Bevor der neu gewählte Bundestag am 24. Oktober zu seiner ersten konstituierenden Sitzung zusammenkommt, demonstrieren in Berlin am Sonntag über 10.000 Menschen gegen den Rechtsruck in der Politik. Über 90 Abgeordnete der Alternative für Deutschland (AfD) werden dem neuen Bundestag angehören. Damit ziehen zum ersten Mal seit dem Fall des Hitler-Regimes wieder offene Nazis, Rassisten und Fremdenhasser ins Parlament ein.
Unter den Teilnehmern waren vor allem auch viele Familien und Jugendliche vertreten. Sie kamen mit selbst gemalten Plakaten und vorbereiteten Bannern. Gegenüber der WSWS drückten zahlreiche Teilnehmer ihren Unmut über die aktuellen, politischen Entwicklungen aus.
Tobias findet es „unhaltbar“, dass Mitglieder der AfD in den Bundestag einziehen. „Wenn bei unserer Historie solche Leute wieder im Bundestag sitzen, dann kann man nicht zu Hause sitzen bleiben.“ Die Ursache für den Aufstieg der Rechten sieht er im sozialen Niedergang. Durch die Schaffung von Arbeitsmarktflexibilisierung und prekärer Beschäftigung seien bei den Menschen Abstiegsängste erzeugt worden, die die Rechten mit ihren Parolen ausschlachten.
Als Ann-Christin das Wahlergebnis gesehen hat, musste sie an ihre Großmutter und die Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg denken. „Es erinnerte mich an Stimmen, die gesagt haben: Ihr müsst dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.“
Ann-Christin betrachtet es als „großes Problem“, dass die Positionen der AfD durch den Einzug in den Bundestag jetzt wieder in die Mitte der Gesellschaft gelangen. „Auf einmal wird es wieder ganz normal, dass es diese Ansichten gibt.“ Das findet sie erschreckend. Sie glaubt nicht, dass die AfD viele Leute anspricht, sondern hält viele ihrer Wähler für Protestwähler.
Die „Demo gegen Hass und Rassismus im Bundestag“ wurde von den Aktivistengruppen Avaaz, Campact und Breaking the Ice organisiert und vorwiegend über Facebook bekannt gemacht. Hauptinitiator war der Lehramtsstudent und Gründer des Vereins „Interkultureller Frieden e.V.“, Ali Can, der selbst vor mehreren Jahren als Flüchtling nach Deutschland kam.
All diese Kräfte hatten keine Perspektive für den Kampf gegen rechts anzubieten. Der offizielle Demo-Aufruf warnte zwar vor Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Geschichtsrevisionismus im Bundestag, blendete die politischen und sozialen Ursachen für den Aufstieg der AfD jedoch völlig aus. Am Ende appellierte er an „alle“ – darunter „Gewerkschaften“ und „ Politikerinnen und Politiker aller Parteien“ – gemeinsam „für ein weltoffenes und vielfältiges Deutschland“ zu demonstrieren.
Zu den offiziellen Unterstützern der Demo zählten dann auch Organisationen, die für den Aufstieg extrem rechter Tendenzen in Deutschland und ganz Europa direkt mitverantwortlich sind. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) unterstützt seit Jahren die brutale Kürzungspolitik der Bundesregierung und verbreitet selbst Nationalismus. Das gleiche trifft auf die Bewegung DiEM25 zu, der u.a. Politiker der griechischen Syriza, der deutschen Linkspartei, der spanischen Podemos und der britischen Labor-Party angehören.
Vertreter der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) und der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) erklärten auf der Demo, dass der Kampf gegen die AfD eine Abrechnung mit allen etablierten Parteien und eine sozialistische Perspektive erfordert. „Unter Bedingungen der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren hat die herrschende Klasse die neofaschistische Kraft gezielt aufgebaut, um ihre Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus gegen die wachsende Opposition in der Bevölkerung durchzusetzen“, heißt es in ihrem gemeinsamen Aufruf.
Was die etablierten Parteien wirklich über die Rechtsextremen denken, zeige ihre Haltung zum rechtsextremen Humboldt-Professor Jörg Baberowski. Obwohl dieser die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlose („Hitler war nicht grausam“), sei er nicht nur in der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ein gern gesehener Gast, auch die Grünen und die Linkspartei hätten in der Vergangenheit Podiumsdiskussionen mit ihm veranstaltet. Die sozialdemokratische Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst, drohe Baberowskis Kritikern mit strafrechtlicher Verfolgung, obwohl ein Gericht bestätigt habe, dass er als „Rechtsradikaler“ bezeichnet werden dürfe.
Wie lebendig die historischen Erfahrungen sind, die die herrschende Klasse in Deutschland wieder revidieren will, zeigte die Rede des Zeitzeugen und Holocaustüberlebenden Peter Neuhof. Mit warnenden Worten erinnerte der 92-Jährige, dessen Vater als jüdischer Kommunist und Widerstandskämpfer im KZ Sachsenhausen ermordet wurde, an die 30er Jahre. Damals sei die NSDAP für viele eine „Alternative für Deutschland“ gewesen. Er verwies auf den Ausspruch Wilhelms II „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ und stellte ihn in eine Reihe mit dem aus „Braunau – also Hitler“. Das Ergebnis dieser Politik sei bekannt.
„Und jetzt Deutschland den Deutschen? Wohin führt diese Politik?“, fragte Neuhof weiter und zitierte die Überlebenden aus dem KZ Buchenwald: „Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus!“. Doch „inzwischen stehen deutsche Soldaten wieder an vielen Fronten angeführt von einer Ministerin, die sich Verteidigungsministerin nennt. Kein Wunder, dass sich auch eine Partei mit braunem Stallgeruch etablieren konnte. Eben die AfD – zu der der ‚Schoß ja noch fruchtbar ist’, um mit Brecht zu sprechen.“
Neuhof appellierte an die Zuhörer, eine Wiederholung der Geschichte der 30er Jahre nicht zuzulassen. Die AfD sei ein „Sammelbecken rechter Gesinnung“ und Schweigen und Wegsehen sei keine Lösung. „Heute kommen Flüchtlinge zu uns, die in ihrer Heimat ihres Lebens nicht mehr sicher sind. Sie kommen, weil sie nicht mehr im Elend leben wollen – Verhältnisse, an denen unsere Gesellschaft mit verantwortlich ist, am Krieg und an der Armut.“ Es folgte ein langer und anhaltender Applaus.