Das brutale Vorgehen des spanischen Staates gegen einfache Bürger Kataloniens, die bei dem Unabhängigkeitsreferendum am Sonntag abstimmen wollten, hat zurecht Arbeiter und all diejenigen, die für die Verteidigung demokratischer Rechte eintreten, tief schockiert.
80 Jahre nachdem die spanische Bourgeoisie die Revolution unter dem Stiefel des Faschismus zermalmt hat, und 40 Jahre nach dem Ende von Generalissimo Francisco Francos Regime setzt die spanische herrschende Klasse erneut auf brutale Unterdrückung.
Dabei genießen die spanischen Behörden die uneingeschränkte Unterstützung der gesamten Europäischen Union und der USA. Beide bezeichneten den Einsatz nackter Gewalt gegen Katalanen, die ihre politische Meinung äußern, als „rechtsstaatlich“.
Die Unterdrückung in Spanien ist Teil einer zunehmenden Hinwendung zu autoritären Herrschaftsformen in ganz Europa. In Frankreich hat die neue Regierung von Präsident Macron eine arbeiterfeindliche Arbeitsmarktreform durchgesetzt, die Kündigungsschutz, Lohn- und Arbeitsstandards aushöhlt. Außerdem ist sie dabei, die umfassenden und undemokratischen Vollmachten des Ausnahmezustands dauerhaft in Gesetzesform zu gießen.
In Deutschland sitzen zum ersten Mal seit dem Untergang des „Dritten Reichs“ Faschisten im Bundestag. Außerdem ist ein Gesetz in Kraft getreten, das die Anbieter von sozialen Netzwerken zwingt, im Namen des Kampfes gegen „Hasskommentare“ Zensur zu betreiben.
Nach dem brutalen Durchgreifen der Polizei am letzten Sonntag sind die spanische herrschende Elite und die amtierende Volkspartei (PP) bereit, erstmals Artikel 155 der Verfassung anzuwenden. Dieser Artikel wird sogar in regierungsnahen spanischen Medien als „nukleare Option“ bezeichnet und würde Madrid ermächtigen, die katalanische Autonomie auszusetzen, die gewählte Regionalregierung zu entlassen und die Herrschaft der Zentralregierung mit Gewalt durchzusetzen.
Unter dem Banner der Einheit Spaniens sammeln sich die rechtesten Kräfte, darunter auch offene Faschisten. Am Dienstag warf König Felipe VI., der sein Amt der Entscheidung Francos verdankt, die Monarchie wieder einzuführen, den katalanischen Behörden in einer drohenden Rede „unerträgliche Illoyalität gegenüber der Staatsgewalt“ vor.
Die World Socialist Web Site hat deutlich gemacht, dass sie den Versuch der katalanischen Bourgeoisie ablehnt, einen unabhängigen kapitalistischen Nationalstaat zu schaffen, der noch dazu sofort die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der Nato anstreben würde. Wir tun dies jedoch von links, vom Standpunkt der Arbeiterklasse und des Kampfes zur Vereinigung der Arbeiter in Spanien und ganz Europa auf einer internationalistischen sozialistischen Perspektive. Es geht uns nicht um die Verteidigung des spanischen Staates und der territorialen Integrität des kapitalistischen Spaniens.
Der Staatsapparat und die rechten Elemente, die heute gegen die Unabhängigkeit Kataloniens mobilisiert werden, können schon morgen gegen die gesamte spanische Arbeiterklasse eingesetzt werden, um die Wiederaufrüstung, die Teilnahme an imperialistischen Kriegen im Nahen Osten und andernorts sowie den brutalen Sparkurs zu forcieren, den alle Teile des spanischen Establishments seit 2008 umgesetzt haben.
Die spanischen Arbeiter müssen als unabhängige Kraft in diese Krise eingreifen, um ihre Klasseninteressen zu verteidigen. Zu diesem Zweck müssen sie Madrids Vorgehen resolut ablehnen und ihre Klassenbrüder und -schwestern in Katalonien dazu auffordern, gemeinsam mit ihnen gegen Austerität und Krieg und für einen spanischen Arbeiterstaat als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu kämpfen.
Die Unabhängigkeitsbefürworter in der katalanischen Bourgeoisie unter Führung von Carles Puigdemont stehen der Arbeiterklasse dabei ebenso feindlich gegenüber wie ihre Gegner in Madrid. Einer der Hauptgründe für das Unabhängigkeitsreferendum war es schließlich, den wachsenden sozialen Widerstand gegen ihre eigene Rolle bei der Umsetzung des Sparkurses in Katalonien in andere Bahnen zu lenken.
