Streik im öffentlichen Dienst: Wachsende Wut über Löhne und Arbeitsbedingungen

Am Dienstag weiteten die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und andere Gewerkschaften die Warnstreiks im öffentlichen Dienst aus. In Berlin, Brandenburg, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen befanden sich laut Gewerkschaftsangaben 60.000 Arbeiter im Streik. Viele tausend beteiligten sich an den Demonstrationen und Kundgebungen.

Die Gewerkschaften fordern sechs Prozent mehr Lohn, aber mindestens eine Steigerung von 200 Euro. Ein Schwerpunkt des Streiks waren die Flughäfen in München, Frankfurt, Köln und Bremen. Allein die Lufthansa musste 800 Flüge streichen. Bestreikt wurden auch kommunale Kitas, der öffentliche Nahverkehr, Müllabfuhr, Stadtverwaltungen, kommunale Krankenhäuser und Sparkassen.

Der Streik ist von einem fundamentalen Widerspruch geprägt. Während die Beschäftigten aller Bereiche extrem wütend über ständige Reallohnsenkungen und immer schlechtere Arbeitsbedingungen sind, setzen die Gewerkschaften alles daran, diese Wut zu unterdrücken und wirklichen Widerstand zu verhindern.

Verdi arbeitet aufs Engste mit der Bundesregierung zusammen, die in den Verhandlungen als Arbeitgeber auftritt. Schon als SPD und Union im Februar ihren Koalitionsvertrag präsentierten, lobte ihn Sylvia Bühler, Mitglied im Verdi-Bundesvorstand, überschwänglich als „großen Schritt in die richtige Richtung“ und als „wichtige Weichenstellung“. DGB-Chef Reiner Hoffmann hatte sich schon vorher für die Große Koalition ausgesprochen, die neben der größten Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg heftige soziale Angriffe plant.

Die Gewerkschaften rufen die Streiks nur aus, um Dampf abzulassen und die Situation unter Kontrolle zu halten. Hinter dem Rücken der Beschäftigten haben sie sich längst mit Innenminister Horst Seehofer geeinigt. Wenn es nach ihnen geht, wollen sie den Deal nach der dritten Verhandlungsrunde präsentieren, die vom 15. bis zum 17. April in Potsdam stattfindet. Zu erwarten ist ein ähnlicher Abschluss wie zu Jahresbeginn bei der IG Metall, die ihre Sechs-Prozent-Forderung auf effektive 2,2 Prozent pro Jahr hinunter schraubte. Ob das Regierung und Gewerkschaft gelingen wird, hängt von der Entwicklung der Arbeiter ab. Denn die Empörung ist enorm.

Egal mit welchen Beschäftigungsgruppen in welcher Stadt man spricht, überall ergibt sich das gleiche Bild: nachdem der Staat hunderte Milliarden Euro für die Bankenrettung ausgegeben hatte, fiel jeder gesellschaftliche Bereich dem Rotstift zum Opfer. Doch Arbeiter sind nicht mehr bereit zu akzeptieren, dass das Profitprinzip alles beherrscht. Reporter der WSWS sprachen in Köln, Dortmund, München, Frankfurt, Karlsruhe und München mit streikenden Arbeitern.

Auf dem Heumarkt in Köln fand mit mehreren tausend Teilnehmern die größte Kundgebung im Bundesgebiet statt. Valentin, der früher in der Pflege tätig war und jetzt in der Verwaltung des Logistikzentrums der Kölner Kliniken, ist der Überzeugung, dass noch sehr viel mehr Menschen gekommen wären, wenn die Lage auf den Stationen nicht derart prekär wäre.

