Ein Konflikt im Bayrischen Nahverkehr wirft ein entlarvendes Licht auf die Gewerkschaften: Sie haben ungerechte Kürzungen der Schichtzulagen für Teilzeitmitarbeiter im Tarifvertrag festgeschrieben, obwohl mehrere Tramfahrer dagegen klagten. Kurze Zeit später sprach das Landesarbeitsgericht München den Fahrern die Schichtzulage in voller Höhe zu.
Für Münchner Tram-, U-Bahn- und Busfahrer ist die Schichtzulage, ein monatlicher Festbetrag von rund 160 Euro, alles andere als Luxus. Ihre verantwortungsvolle Tätigkeit im Stadtverkehr müssen sie im ständigen Schichtdienst, auch des Nachts, am Wochenende und an Feiertagen leisten.
Der Stress in der Großstadt München veranlasste viele Tramfahrer, auf das Angebot der Stadtwerke, weniger als die vollen 38,5 Wochenstunden zu fahren, einzugehen. Sie gelten als „Teilzeitmitarbeiter“, wenn sie zwischen 15 und 36 Wochenstunden fahren – also auch dann, wenn sie nur zweieinhalb Stunden weniger als die „Vollzeitmitarbeiter“ arbeiten.
Die Schichtzulagen werden fällig, wenn die Freizeit zwischen zwei Schichten mindestens einmal im Monat weniger als 13 Stunden beträgt. Zweite Bedingung: mindestens eine Schicht ist unregelmäßig um zweieinhalb Stunden oder mehr versetzt. Dies kann auch öfters der Fall sein, und es betrifft in der Regel die Teilzeitfahrer mindestens so oft wie die Vollzeitfahrer. Dennoch wird die Schichtzulage bei den Teilzeitfahrern seit Jahren anteilig gekürzt.
Dagegen klagten im Jahr 2015 drei Kolleginnen und Kollegen, alles Tramfahrer der Münchner Stadtwerke (MSW), vor dem Arbeitsgericht München. Parallel dazu klagte auch ein Kollege in Nürnberg. Die Betriebsräte der Gewerkschaften Verdi und NahVG sowie die Vertreter der dbb-Tarifunion hatten behauptet, weil im Tarifvertrag nichts darüber stehe, seien ihnen die Hände gebunden. Also mussten die Kollegen individuell klagen.
Die Tramfahrer unterlagen zwar in erster Instanz, gingen aber in Revision. Inzwischen liefen die Tarifverhandlungen 2016 für den Nahverkehrs-Tarifvertrag TV-N Bayern. Dabei einigten sich die Gewerkschaften Verdi und NahVG mit den Arbeitgebern, die Kürzungen der Schichtzulage für Teilzeitmitarbeiter rückwirkend zum 1. Juni 2016 ausdrücklich festzuschreiben. Diese Benachteiligung ist somit für Tram-, U-Bahn- und Busfahrer in ganz Bayern gültig.
Kurze Zeit darauf begann der Revisionsprozess vor dem Landesarbeitsgericht. Am 29. März 2017 sprachen die Richter den Teilzeitfahrern die Schichtzulage ausdrücklich und ohne Einschränkung zu. Den neuen Tarifvertrag bezeichnete das Gericht als fragwürdig. Eine weitere Revision ließ es nicht zu.
Nun erhalten die Fahrer die vorenthaltenen Teilbeträge der Schichtzulage nachbezahlt – bis zum Mai 2016. Seither sind die Kürzungen ja Bestandteil des TV-N und somit legal. Um sie anzufechten, müssen die Tramfahrer erneut vor Gericht ziehen.
Damals „sah es nicht gut aus“, schreibt Betriebsrat Hans-Jörg Tweraser von der NahVG-Ortsgruppe München zur Rechtfertigung. Sein Beitrag in der Zeitschrift „Fahrtwind“ beginnt mit den Worten: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“. Tweraser führt dort aus, die Arbeitgeber, nämlich die Stadtwerke München und der Kommunale Arbeitgeberverband, hätten auf Nachfrage der Betriebsräte damals behauptet, mit den Kürzungen sei der Tarifvertrag „richtig interpretiert“.
Das macht klar, was für eine Verschwörung hier stattgefunden hat: Die Betriebsräte haben sich hinter dem Rücken der Fahrer mit den Arbeitgebern darauf verständigt, dass die Teilzeitmitarbeiter auf den vollen Betrag der Schichtzulage verzichten müssen. Anschließend haben sie es stillschweigend in den Tarifvertrag TV-N aufgenommen.
Tweraser ist selbst vor Jahren aus Verdi ausgetreten und hat sich zunächst der Lokführergewerkschaft GDL und dann der NahVG angeschlossen. Aber auch die sogenannten Spartengewerkschaften, die sich anfangs radikaler und weniger korrupt darstellten, gründen ihre Politik auf dieselbe Kapitalismus-Hörigkeit wie die DGB-Gewerkschaften. Ihre Betriebsräte verhalten sich letztlich genauso opportunistisch wie die „offiziellen“. Das zeigt die Geschichte mit den Schichtzulagen deutlich.
Die Gewerkschaften, denen die Betriebsräte angehören, sitzen in praktisch allen Aufsichtsräten (Stadtwerke, MVG, etc.), und fast immer übernimmt der Betriebsratsvorsitzende die Rolle des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden. So sind sie an allen Entscheidungen beteiligt. Ihre Aufgabe ist es, die Angriffe gegen die Belegschaft durchzusetzen.
