Auf den ersten Blick hat die britische Hauptstadt London mit ihren 8,7 Millionen Einwohnern und der weltweit größten Konzentration von Milliardären nichts gemeinsam mit der verarmten Stadt Flint in Michigan, einem Symbol des amerikanischen „Rust Belt,“ deren Einwohner seit mehr als drei Jahren mit der Bleivergiftung ihres Trinkwassers zu kämpfen haben.
Doch in beiden Städten – und in zahllosen anderen auf der ganzen Welt – verurteilt der moderne Kapitalismus die Arbeiterklasse zu unmöglichen Lebensbedingungen und einem frühen Tod.
Mehr als zwei Wochen nach dem Brand im Grenfell Tower am 14. Juni verheimlichen die Behörden noch immer die Zahl der Todesopfer und das volle Ausmaß dieses sozialen Verbrechens. Am Mittwoch erhöhte die Polizei die offizielle Zahl der Todesopfer auf 80, und inzwischen hat sie erklärt, man werde erst im nächsten Jahr eine genaue Zahl nennen können. Diese gleichgültige Behandlung verdeutlicht die Verachtung der herrschenden Klasse gegenüber den Bewohnern des Grenfell Tower. Sie waren kaum mehr als „Kollateralschäden“ in einem Krieg der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse und die Armen.
Am Mittwoch hinderten die kommunalen Behörden Überlebende von Grenfell daran, an einem Treffen der Stadtteilverwaltung von Kensington und Chelsea teilzunehmen, bei dem ein Bericht über den Brand vorgetragen werden sollte. Zur Begründung hieß es, es bestehe die „Gefahr von Störungen“. Die Regierung von Theresa May bereitet derweil eine Untersuchung vor, die lediglich die Komplizenschaft der Tory- und Labour-Politiker vertuschen soll. Sie sind die Verantwortlichen für die jahrzehntelange Deregulierung und Austerität, die diese Katastrophe ausgelöst haben.
London hat sich zu einer Welthauptstadt der Finanz- und Immobilienspekulationen entwickelt, in der noch dazu 50 Milliardäre leben. Gleichzeitig wurden Arbeiter und Geringverdiener in Todesfallen wie den Grenfell Tower gezwängt, in dem es nicht einmal die grundlegendsten Sicherheitsvorkehrungen wie Rauchmelder, Sprinkleranlagen oder alternative Fluchtwege gab.
Bedenken der Bewohner wegen der fehlenden Sicherheitsmaßnahmen wurden von der Kommunalverwaltung ignoriert. Stattdessen wurde eine Fassadenverkleidung am Gebäude angebracht, um die Bedenken der bessergestellten Anwohner zu beschwichtigen. Sie betrachteten den Wohnturm als Schandfleck, der den Wert ihrer Millionen Pfund teuren Häuser und Anlageimmobilien verringern könnte.
Genau wie die Bewohner von London sind auch die Bewohner von Flint Opfer eines sozialen Verbrechens, dessen Motiv das wahnsinnige Profitstreben reicher Investoren und ihrer politisch vernetzten Komplizen war. In ihrem Falle haben Amtsträger der Regierung des millionenschweren Gouverneurs Rick Snyder sowie der Demokratische Finanzminister und frühere Investmentbanker Andy Dillon einen Plan zur Bereicherung von Unternehmen und reichen Anlegern ausgeheckt: den Bau einer neuen Wasserpipeline vom Huronsee, die das Wassersystem von Detroit umgeht, aus dem Flint seit Jahrzehnten sein Wasser bezogen hat. Die Wasserversorgung der Stadt erfolgt seither aus dem ungefilterten Wasser des verseuchten Flint River.
Genau wie in London haben auch in Michigan staatliche Beamte die Beschwerden der Einwohner von Flint ignoriert, das verfärbte und übelriechende Wasser würde ihre Kinder krankmachen. Durch das vergiftete Wasser starben mindestens zwölf Einwohner an der Legionärskrankheit, Erwachsene leiden unter einem schlechten Gesundheitszustand, Kinder unter lebenslangen Lernbehinderungen.
