Bei Amazon in Bad Hersfeld (Hessen) wird erneut gestreikt. Mit dem viertägigen Ausstand vom 27. bis 30. Dezember wehren sich rund 350 Amazon-Mitarbeiter gegen die Billiglohn-Ausbeutung bei dem globalen Versandhändler, der Milliarden scheffelt. Sie haben die Zeit zwischen den Feiertagen ausgewählt, um das Umtauschgeschäft nach Weihnachten zu stören.
Bad Hersfeld ist der Ort, an dem 1999 das erste Amazon-Versandlager Deutschlands eröffnet wurde. Heute stehen hier zwei große Lagerhäuser, in denen fast 4000 Mitarbeiter fest angestellt sind. Hinzu kommen etwa 400 Aushilfskräfte (von bundesweit 13.000) für das aktuelle Weihnachts- und Umtauschgeschäft.
Amazon ist nicht nur für seine gnadenlos durchgetakteten Arbeitsabläufe bekannt. Berüchtigt sind auch die lückenlose Überwachung und das harsche Durchgreifen gegen jede Opposition im Betrieb. So ist es nicht verwunderlich, dass sich an den Streiks immer nur ein kleiner Teil der Belegschaft beteiligt. Mit mehreren hundert Streikenden zählt die Arbeitsniederlegung sogar zu den vergleichbar größeren Aktionen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass viele Kollegen im Weihnachtsurlaub sind.
Ein Grund für die geringe Streikteilnahme ist wohl auch die national beschränkte Perspektive der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Seit fast fünf Jahren beschränkt Verdi die Streiks bei Amazon auf die Forderung nach Anerkennung des deutschen Tarifrechts. Der globale Amazon-Konzern weigert sich jedoch, irgendeinen Tarifvertrag anzuerkennen, und nutzt während der Streikphasen regelmäßig die Möglichkeit, nach Polen auszuweichen und den Arbeitskampf mittels Mehrarbeit der dortigen, noch übler ausgebeuteten Arbeiter zu unterlaufen.
In Polen wurde vor wenigen Wochen das fünfte „Fulfillment Center“ eröffnet. Amazon profitiert in ganz Osteuropa von der niedrigen Lohnstruktur und der Nähe zum deutschen Markt. An den Amazon-Standorten Poznan (Posen), Wroclaw (Breslau) und Kolbaskowo sowie dem neusten Versandlager im schlesischen Sosnowiec beschäftigt der Konzern mittlerweile über 9000 festangestellte Mitarbeiter und mehrere tausend Aushilfskräfte. Auch ist Amazon gerade dabei, ein Rücksendezentrum bei Trnava, etwa 50 Kilometer östlich von Bratislava, in der Slowakei einzurichten.
„Man muss leider davon ausgehen, dass die Kollegen in Polen jetzt einen höheren Arbeitsandrang spüren“, sagt Sven der WSWS-Redaktion [Name von der Redaktion geändert]. Der gelernte Einzelhandelskaufmann arbeitet schon mehrere Jahre lang bei Amazon. Wie er sagt, würde er einen international koordinierten Arbeitskampf sofort unterstützen.
Sven bestätigt uns, dass in Bad Hersfeld Amazon-Arbeiter auch nach zwei Jahren mit einem Bruttolohn von 2085 Euro nach Hause gehen. Das ist im Jahr weniger als der Amazon-Besitzer und oberste Chef Jeff Bezos in einer Minute „verdient“. Bezos gilt mittlerweile als der reichste Mann der Welt.
