte an: „Wir werden den Rechtsstaat gegen diejenigen Journalisten oder Pseudojournalisten einsetzen, die für Aufwiegelung verantwortlich sind.“
Der neue Ministerpräsident, Jerjes Justiniano, ist gleichzeitig der Anwalt des faschistischen Geschäftsmannes Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz. Dieser war nach der Wahl zur Galionsfigur der Demonstrationen gegen Morales geworden. Rechtsextreme Gruppen unter Führung von Camacho und dem Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa hatten mit Rückendeckung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) diese Demonstrationen geschürt. Sie hatten einen Anlass gefunden, um Wahlbetrug zu unterstellen, ohne dass sie irgendwelche Beweise dafür vorlegen konnten.
Das US-amerikanische Umfrageinstitut CEPR veröffentlichte jedoch letzte Woche einen Bericht, laut dem das Endergebnis keinen Hinweis auf Wahlbetrug enthalte. Wie es schrieb, gebe es „keine statistische oder auf Beweisen beruhende Grundlage, um die Auszählung der Stimmen anzuzweifeln“.
Während rechtsextreme Schlägertrupps in mehreren Städten indigene Demonstranten und Passanten angriffen, wetterte Camacho demagogisch gegen „das Establishment“, um sich die wachsende soziale Wut in Teilen des Kleinbürgertums und politisch verwirrten Arbeiterschichten zu Nutze zu machen.
Eine große Gefahr geht von den faschistischen Schichten aus, die der US-Imperialismus jetzt nach oben spült. Camacho und Áñez verkörpern die rassistische Gesinnung der Grundbesitzeroligarchie im Tiefland, die schon immer die indigene Mehrheit unterdrückt hat und die armen Bevölkerungsschichten zu spalten versucht.
Im Jahr 2013 erklärte Áñez in einem vor kurzem gelöschten Tweet: „Ich träume von einem Bolivien, das von den satanischen Ritualen der Indigenen befreit ist. Indianer gehören nicht in die Stadt; sollen sie ins Hochland oder nach Chaco gehen.“ Camacho fordert auch heute noch in seinen Reden, Bolivien müsse von „Satan“ und „Hexerei“ befreit werden.