Obwohl Amtsträger bis hin zu Ex-Präsident Barack Obama seit mehr als drei Jahren Abhilfe versprechen, haben die Einwohner nichts davon gesehen. Stattdessen haben staatliche und kommunale Behörden die Wassersubventionen abgeschafft, Haushalten in großem Stil wegen Nichtbezahlung das Wasser abgedreht und stellen zunehmend die Verteilung von kostenlosen Wasserflaschen ein.
Anfang der Woche hat eine nicht gewählte Finanzprüfungskommission, die im Auftrag der Banken und Großinvestoren agiert, einstimmig beschlossen, ein einjähriges Moratorium für die Verhängung von Steuerschuldverschreibungen auf Häuser abzulehnen, deren Bewohner nicht für das weiterhin mit Blei und anderen Giften verseuchte Wasser bezahlen wollen. Wenn die Bewohner nicht zahlen, wird die Stadt ihre Häuser beschlagnahmen, um fast 85 Millionen Dollar Schulden an Anleiheninhaber zu zahlen, die von dem Pipelineprojekt profitieren wollten.
Grenfell und Flint sind keine Naturkatastrophen, sondern menschengemachte Verbrechen. Sie sind das Ergebnis von Jahrzehnten der Deregulierung, der Austerität und anderer prokapitalistischer Politik, die zu einer massiven Umverteilung und einer oligarchischen Konzentration von Reichtum geführt haben, wie es sie zuletzt im „Vergoldeten Zeitalter“ Ende des 19. Jahrhunderts gab.
Ereignisse wie diese werden auf der ganzen Welt alltäglich. In Pakistan starben am letzten Sonntag mehr als 150 verarmte Dorfbewohner, als sie austretendes Benzin aus einem verunglückten Tanklaster sammeln wollten, der plötzlich explodierte. In New York entgingen zahlreiche Passagiere einer U-Bahn nur knapp einer tödlichen Katastrophe, als ihr Zug entgleiste. Das antiquierte Signalsystem stammt noch aus dem Jahr 1904 – in einer Stadt, in der so viele Milliardäre leben wie nirgendwo sonst, auch wenn im letzten Jahr einer von ihnen ins Weiße Haus eingezogen ist.
1845 warf Friedrich Engels der britischen herrschenden Klasse in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ vor, sie betreibe „sozialen Mord“ durch faulige Wasservorräte, überfüllte Häuser und Krankheiten, die in Arbeitervierteln in Manchester und anderen Städten vorherrschten:
„Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, dass sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen...“
Im modernen kapitalistischen System des 21. Jahrhunderts hat man jeden Aspekt des Lebens, darunter auch das Wasser, „monetarisiert“ und zum Spekulationsobjekt gemacht. Für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit ist es dringend notwendig, die rechtswidrig erworbenen Gewinne dieser sozialen Mörder zu enteignen und die Verschwendung der Mittel der Gesellschaft für ihre Villen, Privatjets und Tropeninseln zu beenden.
Um die brennbare Außenfassade an tausenden von Wohngebäuden in Großbritannien und anderen Ländern zu beseitigen, um die Bleirohre in Flint und in ganz Amerika zu ersetzen, ist eine massive wirtschaftliche und soziale Offensive erforderlich. Die immensen Ressourcen für diese lebenswichtige Aufgabe werden sich nicht durch Appelle an das Gewissen der herrschenden Elite auftreiben lassen, wie es die Jeremy Corbyns und Bernie Sanders dieser Welt behaupten, sondern nur durch die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse für ein Ende des wirtschaftlichen und politischen Würgegriffs der Finanzparasiten und für die Abschaffung des kapitalistischen Profitsystems, auf dem ihr Reichtum beruht.