De Maizière fordert EU-Truppe im Süden Libyens

Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) will europäische Soldaten an der Südgrenze Libyens stationieren. Gemeinsam mit dem italienischen Innenminister Marco Minniti (PD) fordert er in einem Brief an die EU-Kommission vom 11. Mai, eine EU-Mission an die Grenze zwischen Libyen und Niger zu entsenden.

Die Innenminister begründen ihre Pläne mit der angeblichen Sorge um Flüchtlinge. Bis Mitte April seien schon 42.500 Migranten über das Mittelmeer an die Küsten Italiens gelangt. „Wir müssen verhindern, dass hunderttausende Menschen, die sich in den Händen von Schmugglern befinden, erneut ihr Leben in Libyen und im Mittelmeer riskieren“, zitiert die Welt am Sonntag aus dem ihr vorliegenden Schreiben.

Diese angebliche Sorge um Flüchtlinge ist zynisch und verlogen. In der Tat sind allein in diesem Jahr schon über 1300 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Aber der Plan der Innenminister sieht vor, diese Migranten, die angeblich vor dem Massengrab Mittelmeer bewahrt werden sollen, stattdessen in die Wüste Sahara zurückzutreiben. Dabei übertrifft die Zahl der Flüchtlinge, die in der Sahara umkommen, wahrscheinlich schon heute die Zahl der im Mittelmeer Ertrunkenen.

Über Todesfälle auf der Landroute gibt es praktisch keine belastbaren Daten. Die Organisation 4mi des dänischen Flüchtlingsrats hat im letzten Jahr 1300 Migranten befragt, die den Weg vom Horn von Afrika über den Sudan an die Mittelmeerküste zurückgelegt hatten. Sie berichteten über insgesamt 1245 Menschen, die während des Marsches durch die Wüste starben. Da viel mehr Menschen diese Route in derselben Zeit zurücklegten, muss die wirkliche Zahl erheblich höher liegen. Doch die Aussagen machen deutlich, dass fast jeder Befragte mit ansehen musste, wie andere Migranten starben.

Die häufigsten Todesursachen in der Wüste sind Erkrankung, Verhungern und Verdursten sowie Schießereien und Folter. „Man kann wohl sicher annehmen“, so die Studie, „dass die Zahl der Migranten und Flüchtlinge, die sterben, ehe sie die Küsten Ägyptens oder Libyens erreichen, sogar noch höher ist als die Zahl der Toten auf See.“

Nun haben die europäischen Innenminister ausdrücklich die libysch-nigrische Grenze als Zielort ihrer geplanten EU-Mission erwähnt. „Das Ziel ist, schnellstmöglich eine EU-Mission an der Grenze zwischen Libyen und Niger aufzubauen“, heißt es in dem Brief Thomas de Maizières und Marco Minnitis an die EU-Kommission. Der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), der das Vorhaben ausdrücklich unterstützt, erklärte: „Wenn man es schafft, den Zustrom an Libyens Südgrenze zu kappen, dann wird das zu einer massiven Dezimierung der auslaufenden Flüchtlingsboote in Richtung Europa führen.“

„Dezimierung der Boote in Richtung Europa“ – das heißt also, es geht gar nicht darum, zu verhindern, dass Migranten „ihr Leben in Libyen und im Mittelmeer riskieren“ (wie de Maizière und Minniti schreiben). Laut Sobotka geht es darum, die Zahl jener zu reduzieren, die in Europa eintreffen. Aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit.

Denn mit einem Blick auf die Karte stellt sich sofort die Frage: Warum ausgerechnet die libysch-nigrische Grenze? Es gibt doch mit Niger, Tschad und dem Sudan drei Länder an der Südgrenze Libyens. Die meisten Flüchtlinge kommen im Übrigen von Südosten, vom Horn von Afrika, von Eritrea, Äthiopien und Somalia durch den Sudan nach Libyen. Warum also die südwestliche Grenze?

Die Frage ist leicht zu beantworten: In Wirklichkeit geht es um Öl und Erdgas, und diese liegen vor allem im westlichen Fessan und nicht in Südost-Libyen. Und es geht um den strategischen Zugang zu Zentralafrika, das an Bodenschätzen ebenfalls reich ist. Es geht darum, so frühzeitig wie möglich strategisch wichtige Positionen militärisch zu besetzen.

In Libyen tobe „ein Kampf um die Verteilung von Öl, von Geld, von Macht im Lande“, gab vor einigen Monaten Martin Kobler, der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, freimütig zu.

Das war schon vor sechs Jahren das Motiv für den Nato-Bombenkrieg gegen Libyen und für den Mord an Muammar Gaddafi, dem damaligen Staatschef. Dieser Krieg zerschlug einen relativ stabilen Staat, der eine hochentwickelte Infrastruktur und das beste Sozialsystem Afrikas aufwies. Auf den Trümmern des Gaddafi-Staats breiteten sich Chaos und Bürgerkrieg aus, bewaffnete Milizen traten auf, und die Flüchtlingszahlen nahmen sprunghaft zu.