Unter dem Vorwand der nationalen Selbstbestimmung verfolgen sie ihre eigenen egoistischen Klassenziele. Vor allem geht es ihnen darum, eigene Abkommen mit der EU und Washington schließen zu können, ohne die Regierung in Madrid als Mittelsmann. Eines ihrer Hauptargumente lautet, Katalonien würde zu hohe Steuern für weniger wohlhabende Regionen Spaniens zahlen.
Als Reaktion auf Madrids brutales Vorgehen hat Puigdemont an die EU appelliert, in dem Konflikt zu vermitteln. Er hat außerdem angekündigt, das katalanische Parlament werde am kommenden Montag über eine Unabhängigkeitserklärung abstimmen.
Beide Schritte stehen den Interessen und Hoffnungen der Arbeiterklasse in Katalonien und Spanien gleichermaßen entgegen und sind im wesentlichen undemokratisch.
Mit dem ersten Schritt wollen die katalanischen Nationalisten ihre Ergebenheit gegenüber Brüssel, Berlin und Paris demonstrieren, d.h. den mächtigsten Sektionen des europäischen Kapitals. Diese haben nach der Krise von 2008 einen brutalen Austeritätskurs durchgesetzt, der die arbeitende Bevölkerung in ganz Europa in Armut gestürzt hat. Jetzt sind sie entschlossen, Europa wieder zu militarisieren und eine europäische Armee aufzubauen, um ihre imperialistischen Interessen weltweit durchzusetzen.
Mit dem zweiten Schritt wollen die katalanischen Nationalisten die verständliche Wut der Bevölkerung über das undemokratische Eingreifen der spanischen Regierung ausnutzen, um ihre Abspaltung durchzusetzen, obwohl sich in mehreren Umfragen die Mehrheit der Katalanen dagegen ausgesprochen hatte.
Sowohl Madrid als auch die katalanischen Nationalisten wollen die Bevölkerung mit nationalistischen Appellen gegeneinander aufhetzen und in ihre jeweiligen Lager treiben.
Diese Entwicklungen könnten auf der iberischen Halbinsel einen Bürgerkrieg auslösen. Vor diesem Hintergrund muss die Parole der katalanischen und der spanischen Arbeiter lauten: Für die Selbstbestimmung der Arbeiterklasse! Die Arbeiterklasse muss ihre eigene unabhängige Strategie auf der Grundlage der Erkenntnis entwickeln, dass ihre Klasseninteressen in unversöhnlichem Gegensatz zu allen Teilen der spanischen und katalanischen Bourgeoisie stehen.
Die Arbeiterklasse muss alle Versuche ablehnen, Katalonien mit Gewalt im Korsett des kapitalistischen Spanien zu halten. Dazu muss sie u.a. den sofortigen Rückzug der spanischen Sicherheitskräfte aus Katalonien fordern. Arbeiter in Katalonien sollten außerdem die Versuche der Bourgeoisie zurückweisen, den Apparat der Regionalregierung zu benutzen, um ihre geplante Loslösung umzusetzen. Stattdessen müssen sie gemeinsam mit Arbeitern aus ganz Spanien Widerstand gegen den Austeritäts- und Kriegskurs aller Teile der Bourgeoisie organisieren.
Beim Kampf für diese unabhängige Klassenstrategie müssen sich Arbeiter und Jugendliche vor den Versuchen diverser pseudolinker Kräfte wie dem pablistischen International Viewpoint hüten, die Arbeiterklasse an eine oder an beide rivalisierende bürgerliche Fraktionen zu ketten. Dazu zählt auch der Versuch dieser Kräfte, den katalanischen Nationalisten einen fortschrittlichen Anstrich zu geben oder Podemos unterstützen. Letztere Partei hat der Sozialistischen Partei (PSOE) ihre Zusammenarbeit angeboten, um eine alternative Regierung für die Bourgeoisie zu bilden und den spanischen Staat vor dem Zusammenbruch zu retten, obwohl die PSOE das Vorgehen der regierenden PP unterstützt hat. Mit diesem Angebot hat Podemos einmal mehr ihre Loyalität gegenüber dem spanischen Kapitalismus bewiesen.
Die gegenwärtige Krise hat den wahren Charakter des spanischen Staates offengelegt, der 1978 mit Hilfe der Stalinisten und der Sozialdemokraten im Rahmen einer konterrevolutionären Einigung umgestaltet wurde, damit aus der Arbeiterklasse keine Gefahr für das heruntergekommene Post-Franco-Regime und den spanischen Kapitalismus erwachsen konnte. Die Ereignisse dieser Woche haben gezeigt, dass der von Franco aufgebaute Unterdrückungsapparat hinter der parlamentarischen Fassade größtenteils noch immer intakt ist.
