Das Entsetzen über den schwersten Wohnhausbrand in der jüngeren Geschichte Großbritanniens schlägt in hellen Zorn um. Tausende Demonstranten forderten am Freitag in London, die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe als Massenmörder zuzuführen.
Hunderte umstellten das Bezirksrathaus von Kensington und forderten in Sprechchören Gerechtigkeit für die Opfer. Die Beamten der Kommunalverwaltung verschanzten sich in dem Gebäude.
Premierministerin Theresa May musste während ihres Besuchs in Kensington unter schwerer Bewachung in einer Kirche bleiben und wurde schließlich weggejagt. Die Demonstranten buhten sie aus: „Schande!“, „Feigling!“
Diese Gefühle werden nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit von vielen Menschen geteilt. Millionen sind entsetzt über den Brand vom 14. Juni, der mindestens 100 oder sogar 150 Todesopfer forderte.
Besonders übel ist, dass der Ort des Geschehens, der Bezirk Kensington and Chelsea, zu den teuersten Wohngegenden Großbritanniens und der Welt überhaupt gehört. Doch wie in vielen anderen Vierteln der britischen Hauptstadt findet man hier neben extremem Reichtum auch blankes Elend.
Die sozialen Gegensätze sind so ausgeprägt wie kaum anderswo in London. Die Wohnanlage Lancaster West Estate, wo sich der Grenfell Tower befindet, liegt in Sichtweite zu den Villen von Multimillionären und Milliardären. In Kensington befindet sich die teuerste Straße im ganzen Land, die Victoria Road. Der Durchschnittspreis für ein Haus liegt hier bei acht Millionen Pfund.
Dieser Hintergrund verleiht den Ereignissen besondere politische Brisanz. Deshalb mauern die Polizei und die kommunalen Behörden. Sie haben, so unglaublich es klingen mag, die drängenden Fragen der Familien und Freunde der Betroffenen nach der wirklichen Zahl der Todesopfer bislang nicht beantwortet.
Grenfell ist mehr als eine Tragödie: Es ist ein Verbrechen. Die Opfer wurden nicht weniger gezielt ermordet, als wenn die Täter den Brand eigenhändig gelegt hätten.
Der Grund, weshalb sich das Feuer rasend schnell von einer einzigen Wohnung auf das gesamte Hochhaus ausbreiten konnte, waren Kosteneinsparungen ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Bewohner.
Das Feuer breitete sich über die Fassadenverkleidung aus, die letztes Jahr im Rahmen einer „Sanierung“ angebracht worden war. Am Freitag wurde bestätigt, was viele bereits vermutet hatten: das Dämmmaterial war entflammbar. Es wurde ausgewählt, weil es pro Quadratmeter zwei Pfund billiger war als die feuerbeständige Alternative. Die Einsparung belief sich auf ganze 5.000 Pfund.
Die Verantwortung für diese und andere lebensbedrohliche Entscheidungen lag bei der konservativen Bezirksverwaltung von Kensington and Chelsea und der von ihr beauftragten Wohnungsverwaltungsfirma Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation. Der Grenfell Tower hatte keinen zentralen Feuermelder, keine Sprinkleranlage und nur ein Treppenhaus als Notausgang. Jahrelang ignorierten die Behörden die Warnungen einer Mietervereinigung und der Anwohner, die Grenfell als unsicher und als „Todesfalle“ bezeichneten.
Diese verbrecherische Gleichgültigkeit hat tiefere gesellschaftliche Ursachen. Die Toten von Grenfell sind Opfer der Klassengegensätze und der „normalen“ Funktionsweise des kapitalistischen Systems.
London ist ein internationales Zentrum der Spekulation und des Finanzparasitismus. Der Immobilienmarkt spielt in diesem globalen Korruptionsnetz eine wesentliche Rolle. Grundstücke und Immobilien in der britischen Hauptstadt gehören zu den lukrativsten Geldanlagen der Welt. Nicht nur, dass in London 80 Milliardäre ihren Wohnsitz haben. 60 Prozent der Wolkenkratzer und Luxusvillen bzw. ‑appartments sind Eigentum von Unternehmen oder Privatpersonen aus dem Ausland, die sich selten oder nie darin aufhalten.
