Das eineinhalbstündige Dokudrama „Karl Marx – der deutsche Prophet“, das am 28. April auf Arte und am 2. Mai zur besten Sendezeit im ZDF lief, ist ein Gegenentwurf zu Raoul Pecks Spielfilm „Der junge Karl Marx“, den wir ebenfalls auf der WSWS besprochen haben.
Stellt Peck den jungen Marx, seine Ablehnung von Ausbeutung und Unterdrückung, seine revolutionäre Energie, seine fruchtbare Zusammenarbeit mit Friedrich Engels und die epochale Bedeutung seines Werk ins Zentrum seines Films, nimmt die Arte/ZDF-Produktion ihren Ausgangpunkt beim alten Marx, dessen letztes Lebensjahr von einer schweren Lungenerkrankung und zwei Schicksalsschlägen, dem Tod seiner Frau und seiner ältesten Tochter, geprägt war.
Die Rahmenhandlung beginnt mit einem Kuraufenthalt von Marx in Algiers und endet mit seinem Tod. Dazwischen finden sich Rückblenden auf wichtige Ereignisse seines Lebens sowie kurze Zitate aus seinen Schriften, die teilweise interessant, aber derart kurz und aus dem Zusammenhang gerissen sind, dass sie eher gängige Vorurteile bedienen, als zum Verständnis vom Marx‘ Werk beitragen. Auch angebliche Marx-Experten kommen zu Wort, die Details aus seinem Leben kennen, aber Marx‘ Werk weder gründlich studiert noch verstanden haben.
Dargestellt wird der alte Marx vom bekannten Schauspieler Mario Adorf, der Marx bewundert und diese Rolle seit langem spielen wollte. Adorf bemüht sich, Marx mit viel menschlicher Wärme zu präsentieren. Doch nicht nur der große Altersunterschied – Marx starb mit 64, Adorf ist 87 –, die stets gerunzelte Stirn, die sorgenvolle Miene und die sanfte, in rheinischem Akzent leiernde Stimme zeichnen ein verzerrtes Bild des Revolutionärs, vor allem das Drehbuch (Peter Hartl) und die Regie (Christian Twente) sorgen dafür, dass der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in völlig falschem Licht erscheint.
Marx‘ monumentales Lebenswerk verschwindet hinter der kranken Person. Er erscheint als verzagter, politisch isolierter Greis, der sich mit Selbstvorwürfen und Zweifeln quält. Das ist historisch falsch. Tatsächlich blieb Marx bis zum Ende seines Lebens seinen revolutionären Grundsätzen treu. Er konnte in seinen letzten Lebensjahren erleben, wie die Ideen, die er und Engels unter großen Entbehrungen ausgearbeitet hatten, die Massen ergriffen und zur materiellen Kraft wurden.
In Deutschland und Frankreich entwickelten sich unter dem Einfluss des Marxismus mächtige sozialdemokratische Massenparteien, mit deren Führern Marx und Engels in engem brieflichen und persönlichen Kontakt standen. Auch in den USA und im rückständigen Russland, wo die Arbeiterklasse 34 Jahre später unter marxistischer Führung als erstes die Macht erobern sollte, entstanden unter dem direkten Einfluss von Marx und Engels die Keime zukünftiger Arbeiterparteien.
Es ist bekannt, dass Marx die Entwicklung dieser Parteien äußerst kritisch begleitete, immer bemüht, sie von bürgerlichen und opportunistischen Einflüssen abzugrenzen. Aber das ändert nichts daran, dass sich die SPD unter dem Banner des Marxismus zur mächtigsten sozialdemokratischen Massenpartei der Welt entwickelte. Marx und Engels standen mit ihren Führern August Bebel und Wilhelm Liebknecht in ständigem Gedankenaustausch.
All das sowie der Inhalt von Marx‘ theoretischen und politischen Konzeptionen werden in dem Film weitgehend ausgeblendet. Stattdessen konzentrieren sich lange Passagen auf die bittersten Momente in Marx‘ Leben – den Tod des Sohnes Edgar im Alter von acht Jahren in der bitteren Not der Londoner Emigration, die hartnäckige Krankheit, den Tod der Tochter Jenny in Frankreich – und schüren unterschwellige Vorurteile gegen Marx‘ persönliche Integrität.
Zu diesem Zweck wird Marx‘ jüngste Tochter Eleanor missbraucht, deren Stimme das Geschehen aus dem Off kommentiert. So bemerkt Eleanor, nachdem sie ihrem Vater die Nachricht vom Tod Jennys überbracht hat: „Vier seiner geliebten Kinder und seine Frau fürs Leben waren ihm in den Tod vorausgegangen, wie ein Sinnbild für das Scheitern nach so viel Drangsal in seinem Leben.“
Gegen Ende des Films hält Engels eine bewegende Rede an Marx’ Grab. Er würdigt ihn als Revolutionär, den Regierungen und Bourgeois hassten und verleumdeten und den „Millionen revolutionärer Arbeiter von den sibirischen Bergwerken über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin verehrten, liebten und betrauerten“. Eleanors Stimme kommentiert hämisch: „Der gute treue Engels mühte sich redlich, seinem Freund bereits am Grab das Monument eines bedeutenden Weltgeistes zu errichten.“
In Wahrheit zählte Eleanor zu den engsten Genossinnen von Marx. Sie unterstützte ihren Vater zu seinen Lebzeiten bei der internationalen Korrespondenz und spielte nach seinem Tod eine führende Rolle in der englischen Arbeiterbewegung und bei der Verwaltung von Marx‘ Nachlass.