„Es ist oft schon so, dass die Notbesetzung über der ist, was man als Standardbesetzung auf den Stationen hat.“ Unter diesen Bedingungen wolle kein Pfleger die Station im Stich lassen. Es gehe ihm deshalb nicht einfach um eine höhere Bezahlung, sondern auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. „Ich bin hier, weil die Schere zwischen ganz oben und ganz unten immer weiter auseinander geht, und da müssen wir auch auf die Straße gehen, um die Gehälter dementsprechend anzuheben.“

Auch in München beklagen streikende Pflegekräfte die miesen Arbeitsbedingungen. „Es gibt zu wenig Personal“, sagt eine. „Irgendwann können wir die Patienten nicht mehr adäquat versorgen. Es müsste sich vor allem politisch etwas ändern, denn die Krankenhäuser sind ja vom gesetzlichen Rahmen abhängig und geben das dann an die Arbeitnehmer weiter.“

In Berlin, wo sich einige hundert Arbeiter an der Friedrichstraße versammelt haben, trifft man viele Arbeiter des Universitätskrankenhauses Charité. Christian und Stephan arbeiten dort als Kraftfahrer in der Materialverteilung. Sie gehören zu der kleinen Gruppe von Arbeitern aus dem nicht pflegerischen Bereich, die nicht in das Subunternehmen CFM ausgegliedert wurden. Deshalb haben sie etwas mehr Lohn und eine bessere Absicherung. Beide sind aber gerade deshalb auf die Demo gekommen, weil sie sich mit ihren Kollegen in der CFM solidarisieren wollen.

Stephan erklärt, dass die Personallage so schlecht sei, dass viele Kollegen immer wieder Doppelschichten machen müssten. „Die Arbeit, die früher zwei Arbeiter gemacht haben, macht heute einer.“ Und selbst dann werde die Arbeitsbelastung durch Ausfälle oft noch verdoppelt. Bei den Pflegekräften sehe es oft noch schlimmer aus. „Wenn ich abends die Medikamente auf die Station bringe, sind oft nur noch zwei Pfleger da. Überall blinken die roten Leuchten und sie schaffen es oft nicht einmal, die Lieferung in Empfang zu nehmen.“

Während Stephan das sagt, kommt Marco hinzu, ein junger Pfleger, der gerade vor einem Jahr seine Ausbildung beendet hat. Er pflichtet dem Gesagten sofort bei und berichtet, dass man es oft nicht einmal schaffe, die Medikamentenlieferung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Er hat unter anderem auf der Blutkrebs-Station gearbeitet, wo sehr viele Medikamente angeliefert werden.

„Jeden Morgen, wenn man zur Arbeit kommt, hofft man, dass niemand klingelt und es keine Notfälle gibt, weil man dann seine Runde nicht schafft“, sagt Marco. Zu der Runde gehört etwa, die Medikamente in den Tropfen aufzufüllen. Wenn das nicht rechtzeitig geschieht, droht nicht nur eine Gefährdung des Patienten, sondern im Falle von Antibiotika auch die Entwicklung resistenter Krankheitserreger.

„Wir müssen oft mitten in der Nacht Katheter legen oder Verbände wechseln, weil dafür am Tag die Zeit fehlt.“ Schwer kranke Personen müssten dann um drei oder vier Uhr nachts geweckt und behelligt werden. Oft schieben Kollegen den umfassenden Papierkram auf die Zeit nach der Schicht, um die Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Er habe auch schon von Fällen gehört, in denen Patienten stundenlang in ihren Exkrementen liegen mussten, weil trotz aller Anstrengungen der Pflegekräfte die Versorgung nicht gewährleistet war.

Überlastung und Ausbeutung sind keineswegs auf die Pflege beschränkt. Cindy Bolz, halbamtliche Personalratsvorsitzende und Ausbilderin beim Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Brandenburg, berichtet, dass Azubis dort maximal zweimal für ein Jahr weiterbeschäftigt werden. Anschließend müssen sich die Jugendlichen trotz der sehr speziellen Berufsqualifikation nach anderen Jobs umsehen.

Ihr Kollege Frank ist 61 und bald in Teilzeit. Sollte seine Stelle neu besetzt werden, würde eine neue Kraft mindestens zwei Gehaltsklassen unter ihm eingruppiert, also etwa 500 Euro weniger im Monat erhalten. Gleichzeitig habe der Stress enorm zugenommen: „Heute machen drei Leute, was früher fünf gemacht haben.“ Man sei nur noch damit beschäftigt, Entschuldigungsbriefe zu schreiben, und stehe unter einem ständigem Druck, so Frank. Besonders wichtig ist ihm, dass die unteren Gehaltsgruppen deutlich mehr bekommen. Deshalb halten sie die geforderte Mindesterhöhung um 200 Euro für besonders wichtig.