Um diesen Markt zu bedienen, werden die armen Bewohner vertrieben, vor allem, wenn sich Sozialwohnungen in einer begehrten Lage befinden. Das ist inzwischen so alltäglich, dass die Einwohner von Lancaster West Estate allen Grund zu der Anschuldigung haben, man habe bewusst nicht in den Grenfell Tower investiert, um sie zum Ausziehen zu zwingen.
Die geldgierige Oligarchie und ihre Lakaien in der Politik treffen täglich ähnliche und ebenso unsoziale Entscheidungen, die der Bevölkerung das Leben zur Hölle machen. Wohnungen und Schulen sind nicht mehr sicher. Krankenhäuser werden geschlossen, Betten werden abgebaut und wichtige Sozialleistungen gestrichen, weil irgendjemand irgendwo glaubt, sie seien nicht rentabel – und der Profit geht schließlich über alles.
Vor vierzig Jahren rechtfertigte Margaret Thatcher Sozialabbau, Privatisierungen und Deregulierungen, indem sie die Gesellschaft zur Fiktion erklärte: „There is no such thing as society.“ Heute befindet sich die Arbeiterklasse in einer sozialen Lage, wie man sie früher nur aus der sogenannten „Dritten Welt“ kannte. Dieser Niedergang zeigt, wie weit die Klassenspaltung und die soziale Ungleichheit in allen kapitalistischen Ländern vorangeschritten sind.
Angesichts des Brodelns in der Bevölkerung ordnete Premierministerin May am Donnerstag eine öffentliche Untersuchung des Grenfell-Brandes an. Auf diese Weise will sie den Hergang vertuschen und die Verantwortlichen schützen, vor allem die Angehörigen ihrer eigenen Regierung.
Die Schuldigen für diese Todesfälle müssen verhaftet und strafrechtlich belangt werden, damit die Wahrheit in Gerichtsverfahren aufgedeckt wird. Dazu gehört auch der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der Kürzungen bei der Feuerwehr und die Abschaffung gesetzlicher Auflagen durchgesetzt hat, und der Bezirksvorsitzende von Kensington and Chelsea Nick Paget-Brown.
Die Verantwortung für die jüngste Gentrifizierungswelle im Auftrag der Superreichen liegt bei führenden Tories wie Johnson, doch letztlich haben sich alle bürgerlichen Parteien schuldig gemacht, einschließlich der Labour Party, die in vielen Londoner Bezirken die Regierung stellt. Der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass er diesen Machenschaften keinen Riegel vorschob, obwohl er bei seiner Amtsübernahme versprochen hatte, die Wohnungskrise in London zu bekämpfen.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass dieser Brand mehr Todesopfer gefordert hat, als sämtliche Terroranschläge in Großbritannien seit Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ im Jahr 2001.
Bei allen Terroranschlägen der letzten zehn Jahre wurde der gesamte Sicherheitsapparat in Gang gesetzt. Die Polizei veranstaltete Razzien bei allen, die auch nur im Entferntesten mit dem jeweiligen Terroristen zu tun gehabt hatten. Sie wurden umgehend verhaftet und tagelang eingesperrt und verhört.
Doch nach dem Brand im Grenfell Tower wurde kein einziger Verantwortlicher festgenommen, geschweige denn angeklagt. Stattdessen verspricht die Regierung eine läppische Untersuchung, bei der nichts herauskommen wird!
Zu welchem Ergebnis die Ermittlungen der Polizei und die staatliche Untersuchung des Hochhausbrands auch kommen werden, die tieferen Ursachen dieses Massenmords aus Habgier werden sie nicht aufdecken. Sie liegen im Kapitalismus, der in seinem Scheitern für die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung nur unsagbares Elend, Tod und Zerstörung bereithält.
Der schreckliche Verlust an Menschenleben in London zeigt, wie dringend es ist, die Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm zu gewinnen und der Unterordnung aller Aspekte der Sozialpolitik unter die Interessen der Finanzbetrüger und Parasiten ein Ende zu setzen.