Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat die eigene Polizei wegen möglicher Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung angezeigt, weil sie versucht hat, Hintergründe des Attentats vom 19. Dezember 2016 zu vertuschen. Damals war der 23-jährige Anis Amri mit einem Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheider Platz in Berlin gerast und hatte zwölf Menschen getötet und 50 weitere verletzt.
Wie letzte Woche bekannt wurde, hätte das Landeskriminalamt Berlin (LKA) Amri, der wegen Terrorverdachts seit über einem Jahr von verschiedenen Geheimdienst- und Polizeibehörden überwacht wurde, wegen bandenmäßigen Drogenhandels ohne weiteres festnehmen und den Anschlag so verhindern können. Bisher hatte es immer geheißen, die Sicherheitsbehörden hätten nicht genügend Material gegen Amri gehabt, um ihn einzusperren.
Nach dem Anschlag und dem Tod Amris, der in Mailand von der italienischen Polizei erschossen wurde, hat das LKA dann offenbar Akten gefälscht, um die unterlassene Festnahme zu vertuschen. Das fand der frühere Bundesanwalt Bruno Jost heraus, der vor zwei Monaten von den Senatsparteien SPD, Grüne und Linke als Sonderermittler eingesetzt wurde.
Amris Verwicklung in die Drogenszene war zwar bekannt, aber laut dem bisher vorliegenden Bericht handelte es sich nur um kleine Delikte und nicht um bandenmäßige Kriminalität. Der vierseitige Bericht zählte auch nur sechs abgehörte Telefonate auf. Inzwischen weiß man, dass dieser Bericht erst am 17. Januar 2017, also rund einen Monat nach dem Anschlag, verfasst und dann auf den 1. November 2016 zurückdatiert wurde.
Anfang dieser Woche gab der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt dann bekannt, im Polizeicomputer sei nun ein zehn Seiten langer „großer Bericht“ zu Amri gefunden worden, der 73 abgehörte Telefonate dokumentiere, die bandenmäßigen Drogenhandel belegen. Anders als in dem gefälschten Bericht würden darin auch Mittäter genannt.
Innensenator Geisel versprach, man werde den Sachverhalt „aufklären“, die Neuigkeiten seien „bedrückend“. Sein Staatssekretär Torsten Akmann (SPD) versicherte, die entsprechenden Dokumente seien ihm und Geisel bis vergangene Woche nicht bekannt gewesen. Zudem kündigte er eine „Task Force“ innerhalb der Polizei an, die alle Akten nochmal überprüfen und Sonderermittler Jost informieren solle. Die gesamte Struktur beim LKA solle hinterfragt, das ganze System auf den Prüfstand gestellt werden. Kriminaldirektor Golcher aus der Direktion 6 werde die Task Force leiten.
Darüber hinaus beschloss die rot-rot-grüne Regierungskoalition einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der „seine Arbeit auf der Basis des Zwischenberichts des Sonderermittlers nach dem 3. Juli aufnehmen“ könne.
Doch alle Ankündigungen des rot-rot-grünen Senats, nun „aufzuklären“, sind Augenwischerei. Ohne die Ergebnisse des Sonderermittlers oder der Untersuchungskommission abzuwarten, spricht er in einer Pressemitteilung schon jetzt von „gravierenden Einzelfehlern der Sicherheitsbehörden“ und von „strukturellen Fragen auch im Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern“. Innensenator Geisel teilte am Montagvormittag mit, er habe einen Brief an alle 17.000 Polizisten in Berlin geschrieben und ihnen versichert, dass sein Vertrauen in die Berliner Polizei ungebrochen sei.
In Wirklichkeit deuten alle Indizien darauf hin, dass es sich nicht um „gravierende Einzelfehler“, sondern um ein bewusstes Vorgehen handelte.
Amri stand seit seiner Einreise nach Deutschland im Sommer 2015 unter Beobachtung verschiedener Polizei- und Sicherheitsbehörden. Er war den Behörden unter 14 verschiedenen Identitäten bekannt, sein Handy wurde überwacht, er selbst observiert. Er schloss sich einem islamistischen Netzwerk an, in dem mindestens zwei Spitzel des Staatsschutzes aktiv waren.
Im Frühjahr 2016 wurde er sogar von einem geheimen Informanten des Verfassungsschutzes nach Berlin gefahren., „Im Verlauf der nächsten Tage erklärte Amri, mittels Kriegswaffen (AK 47, Sprengstoff) Anschläge in Deutschland begehen zu wollen“, heißt es in einem Aktenvermerk, den die ARD-Sendung „Brennpunkt“ Ende Dezember letzten Jahres zitierte.
Auch als am 11. Juli 2016 vier Männer in einer Shisha-Bar in Berlin-Neukölln einen Mann niederstachen, wusste das LKA, dass Amri selbst mit einem „Fliesengummihammer“ zweimal auf das Opfer eingeschlagen hatte, weil sie sein Handy abhörte. Aber angeblich war auch hier die Beweislage „dürftig“, das Verfahren wurde eingestellt.
Generalbundesanwalt Peter Frank hat vor dem nordrhein-westfälischen Amri-Untersuchungsausschuss zugegeben, dass die Behörden oft Informationen zurückhalten, um ihre V-Leute zu schützen, die in der terroristischen Szene aktiv sind. Die wesentlichen Erkenntnisse gegen Amri stammten aus verdeckten Ermittlungen und seien oft nicht gerichtsverwertbar, behauptete er.