In Bad Hersfeld versucht der Konzern überdies seit Monaten, eine Art kollektiven Gesundheitsbonus einzuführen. Das ist eine Prämie, die von der Anwesenheitsquote einer gesamten Abteilung abhängig ist. Zum Glück habe der Betriebsrat dies bisher abgelehnt, so Sven: „Die Geschäftsleitung versucht aber ständig, diesen Health Bonus durchzudrücken. Sie versucht, das schön zu reden, dass man dadurch seinen Verdienst steigern könne. Das setzt aber jedes Mal voraus, dass keiner krank wird. Sollen sie doch erst einmal dafür sorgen, dass die Arbeit bei Amazon nicht mehr krank macht!“
Sven berichtet über die stundenlange, ununterbrochene „Treiberei in den Hallen voller Krach und ohne natürliches Licht“. Dann geht er auf den Panorama-Bericht über das neue Amazon-Werk Winsen ein, in dem offenbar nicht nur modernste Robotertechnik, sondern auch eine permanente Überwachung eingerichtet worden ist. Die Kollegen hätten diesen Bericht mit Sorge verfolgt.
„Auch bei uns muss man von einer ständigen Überwachung ausgehen“, sagt Sven. Er habe mit einem streikenden Mitarbeiter gesprochen, der Zugriff auf die Computerprogramme im Arbeitsablauf habe. „Es gibt eine Kontrollfunktion, bei der ein rotes Lämpchen aufleuchtet, sobald ein Picker eine bestimmte Zeit lang nicht ‚pickt‘. Offiziell wird diese Funktion angeblich nicht benutzt, aber sie existiert eben, und weil das jeder weiß, erzeugt das natürlich Stress.“
Auch die Durchsuchungen nach der Schicht, bestimmt durch einen Zufallsgenerator, bei denen man mit dem Metalldetektor abgetastet werde, seien Teil eines Systems, dem man vollständig ausgeliefert sei.
Für Sven bedeutet das alles, dass man „seine Persönlichkeit an der Pforte abgibt“. „Wir werden alle geduzt“, berichtet er weiter. „Das wird einem schon beim Einstellungsgespräch verklickert. Da wird dann davon gesprochen, dass wir alle Teil eines ‚tollen jungen Teams‘ seien. Für mich ist es als Bestandteil der Arbeitsbedingungen letztendlich ein Verlust an Respekt.“
Sven berichtet von geradezu absurden Kampagnen zur Motivation der Mitarbeiter. Es sei schon fast peinlich, wenn das an die Öffentlichkeit dringe. So sei vor kurzem ein „Einhorn-Thementag“ ausgerufen worden: „Die ‚rechte Hand‘ der Werksleiterin ist offenbar ein Fan von Einhörnern. Wer also an einem bestimmten Tag im ‚Einhorn-Look‘ [also mit Einhorn-Dress oder einem Horn auf der Stirn] zur Arbeit kam, der erhielt dafür drei Amazon-Plastiktaler und eine Portion ‚Sternenstaub‘.“
Für die Plastiktaler könne man dann beispielsweise einen Eiskratzer mit Amazon-Logo oder ähnliches erwerben, was normalerweise als Werbegeschenk durchgehen würde. Solche Aktionen, die an einen Kindergarten erinnern, seien für die meisten Mitarbeiter bloß lächerlich und entwürdigend. „Von über 4000 Beschäftigten haben gerademal 58 mitgemacht.“
Das Gespräch mit Sven und der ganze Streik machen deutlich, dass die Unruhe und Unzufriedenheit unter der Belegschaft wächst. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Taktik von Verdi in eine Sackgasse geraten ist. Seit fünf Jahren mobilisiert sie im nationalen Rahmen und auf isolierte Standorte beschränkt für das offensichtlich sinnlose Ziel, Amazon zur Akzeptanz des deutschen Tarifsystems zu zwingen. Die Arbeiter jedoch sind mehr und mehr bereit, sich über die Grenzen hinweg zusammenzuschließen und gemeinsam einen wirklichen Arbeitskampf gegen das Ausbeutersystem Amazon aufzunehmen.
Um eine solche globale Strategie vorzubereiten, betreiben die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterparteien vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) den Newsletter International Amazon Workers Voice. Darüber können sich Amazon-Arbeiter mit ihren Kollegen weltweit vernetzen, über ihre Arbeitsbedingungen berichten und ihre Kämpfe koordinieren. Wir rufen alle Amazon-Arbeiter auf, den Newsletter hier zu abonnieren und unsere Seite auf Facebook kennenzulernen.