Zwei Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg wollen ihren Namen aus Angst vor Sanktionen lieber nicht in der Zeitung sehen. Auch sie berichten über starke Arbeitsverdichtung. In den letzten Jahren seien immer mehr gehobene Tätigkeiten an untere Gehaltsgruppen delegiert worden, sagt der eine. „Das sind im Grunde indirekte Gehaltskürzungen, weil die Leute für die gleiche Tätigkeit weniger Geld bekommen.“

Sein Kollege berichtet, dass das Personal in der IT fehle. Die Mitarbeiter seien deshalb einem hohen Arbeitsdruck ausgesetzt. Wenn jemand krank werde, bleibe die Stelle einfach unbesetzt. Viele Kollegen verzichteten deshalb auf ihren Urlaub und arbeiteten nach Feierabend und an Wochenenden ohne Bezahlung weiter. „Man hat den Job ja auch begonnen, weil man eine soziale Ader hat. Das wird jetzt ausgenutzt, denn man will ja nicht, dass jemand am Anfang des Monats keine Rente bekommt.“ Ein 34-jähriger Kollege habe aufgrund der Arbeitsbelastung körperliche Schädigungen davongetragen, viele weitere hätten ein Burnout.

Am Flughafen in Frankfurt berichtet Giuseppe, der einen Wassertankwagen auf dem Vorfeld fährt, von massiven Reallohnkürzungen: „Ich habe meine Gehaltszettel mit meinem Einkommen vor zehn und vor 15 Jahren verglichen: Tatsächlich bekomme ich einschließlich der Feiertagszulagen heute im Jahr etwa 3000 Euro weniger als vor zehn Jahren!“ Der Stress und die Verantwortung hätten jedoch in dieser Zeit zugenommen.

Abdul beteiligt sich nicht allein für ein paar Prozent mehr Lohn an dem Warnstreik, sondern weil er auf die unerträgliche Situation in der Gepäckabfertigung aufmerksam machen will. Er arbeitet bei FraGround, einer Fraport-Tochter, und was ihn besonders aufbringt, ist der unausgesetzte Arbeitsstress. „Es gibt praktisch keinen geregelten Dienst im Schichtwechsel. Ich muss sieben Tage hintereinander arbeiten und danach an meinen freien Tagen oft noch eine Zusatzschicht dranhängen – das ist eine Katastrophe!“ Er sei zwar jung und stark, aber wie man hier mit den Arbeitern umspringe, das sei „eine Frechheit“.

In vielen Städten befinden sich Erzieher auf den Kundgebungen. Magda und Anna sind auf die Kundgebung in Karlsruhe gekommen, um für die gesellschaftliche Anerkennung ihrer harten Arbeit einzutreten. „Das fängt schon bei der Ausbildung an, sie wird nicht vergütet. Das macht den Beruf sehr unattraktiv.“ Dabei sei er so wichtig.

Fatma, ebenfalls Erzieherin, betonte: „Kinder brauchen Freiraum und Aufmerksamkeit. Das können wir ihnen unter diesen Bedingungen aber nicht geben, obwohl wir unser Bestes tun.“ Fatmas Kollegin Anna machte klar, dass es um ein grundlegendes Prinzip geht: „Mir geht es nicht nur ums Geld, ich bin wegen des ganzen Systems hier“, sagte sie. Stress, Krankheit und Überlastung führen bei Kindern und Erziehern zu einem schlimmen Kreislauf, so Fatma.