Außerdem heiße es vor Gericht: „Hose runter. Damit gewinnt auch die Verteidigung Einblick in die Akten. Es wird alles offengelegt.“ Die Vertrauensperson, die Erkenntnisse über Amri lieferte, hat laut Frank auch in mehreren wichtigen Ermittlungsverfahren eine Schlüsselrolle gespielt. So beim Vorgehen gegen das mutmaßliche Terrornetzwerk um den Salafistenprediger Abu Walaa, den Frank wenige Wochen vor dem Berliner Attentat mit einigen seiner engsten Mitstreiter verhaften ließ. Anis Amri, der mit Abu Walaas Netzwerk in Verbindung stand, befand sich nicht unter den Festgenommenen.
Der Verdacht liegt also nahe, dass Amri nicht verhaftet wurde, weil man die Quelle im Umfeld von mutmaßlichen islamistischen Terroristen nicht „verbrennen“ wollte oder weil Amri selbst diese Quelle war. Sollte letzteres der Fall sein, stellt sich die Frage, ob Amri seinen Terroranschlag nicht nur unter den Augen von Polizei und Geheimdiensten planen und verüben konnte, sondern Mitwisser oder Unterstützer im Staatsapparat hatte.
Nachdem unter Offizieren der Bundeswehr ein Terrornetzwerk aufgedeckt wurde, das offenbar Anschläge auf hohe Vertreter des Staates, linke Aktivisten und jüdische und moslemische Organisationen plante, kann eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden.
Der Fall Amri folgt einem internationalen Muster. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, die Anschläge des Jahres 2015 in Paris und des Jahres 2016 in Brüssel wurden alle von Tätern ausgeführt, die den staatlichen Sicherheitskräften seit langem bekannt waren und von diesen überwacht wurden.
Dasselbe gilt für die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Im Umfeld von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die als Kern der Terrorgruppe gelten, arbeiteten mindestens zwei Dutzend V-Leute von Polizei und Verfassungsschutz.
Die Anschläge wurden jeweils genutzt, um den Staatsapparat zu stärken oder Flüchtlingsgesetze zu verschärfen. Das war auch nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt so. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) reagierte nur zwei Wochen später mit der Forderung nach einer Umstrukturierung und Zentralisierung des Sicherheitsapparats. Inzwischen werden Flüchtlinge unter Terror-Generalverdacht gestellt und rigoros abgeschoben.
Bereits die NSU-Morde sind in dieser Weise genutzt worden. So war der jetzige Berliner Sonderermittler Jost 2012 Mitglied der Bund-Länder-Kommission zur Untersuchung der NSU-Morde. Deren Abschlussbericht legte dann die Grundlage, die Polizei- und Geheimdienstbehörden finanziell, strukturell und personell zu stärken und ihre Zusammenarbeit zu vertiefen.
Die Berliner Sicherheitsbehörden haben in dieser Hinsicht einen besonders üblen Ruf. Berüchtigt ist der Fall von Ulrich Schmücker, eines Terroristen und V-Manns des Berliner Verfassungsschutzes, der 1974 ermordet wurde. Der Prozess gegen seine mutmaßlichen Mörder wurde nach vier Strafverfahren und 591 Verhandlungstagen 1991 eingestellt, weil er, wie die Richterin offiziell feststellte, vom Verfassungsschutz und mindestens zwei Staatsanwälten vielfach manipuliert und massiv behindert wurde. Unter anderem wurden Beweismitteln unterdrückt.
Auch im Umfeld des NSU war die Berliner Polizei mit eigenen V-Leuten präsent. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass das LKA Berlin den ehemaligen Deutschland-Chef der im Jahr 2000 verbotenen Neonazi-Organisation „Blood & Honour“ in den 1990er Jahren an das Bundesamt für Verfassungsschutz vermittelt haben soll. „Blood & Honour“ war Teil des NSU-Netzwerks. Die dort organisierten Neonazis versorgten die Haupttäter mit Geld, Pässen und Wohnungen. Der ehemalige B&H-Spitzenfunktionär Jan Werner war mit der Beschaffung einer Waffe für den NSU beauftragt worden.
Das LKA Berlin führte auch Thomas Starke von 2000 bis Anfang 2011 für mindestens elf Jahre als V-Mann. Der B&H-Aktivist Starke besorgte dem NSU nicht nur den ersten Sprengstoff, rund ein Kilo TNT, sondern nach seinem Abtauchen auch die erste Unterkunft in Chemnitz. Zwischen 2001 und 2005 berichtete Starke (Kennnummer „VP 562“) dem LKA bei 38 Treffen mindestens fünf Mal über die drei und deren Unterstützer-Umfeld.
Fasst man alle Erkenntnisse der letzten Jahre zusammen, spricht alles dafür, dass in Polizei und Geheimdiensten ein „Staat im Staat“ nach seiner eigenen rechtsextremen Agenda agiert und sich jeder Kontrolle entzieht. Die Berliner Landesregierung aus SPD, Linkspartei und Grünen deckt dies ab, indem sie versucht, diese Frage zu unterdrücken.