Merkels schrittweiser Rückzug

Einen Tag nach den massiven Verlusten von CDU und SPD bei der hessischen Landtagswahl hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren schrittweisen Rücktritt von allen Ämtern angekündigt. Die beiden Mitglieder der Großen Koalition in Berlin hatten am Sonntag in Hessen zusammen über 22 Prozentpunkte verloren; die CDU 11,3 und die SPD 9,8 Prozent.

Auf einer Pressekonferenz gab Merkel am Montagvormittag bekannt, sie werde beim kommenden CDU-Bundesparteitag im Dezember nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren. Sie wolle aber ihr Amt als Bundeskanzlerin bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Herbst 2021 ausüben. Danach werde sie nicht mehr für den Bundestag kandidieren und alle politischen Ämter niederlegen.

Wie Merkel selbst bemerkte, steht ihre Entscheidung in deutlichem Widerspruch zu ihrer bisherigen Auffassung, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft in eine Hand gehören. Gegenwärtig halte sie die Trennung beider Ämter aber für notwendig, damit sie sich stärker auf eine reibungslose und effektive Regierungsarbeit konzentrieren könne.

Diese Aussage ist bemerkenswert. Denn sie macht deutlich, dass die Kanzlerin und die Regierung auf den Druck der Wähler nicht mit politischen Zugeständnissen reagieren, sondern indem sie das verhasste Regierungsprogramm energischer durchsetzen.

Nach drei verheerende Wahlniederlagen – im Bund vor einem Jahr, in Bayern vor zwei Wochen und jetzt in Hessen – und nach mehreren Großdemonstrationen gegen ihre rechte Politik stellt die Kanzlerin klar, dass es weder Neuwahlen noch politische Zugeständnisse geben werde. Ihr Rücktritt vom Parteivorsitz dient dazu, die Parteiführung zu reorganisieren und neu aufzustellen, um die im Koalitionsvertrag festgelegte Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus gegen den erklärten Willen und den massiven Widerstand der arbeitenden Bevölkerung durchzuboxen.

Merkel hat zwar ihren schrittweisen Rückzug aus allen politischen Ämtern angekündigt, sie will aber auch sicherstellen, dass dem Druck der Wähler und den Massenprotesten nicht nachgegeben wird. Dabei wird sie von der SPD unterstützt. Auch diese lehnt Neuwahlen strikt ab. Parteichefin Andrea Nahles erklärte, sie habe großen Respekt für Merkels Entscheidung und hoffe, dass dadurch die Regierungszusammenarbeit verbessert werden könne.

Die Große Koalition reagiert auf die wachsende Opposition und die massive Ablehnung durch die Wähler, indem sie enger zusammenrückt und wie ein diktatorisches Regime das Wählervotum missachtet. Die Medien unterstützen sie dabei, indem sie die wahren Gründe für die Wahlniederlagen – die wachsende soziale und politische Opposition – leugnen und das Narrativ verbreiten, die Wähler drehten der Großen Koalition den Rücken zu, weil sie sich streite, anstatt „die Sachthemen des Koalitionsvertrages“ abzuarbeiten.

Aber es sind gerade die Sachthemen des Koalitionsvertrages, die den Widerstand gegen die Regierung hervorrufen: die Annäherung an die AfD, das brutale Vorgehen gegen Flüchtlinge, die drastische Steigerung der Militärausgaben, die systematische Aufrüstung der Polizei, der kontinuierliche Sozialabbau, die dramatische Steigerung der Mieten, die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und die marode Infrastruktur.

Der Wechsel an der CDU-Spitze ist mit der Mobilisierung extrem rechter Kreise verbunden. Unmittelbar nachdem Merkel ihren Verzicht auf den Parteivorsitz angekündigt hatte, meldeten CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ihre Kandidatur an.

Kramp-Karrenbauer zählt zu den engsten Gefolgsleuten Merkels. Sie hatte erst Anfang des Jahres auf das Amt der saarländischen Ministerpräsidentin verzichtet, um auf Merkels Bitte die Leitung der CDU zu übernehmen. Sie verfügt über keine eigene Hausmacht in der Partei und wäre nur eine Übergangslösung.

Anders der 37-jährige Jens Spahn. Er war vor seiner Ernennung zum Gesundheitsminister Staatssekretär im Finanzministerium und gilt als Wortführer der Konservativen in der Union, denen Merkels Flüchtlingspolitik nicht rechts genug ist. Spahn vertritt in dieser Frage weitgehend das Programm der AfD. Ähnlich wie der niederländische Rechtsextremist Geert Wilders verbindet er Angriffe auf den Islam und die Beschwörung einer deutschen Leitkultur mit dem Eintreten für eine offene Lebensweise. Er selbst ist schwul und hat Ende vergangen Jahres den Leiter des Hauptstadtbüros der Klatschzeitschrift Bunte, Daniel Funke, geheiratet.