Auf der Kundgebung in Dortmund treffen wir die Erzieherin Heike, die darüber berichtet, wie viele neue Aufgaben sie übernehmen müssen. „Die Ansprüche an uns sind in den letzten Jahren ständig gestiegen. Wenn die Kinder in die Schule kommen, sollen sie die Sprache beherrschen, sie sollen zählen können, still sitzen können, zuhören können, sich konzentrieren können, sie sollen eine gewisse Selbstständigkeit haben. Das wird alles erwartet.“

„Das tun wir alles gerne, aber man braucht halt auch Zeit für die Kinder. Und wenn ich 25 bis 30 Kinder habe und wir sind zu zweit, reicht das hinten und vorne nicht“, sagt Heike. Krankheitsfälle, Urlaub und Bildungsurlaub würden nicht ausgeglichen, so dass echter Personalmangel herrsche.

Heike sagt, dass sie auch deshalb streikt, weil der Beruf des Erziehers für junge Leute bei der schlechten Bezahlung nicht attraktiv sei. „Dabei haben wir einen immer höheren Bedarf. Die Kinder kommen früher, die Eltern müssen zum Teil beide arbeiten. Also brauchen wir auch Ganztagsplätze, weil die Arbeitszeiten der Eltern nicht so sind wie sie eigentlich sein müssten, um als Paar wirklich Kinder groß zu ziehen. Die Belastungen steigen, die Anforderungen steigen und das Gehalt steigt nicht angemessen mit.“

Heike ist sich klar darüber, dass in den letzten Jahren mit dem Argument der leeren Kassen eine Politik gegen das Gemeinwohl gemacht wurde. Angesichts der zahnlosen Streiks der letzten Jahre weiß sie aber auch nicht, was dagegen zu tun wäre. „Wir streiken und streiken und es kommen immer nur Kleckerbeträge dabei rum. Es ist so viel an Personal eingespart worden. Man sieht einfach kein Land.“

Die bewusste Begrenzung des Streiks durch Verdi wird auch in Berlin diskutiert. „Das Vertrauen gegenüber den Gewerkschaften hat abgenommen“, sagt Pfleger Marco. „Richtige Streiks wie in Frankreich gibt es hier ja nicht. Aber das wünschen sich viele.“ Der Kraftfahrer Christian wirft ein: „Eigentlich wäre es notwendig, dass wir alle zusammen streiken. Aber erst streiken die einen, dann die anderen.“

Am Flughafen in Frankfurt empört sich Michael, der als Lademeister arbeitet: „Es ist gut, dass es immer mehr Widerstand gibt. Was ich als Facharbeiter sehe, ist, dass der Vorstand extrem viel Geld verdient, die machen sich die Taschen voll. Und als Facharbeiter kriegt man nur noch gesagt, ‚es ist kein Geld da’. Das kann ich nicht mehr nachvollziehen.“ Er könne den Franzosen nur beipflichten. „In Frankreich ist das Streiken in der Gesellschaft viel mehr verankert. In Deutschland ist das leider viel weniger der Fall. Ich würde mir wünschen, wenn das hier auch so wäre.“

In Karlsruhe diskutieren die Industriemechaniker Marcel, Niklas und Felix, die in Freiburg bei den Verkehrsbetrieben arbeiten, über den internationalen Zusammenschluss der Arbeiter. „Wenn die Franzosen das schaffen, schaffen wir das auch“, freute sich Felix. Darauf angesprochen, dass die amerikanischen Lehrer sich über gewaltige Facebookgruppen unabhängig von den Gewerkschaften organisieren, sagte Niklas: „Das war mutig! Ich finde es wichtig, dass man für seine Forderungen einsteht, auch wenn die Gewerkschaften nicht dahinterstehen.“ „Da kann man nur zustimmen“, pflichtete ihm Marcel bei. „Es müssen alle gleichzeitig an einem Strang ziehen.“

Gerade die abgekarteten Streiks Verdis zeigen, dass sich den Arbeitern in Deutschland und Frankreich die gleiche Aufgabe stellt. Sie sind nicht nur mit reaktionären Regierungen konfrontiert, die aufrüsten, Krieg führen und heftige Angriffe auf die sozialen Rechte der Arbeiter durchsetzen, sondern auch mit Gewerkschaften, die eng mit den Regierungen zusammenarbeiten. Arbeiter können ihre Interessen nur in einer gemeinsamen sozialistischen Bewegung verteidigen, die sich auf die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse stützt.

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