Außerdem sind die Parteien, denen die Gewerkschaftsführer angehören oder nahestehen – die SPD, die Linke und die Grünen – für die tiefgreifende Umstrukturierung im Arbeitsmarkt der letzten Jahre verantwortlich. Die Schröder-Fischer Regierung (1998–2005) hat diesen Prozess mit Hartz IV und Agenda 2010 maßgeblich eingeleitet. SPD-, Grünen- und Linken-Politiker haben in den Bundes- und Landesregierungen gemeinsam mit der CDU/CSU die Schuldenbremse eingeführt, mit der sie die sozialen Angriffe rechtfertigen.
Heute steht die SPD mit Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz an der Spitze der neuen deutschen Großmachtpolitik. SPD-Politiker wie Schulz und Boris Pistorius machen im Wahlkampf ungehemmt Stimmung gegen Flüchtlinge.
Die Münchner Stadtwerke, der europaweit größte kommunale Betrieb, wurde seit 1998 in eine GmbH im Besitz der Stadt München verwandelt, und ihre Teilbereiche wurden in selbständige Tochterbetriebe umgewandelt, die eigenprofitabel wirtschaften müssen. 2012 wurde die Münchner Verkehrsgesellschaft MVG auf diese Weise zum selbständigen Unternehmen, das seinerseits private Partnerfirmen beauftragt.
Während nur noch wenige Fahrer direkt bei den Stadtwerken beschäftigt sind, werden die neuen Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrer nur noch über die MVG eingestellt. Dadurch gelten für die Fahrer mindestens drei verschiedene Tarifverträge (der TV-N für die Stadtwerke, der Tarifvertrag des MVG und derjenige für die privaten Verkehrsbetriebe).
Für die Fahrer hat dies ausschließlich negative Folgen. Die Löhne und Bedingungen werden ständig verschlechtert, und die Errungenschaften, die frühere Generationen erkämpften, gelten heute für viele nicht mehr. Auch verhindert die Tatsache, dass die Lohnverhandlungen jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden, von vornherein die gemeinsame Mobilisierung aller Fahrer.
Zurzeit läuft die Evaluierungsphase des so genannten Projekts „SWM22“. Es soll die Stadtwerke und ihre Töchter „verschlanken“ und Kosten einsparen. Die Unternehmensberatung Roland Berger durchforstet sämtliche Teilbereiche.
Diesen Prozess unterstützen die Gewerkschaften ausdrücklich. Die NahVG schreibt in der Zeitschrift „Fahrtwind“, es gehe jetzt darum, „darauf hinzuweisen, dass es angesagt ist, in unserem Unternehmen existierende kostenintensive Prozesse zu optimieren und zu verschlanken. Diesbezüglichen Anfragen stehen wir als NahVG jederzeit positiv gegenüber.“
Für die Fahrer und alle städtischen Arbeitnehmer bedeutet dies immer neue, weitreichende Angriffe. Die jüngste Zumutung der MVG besteht darin, dass sie für ihre Tram-, U-Bahn- und Busfahrer die 40-Stundenwoche einführen will. Die MVG behauptet, die Löhne würden dafür um 12 Prozent angehoben, aber das ist eine Lüge, denn bei einer 40-Stundenwoche würden die bisher bezahlten Überstundenzulagen für die Mehrarbeit wegfallen.
Die Löhne der MVG-Fahrer sind heute so gering, dass damit in München praktisch niemand leben kann und die Fahrer auf Überstunden angewiesen sind. Der Grundlohn, den viele Fahrer erhalten, beträgt brutto 2280 Euro und ergibt netto einschließlich der Schichtzulagen nicht einmal 2000 Euro.
Die Streikbereitschaft der Busfahrer ist groß. Einem Aufruf zum Warnstreik am 18. Juli folgten neunzig Prozent der MVG-Busfahrer. Allerding sorgte Verdi dafür, dass dieser Streik völlig isoliert war: Weder die so genannten Alt-Fahrer bei den Stadtwerken, noch die Tram- und U-Bahn-Fahrer der MVG wurden aufgerufen. So war der Busfahrerstreik im Effekt im Stadtverkehr kaum zu spüren.
Verdi hat versprochen, der Erhöhung der Arbeitszeit „auf keinen Fall zuzustimmen“ (so Franz Schütz von Verdi München). Die Fahrer sind jedoch gut beraten, diesem Versprechen keinen Glauben zu schenken. Wenn sie sich gegen kommende Angriffe wirkungsvoll wehren wollen, müssen sie sich von den Gewerkschaften unabhängig in eigenen Arbeiterkomitees organisieren. Das zeigen ungezählte Streikerfahrungen der letzten Jahre, wie zum Beispiel bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und im Busfahrerstreik in Hessen im Frühjahr 2017.
Besonders der jüngste Streik der hessischen Busfahrer enthält wichtige Lehren. Verdi hatte einen Zweitagesstreik geplant, um „Dampf abzulassen“, aber die Busfahrer setzten durch, dass er immer wieder verlängert wurde. Sie gingen davon aus, jetzt endlich eine wirkliche Verbesserung zu erkämpfen. Als auch andere Fahrer in Solidaritätsstreiks traten, brach Verdi alle Streikaktionen überstürzt ab.
In der Schlichtung einigte sich Verdi mit dem Landesverband Hessischer Omnibusbetriebe auf ein sehr schlechtes Ergebnis: Die Busfahrer erhielten nur äußerst geringe Lohnverbesserungen von fünfzig Cents pro Stunde und bleiben somit auf Jahre hinaus Geringverdiener. Darüber hinaus wurde ihnen eine Schlichtungsklausel aufs Auge gedrückt, die die Fahrer vom Streiken abhalten soll. Schon ab dem dritten Verhandlungstag kann künftig eine der beiden Parteien die Schlichtung anrufen. Damit sind den Busfahrern mehr denn je die Hände für künftige Arbeitskämpfe gebunden.