Deutschland: Obdachlosigkeit steigt um sechzig Prozent

Alle etablierten Parteien versprechen im zu Ende gehenden Bundestagswahlkampf Maßnahmen gegen die Wohnungsnot, steigende Mieten und die damit einhergehende Armut. Wie jüngste Untersuchungen zur Obdachlosigkeit und zu den Mietsteigerungen beweisen, hat jedoch die Politik derselben Parteien diese Probleme erst geschaffen. Dazu zählen auch SPD und Linke, die dort, wo sie regieren oder mitregieren, eine Politik gegen die Mieter und für die Immobilienspekulanten betrieben haben.

Die neuesten Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe offenbaren ein erschreckendes Ergebnis: Laut ihren Schätzungen werden 536.000 Menschen in Deutschland im Jahr 2018 ohne Wohnung sein. Das wäre seit 2015 eine Steigerung um rund sechzig Prozent.

Vor allem Osteuropäer und Frauen sind von Obdachlosigkeit betroffen. Bundesweit rechnet der Caritasverband in den kommenden Jahren mit bis zu 160.000 obdachlosen Frauen, insbesondere älteren Frauen. Sie würden wegen ihrer Kinder oft nur Teilzeit arbeiten, bekämen später eine geringe Rente und könnten deshalb schneller obdachlos werden. Unter ihnen gibt es zunehmend auch kranke und pflegebedürftige Frauen.

Viele osteuropäische Arbeiter, meist aus Rumänien oder Bulgarien, die zwar im Rahmen der EU-Freizügigkeit in Deutschland arbeiten dürfen und sich meist für Minilöhne verdingen, aber keinerlei Ansprüche auf Sozialleistungen oder Krankenversicherung haben, landen ebenfalls auf der Straße. Auch die Zahl obdachloser Jugendlicher zwischen 18 und 23 Jahren wächst. Nach Angaben der Wohnungslosenhilfe sind dies bundesweit schätzungsweise 20.000, wie schon im Mai gemeldet wurde.

Ein Musterbeispiel für diese Entwicklung ist Berlin. Aktuell leben hier 20.000 Menschen ohne festen Wohnsitz, davon 6.000 dauerhaft auf der Straße. Nach aktuellen Schätzungen haben in Berlin etwa 2.400 Frauen keine Wohnung.

Die Hauptstadt mit dem zweifelhaften Ruf als „Hauptstadt der Obdachlosen und der Armut“ wird seit siebzehn Jahren in wechselnden Koalitionen von der SPD regiert, darunter von 2002 bis 2011 zehn Jahre lang zusammen mit der Linken und seit einen Dreivierteljahr erneut mit der Linken und den Grünen.

Die Reaktion der Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach (Die Linke), auf die Obdachlosenzahlen besteht aus lächerlichen, rein kosmetischen Maßnahmen. Die Zahl der Plätze für die über zweitausend obdachlosen Frauen und Familien will sie um 70 auf 100 erhöhen, die Schlafplätze in Notunterkünften für den kommenden Winter nur um knapp hundert Plätze, von 920 im letzten Winter auf rund 1000.

Dafür will die Sozialsenatorin der Linken auch Notunterkünfte nutzen, in denen bisher unter menschenunwürdigen Bedingungen Flüchtlinge leben mussten, wie Traglufthallen oder auch die Flughafen-Hangars am Tempelhofer Feld.

Für die Wohnungslosenhilfe sollen im nächsten Haushalt 2018/19 zusätzliche 2,5 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Zum Vergleich: Für Aufrüstung und Aufstockung der Polizei plant die rot-rot-grüne Koalition weit über 100 Millionen Euro zusätzliche Investitionen. Allein die neuen Maschinenpistolen der Polizei, die die Koalition schon im Januar beschlossen hatte, kosten fast 9 Millionen Euro.

Hauptgrund für die steigende Obdachlosigkeit sind die wuchernden Mietsteigerungen vor allem in Großstädten. Eine jüngst veröffentlichte Studie der Humboldt Universität Berlin (HU) und der Hans-Böckler-Stiftung offenbarte, dass vierzig Prozent der Haushalte in den 77 deutschen Großstädten, also rund 9 Millionen Menschen, mehr als dreißig Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen.

Während besser verdienende Haushalte im Durchschnitt gut 17 Prozent ihres Einkommens für die Bruttokaltmiete ausgeben, „sind es bei den Haushalten an der Armutsgrenze 39,7 Prozent“, heißt es in der Studie, die auf einer Haushaltsbefragung (Mikrozensus) im Jahr 2014 beruht.

Rund eine Million müssen sogar mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Wohnung ausgeben, und etwa 1,3 Millionen haben nach Abzug der Miete weniger als die Hartz-IV-Regelsätze zur Verfügung, also um die 400 Euro.

Diese Studie zeigt auch, wie die Wohnungsnot schon die unteren Mittelschichten erreicht hat. Ein mittlerer Haushalt in den Großstädten liegt mit durchschnittlich 27 Prozent Ausgaben für die Wohnung nur wenig unter der Grenze von 30 Prozent.

Diese Situation spiegelt sich auch in der Verteilung von Wohneigentum wider. Während von den einkommensschwachen Haushalten lediglich 7,5 Prozent in selbstgenutztem Wohneigentum leben, sind es bei Haushalten mit hohen Einkommen fast 42 Prozent. Vermögende Oberschichten sind zudem in den Immobilienmarkt eingestiegen. Sie kontrollieren als „Kleinvermieter“ nach Angaben des Instituts für deutsche Wirtschaft inzwischen 15 Millionen Wohnungen oder 60 Prozent aller Wohnungen, und üben zusätzlich Druck aus, die Mieten und damit ihre Rendite zu erhöhen.

Die Wohnungsfrage ist Spiegelbild einer immer tiefer gespaltenen Gesellschaft in Deutschland. Die Entwicklung hänge mit dem Rückgang oder der vollkommenen Beendigung des „sozialpolitisch gesteuerten Wohnungsbaus“ zusammen, erklären die Autoren der HU-Studie. „Die Wohnbedingungen sind damit nicht nur ein Spiegel bestehender Ungleichheit, sondern tragen auch selbst durch die hohe Mietkostenbelastung zu einer wachsenden Ungleichheit bei“, resümieren sie.

Ein Beispiel dafür liefert wiederum Berlin. Hier sind die Mieten in den letzten Jahren besonders stark gestiegen. Dies ist das direkte Ergebnis der rot-roten Wohnungspolitik zwischen 2002 und 2011, die 150.000 öffentliche Wohnungen privatisiert, die verbliebenen städtischen Wohnungsgesellschaften auf Renditeorientierung verpflichtet, den staatlichen Wohnungsbau völlig eingestellt und durch den Ausstieg aus der Anschlussförderung für Sozialwohnungen extreme Mietsteigerungen ermöglicht hat.

Während der Berliner Wohn-und Immobilienmarkt dadurch zum El Dorado für private Investoren und Spekulanten wurde, sanken die Einkommen vieler Berliner Familien auf Armutsniveau. Die erbärmlichen Wohnverhältnisse in Mietskasernen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kehren zurück.

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