Doch diese Krise betrifft nicht nur Spanien. Sie ist gleichzeitig eine Folge und ein Teil der Systemkrise der gesamten Europäischen Union, deren Ursachen wiederum in der größten Krise des Weltkapitalismus seit der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg als ihrem Endergebnis liegen.
Die Behauptung, die EU diene dem friedlichen Aufbau eines demokratischen und „sozialen“ Europas, wurde in Folge der Krise von 2008 widerlegt.
Die EU ist als das entlarvt, was sie schon immer war: ein Werkzeug bei den Bestrebungen des europäischen Kapitals, seine Profite zu maximieren, die Arbeiterklasse zu unterdrücken und weltweit um Märkte und geopolitischen Einfluss zu wetteifern. Außerdem ist sie eine Arena, in der die rivalisierenden nationalen und regionalen kapitalistischen Cliquen um wirtschaftliche und strategische Vorteile kämpfen.
Spanien wurde von der Kürzungspolitik verwüstet, die von der PSOE und der PP in Zusammenarbeit mit der EU umgesetzt wurde.
Die Arbeiterklasse hat in ganz Europa erbitterten Widerstand gegen den Angriff auf ihre sozialen und demokratischen Rechte geleistet. Doch die Gewerkschaften, die sozialdemokratischen, stalinistischen, ex-stalinistischen und pseudolinken Parteien haben den Klassenkampf systematisch unterdrückt. Wo immer die angeblich „linken“ Kräfte an die Macht gekommen sind, waren sie die treibende Kraft bei der Zerstörung der Reste des Sozialstaats und schürten Vorurteile gegen Migranten, um die Arbeiterklasse zu spalten. Wo sie in der Opposition waren, haben sie Kämpfe isoliert und sie in das Korsett einer nationalistischen, pro-kapitalistischen und Pro-EU-Perspektive gezwungen, sofern sie nicht in der Lage waren, die Unzufriedenheit der Arbeiter gänzlich zum Schweigen zu bringen.
In dieser Hinsicht ist die Erfahrung mit Syriza besonders lehrreich. Diese pseudolinke Partei des privilegierten Kleinbürgertums konnte im Januar 2015 vom massiven Widerstand der Arbeiterklasse gegen Austerität profitieren und die Wahl in Griechenland für sich entscheiden. Allerdings lehnte sie alle Versuche ab, die europäische Arbeiterklasse gegen den Austeritätskurs und das oligarchische und autokratische Instrument des Finanzkapitals, das die EU nun einmal ist, zu mobilisieren. Nachdem Berlin und Brüssel Syrizas Bettelei um eine geringfügige Mäßigung ihres Austeritätdiktats eine Absage erteilt hatte, setzte Syriza Kürzungen um, die weit über diejenigen ihrer sozialdemokratischen und offen rechten Vorgängerregierungen hinausgingen.
Während die Arbeiterklasse politisch gelähmt ist, ist Europa zunehmend gekennzeichnet von immer brutaleren Kämpfen zwischen den rivalisierenden bürgerlichen Cliquen um die Verteilung eines immer kleineren Kuchens. Vor diesem Hintergrund konnten nationalistische Kräfte, manche von ihnen offen neofaschistisch, die soziale Unzufriedenheit ausnutzen und an Einfluss gewinnen.
Der europäische Kapitalismus verfault bei lebendigem Leibe. Gleichzeitig verstärken sich die grundlegenden Widersprüche des Profitsystems, die zu zwei Weltkriegen, der Großen Depression und zum Faschismus geführt haben.
Die Arbeiterklasse muss dem Wahnsinn der Europäischen Union des 21. Jahrhunderts ihre eigene Strategie entgegenstellen: den Aufbau einer Gegenoffensive zur Mobilisierung der Arbeiterklasse in einem gemeinsamen Kampf gegen die EU, alle rechten Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten, die europäischen Banken und das Großkapital, und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Ein Europa der Arbeiter würde die wirtschaftliche Integration und die technologischen Fortschritte nicht benutzen, um die Ausbeutung der Arbeiterklasse zu verschärfen, sondern um das sozioökonomische Leben unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung so zu organisieren, dass die sozialen Bedürfnisse der Arbeiterklasse erfüllt werden.
In Spanien erfordert der Kampf für diese internationalistische Strategie einen kompromisslosen Widerstand gegen die Gewalt, die die Regierung in Madrid mit Billigung der imperialistischen Europäischen Union anwendet.
Nur auf dieser Grundlage wird es möglich sein, den notwendigen politischen Kampf gegen die katalanischen bürgerlichen Nationalisten zu führen und die besten Teile der Arbeiterklasse und der Jugend für eine internationalistische Orientierung zu gewinnen.