In typisch rechtspopulistischer Manier hat sich Spahn immer wieder durch Provokationen gegen Flüchtlinge und muslimische Einwanderer in die Schlagzeilen gebracht. So forderte er ein Burka-Verbot, die Abschaffung des Doppelpasses, die Einführung eines Islamgesetzes und Leistungskürzungen für Flüchtlinge.

Neben Spahn wurde gestern durch Berichte in der Bild-Zeitung, im Handelsblatt und in der Welt ein weiterer Kandidat für den CDU-Vorsitz ins Rennen geschickt: Friedrich Merz. Merz war vor 14 Jahren von Angela Merkel, die als Parteichefin die Fraktionsleitung für sich beanspruchte, vom Vorsitz der Unionsfraktion verdrängt worden. Kurze Zeit später verließ Merz die politische Bühne und machte Karriere und Geld in der Wirtschaft. Er blieb aber mit den CDU-Rechten und dem Wirtschaftsflügel der Partei immer in engem Kontakt.

Schon als Fraktionschef vertrat Merz einen strammen Rechtskurs. Er erhob als erster die Forderung nach einer deutschen Leitkultur, der sich zugewanderte Ausländer anzupassen hätten. Vertreter von Ausländerorganisationen und jüdischen Verbänden griffen Merz damals scharf an und bezeichneten ihn als politischen Brandstifter, der fremdenfeindliche Stimmungen schüre.

Nach der Finanzkrise 2008 wurde Merz vom Bankenrettungsfonds Soffin damit beauftragt, den Verkauf der WestLB an einen privaten Investor zu organisieren. Später wurde bekannt, dass er dafür Honorarsätze von 5.000 Euro pro Tag kassierte. Er wies Kritik schroff zurück und nutzte seine Beziehungen zu diversen Banken und Geldhäusern, um Aufsichtsratschef von Blackrock Deutschland zu werden.

Der US-Konzern Blackrock ist der größte Vermögensverwalter der Welt, der Finanzmittel in Höhe von mehr als 5,5 Billionen Euro verwaltet. Blackrock ist an allen DAX-Unternehmen beteiligt und übt eine enorme Wirtschaftsmacht aus. Mit Spahn oder Merz als Parteichef würde die CDU ihre Rechtsentwicklung stark beschleunigen und auf eine Regierungszusammenarbeit mit der AfD zusteuern.

Nicht nur der Wirtschaftsflügel der Union zeigte sich begeistert über Merkels Rückzug. Auch AfD-Chef Alexander Gauland lobte Friedrich Merz. Er sei ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann mit großer politischer Erfahrung, seine Rückkehr an die CDU-Spitze würde vieles verändern.

Auf einer Pressekonferenz sagte Gauland, die AfD habe immer gefordert, Merkel müsse weg. Dass sie nun „zur Hälfte“ gehe, sei vor allem ein Erfolg der AfD. Die „andere Hälfte ihres Rückzuges“ müsse nun auch bald stattfinden, und dann könnten viele weitere Entwicklungen folgen, „die in unserem Sinne sind“.

Auch FDP-Chef Christian Lindner, der einen ähnlich wirtschaftsfreundlichen und rechten Kurs wie Merz vertritt, kündigte seine Bereitschaft an, eine Koalition mit der CDU zu bilden, wenn jemand anderes als Merkel Kanzler werde.

Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Große Koalition extrem rechten Kräften, die offen faschistische Standpunkte vertreten, den Weg ebnet.

SPD, Linke und Grüne haben dem nichts entgegenzusetzen, sondern sind Teil dieser rapiden Rechtsentwicklung. Zahlreiche SPD-Funktionäre zollten Merkel Respekt, und die Grünen lobten die CDU-Chefin über den Klee. Merkel habe „als erste Frau in diesem sehr männergeprägtem Laden“ die Parteiführung übernommen und 18 Jahre lang innegehabt. Das zeige politische Stärke und verdiene Respekt, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock.

Um die Rechtsentwicklung zu stoppen, braucht die wachsende Opposition gegen die Regierung eine sozialistische Perspektive und ein internationales Programm. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) erneuert ihre Forderung nach einem Ende der Großen Koalition und Neuwahlen. Diese Wahlen müssen zum Ausgangspunkt für eine unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm werden.

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