Peter Arens und Stefan Brauburger, die als Leiter der für Geschichte zuständigen ZDF-Redaktionen für den Film verantwortlich sind, machen in einem Beitrag auf der Website des ZDF deutlich, dass dieser Versuch, Marx persönlich zu diskreditieren, auf einem bewussten Konzept beruht.
Es „lag uns besonders daran, den berühmten Denker in seiner Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit zu zeigen“, schreiben sie. „Einerseits ist der ‚Jubilar‘ der noch immer bestaunte Deuter des Welt- und Wirtschaftsgeschehens – weit über seine Epoche hinaus. Andererseits hatte er als Zeitgenosse für das praktische Leben nur wenig Sinn und Geschick. Da ist zum einen der hingebungsvolle treusorgende Familienvater, zum anderen der völlig auf sein Werk fixierte weltferne Egomane.“ Der Haushälterin habe Marx einen verborgen gehaltenen Sohn beschert. „Er erhob die Stimme für das ‚geknechtete Proletariat‘, wusste aber selbst einen gutbürgerlichen Lebenswandel durchaus zu schätzen und zeigte sich im Umgang mit Geld wenig besonnen.“
Den Fernsehverantwortlichen war klar, dass man Marx angesichts der tiefen Krise des globalen Kapitalismus, der historisch beispiellosen sozialen Ungleichheit und der wachsenden Kriegsgefahr nicht mehr mit plumpen antikommunistischen Vorurteilen beikommen kann. Niemand habe „soziale Konflikte in ihrem historischen Prozess so umfassend analysiert, den Kapitalismus in seiner Schwäche so treffend entlarvt, seine Krisenanfälligkeit und die Gefahr der Verelendung ganzer Schichten oder Weltregionen aufgezeigt“, schreiben sie. Im „Hinblick auf die Globalisierung oder die internationalen Finanz- und Wirtschaftskrisen unserer Tage“ erscheine manche Marx‘sche Analyse geradezu visionär. „Die Stimmen mehren sich, nach denen der Kapitalismus womöglich doch nicht das letzte Wort der Geschichte sei.“
Sie bemühen sich daher, den „menschlichen“ Marx vom unversöhnlichen Kämpfer, den „Propheten“ vom Revolutionär, die Sozialkritik, die im Rahmen der bestehenden Ordnung akzeptabel und sogar nützlich ist, von ihren revolutionären Schlussfolgerungen abzutrennen.
„Manche Inkonsequenz oder Lücke in der Marx‘schen Weltsicht ließ Raum für vielfältige, zum Teil gegensätzliche Interpretationen“, schreiben Arens und Brauburger. „Humanistisch motivierte Sozialreformer“ hätten sich ebenso auf ihn berufen, „wie menschenverachtende Tyrannen. Sozialdemokraten, die für eine freiheitliche Republik stritten, ebenso wie gewaltbereite Revolutionäre, die eine kommunistische Diktatur verfochten.“ Das „Manifest“ habe das Rüstzeug für sozialdemokratisch orientierte Parteien, „aber auch das ideologische Fundament totalitärer Regime“ geboten.
Tatsächlich haben die „sozialdemokratisch orientierten Parteien“ Marx bis zur Unkenntlichkeit verfälscht und sich in Krisen- und Kriegszeiten stets auf die Seite der Konterrevolution gestellt. Dasselbe gilt für die „totalitären Regime“ Stalins und Mao Tsetungs, die die Macht im Arbeiterstaat im Interesse einer privilegierten Bürokratie usurpierten.
Es ist bezeichnend, dass die letzten Szenen des Arte/ZDF-Films den Regimen von Stalin und Mao Tsetung gewidmet sind. Lenin, der Führer der Oktoberrevolution, wird in eine Reihe mit diesen Diktatoren gestellt. Leo Trotzki, der engste Verbündete Lenins, sozialistische Gegner Stalins und führende Marxist des zwanzigsten Jahrhunderts, wird dagegen nicht erwähnt.
In Wirklichkeit ist Marx' tiefe „Menschlichkeit“, die von zahlreichen Zeitzeugen, darunter Heinrich Heine, bezeugt wird und die auch im ZDF-Film immer wieder durchscheint, untrennbar mit seiner Entschlossenheit verbunden, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, die er im Alter von 25 Jahren formulierte. Seither widmete er sein gesamtes Lebenswerk der Aufgabe, die historische Notwendigkeit der sozialistischen Revolution nachzuweisen und die internationale Arbeiterklasse politisch und theoretisch auf diese Aufgabe vorzubereiten.
Das macht den Marxismus, der heute von der trotzkistischen Weltbewegung, dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale verkörpert wird, 200 Jahre nach Marx‘ Geburt derart aktuell.