Seither vollzieht sich ein heimlicher Aufmarsch, an dem die Truppen von Afrikas alten Kolonialherren teilnehmen. Italien hat eine bewaffnete Einheit am Flughafen von Misrata und hunderte Spezialkräfte in Tripolis stationiert. Ein italienisches Amphibienkriegsschiff schwimmt im Golf von Sirte. Frankreich sichert die Uran-Vorkommen im benachbarten Niger mit französischen Truppen. Großbritannien ist zurzeit, wie der Journalist Mark Curtis aufdeckte, an insgesamt sieben verdeckten Kriegen in Nahost und Nordafrika beteiligt.

Die EU stellt gemeinsam die Operation Sophia im Mittelmeer, die sich zur Aufgabe macht, die libysche Küstenwache aufzubauen und auszurüsten, obwohl Teile der Küstenwache erwiesenermaßen selbst das Schleusergeschäft betreiben. Und die USA bombardieren die Region um Sirte, einen Stützpunkt des IS, seit Monaten von Italien aus und bereiten ihre eigene Invasion in Libyen vor.

Die von den Westmächten eingesetzte nationale Einheitsregierung in Tripolis unter Fayiz as-Sarradsch hat die Unterstützung der EU, der UN, Deutschlands und Italiens, während General Haftar im Osten seine Waffen von Ägypten und Russland bezieht. Haftar ist wichtigster Repräsentant des östlichen Parlaments von Tobruk und Chef der Libyschen Nationalarmee (LNA), die einen Großteil des Ölhalbmonds von Ras Lanuf bis Bengasi kontrolliert.

Deutschland unterhält seit über zwei Jahren Truppen in Mali. In Libyen hat die deutsche Wirtschaft eigene Ölinteressen mit der größten deutschen Energieholding Wintershall, einer BASF-Tochter, die im Land acht Ölfelder betreibt. Seit dem Nato-Krieg 2011 musste Wintershall die Ölförderung wiederholt einstellen und reduzieren, und aktuell liegt sie im Clinch mit der libyschen Nationalen Ölgesellschaft NOC, mit der sie bisher zusammenarbeiten konnte.

Die Region Fessan und das libysch-nigrische Grenzgebiet sind von großem strategischem Interesse. Hier haben die Stammesführer der Tuareg, der Tibu und anderer Stämme das Sagen. Nach dem Sturz Gaddafis flohen viele Tuareg in die angrenzenden Länder Niger und Mali, und ihre Waffen, die sie als Kämpfer Gaddafis besaßen, nahmen sie mit. In der Folge flammten alte Rivalitäten zwischen Tuareg und Tibu-Stämmen wieder auf.

Auch decken sich die Stammesgebiete der Tuareg keineswegs mit den willkürlich gezogenen Grenzen aus der einstigen Kolonialherrschaft, sondern reichen über Libyen hinaus nach Algerien, Niger und Mali. In diesen Gebieten kommt es seit sechs Jahren immer wieder zu Konflikten, denn hier geht es nicht so sehr um Gewinne aus der Schleusertätigkeit, als vielmehr um reiche Bodenschätze.

Im Brief von de Maizière und Minniti an die EU-Kommission heißt es: „Um spezifische Unterstützungsmaßnahmen entwickeln zu können, müssen wir dringend die aktuellen Bedürfnisse in dem Land durch so genannte ‚fact-finding missions‘ ermitteln.“

Italien hat damit schon im März begonnen: Es hat das Terrain sondiert und zwölf Stammesführer aus dem Fessan nach Rom zu Gesprächen eingeladen. Dort gelang es Innenminister Minniti, ihre Zustimmung zu einem Deal über die künftige Grenzmission zu erhalten. Währenddessen versuchte der italienische Außenminister Angelino Alfano, die Zustimmung Sarradschs bei einem Besuch in der Hauptstadt Tripolis einzuholen.

Diese Vereinbarung hat jedoch der Nationale Rat der Tribu kurz danach, am 6. April, rundheraus zurückgewiesen. Kategorisch ließen die Stammesführer wissen, sie würden eine offene Einmischung Italiens in die inneren Angelegenheiten Libyens auf keinen Fall tolerieren.

Auch haben die Libysche Nationalarmee und die Nationale Einheitsregierung von Tripolis im April vereinbart, den Versuch einer „wirklichen Einheitsregierung“ zu wagen, um ausländischen Einmischungen zuvorzukommen. So fand in Abu Dhabi am 2. Mai erstmals seit über einem Jahr ein Treffen zwischen dem LNA-Chef General Haftar und Fayiz as-Sarradsch statt.

Der Frieden war nur von kurzer Dauer. Am Freitag dem 18. Mai stürmte die mit dem Rat in Tripolis verbündete Misrata-Brigade den LNA-Hauptstützpunkt im Fessan und massakrierte über 140 Personen, darunter auch Zivilisten. Damit besteht die akute Gefahr, dass der Bürgerkrieg erneut und noch heftiger wieder ausbricht.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in einer einstimmig verabschiedeten Resolution vor einer Eskalation der Kämpfe im Süden Libyens gewarnt. Am 18. Mai befassten sich nun die Innenminister Europas bei einem Brüsseler Treffen mit dem libyschen Thema.

Michael Gahler, CDU-Europaabgeordneter, hat erklärt, er halte es für durchaus möglich und sinnvoll, Beamte aus Europa „zum Schutz der libyschen Südgrenze“ zu entsenden. In einem Interview mit dem Deutschlandradio äußerte er die Bereitschaft, mit bewaffneten Truppen in Libyen einzudringen.

Gahler sagte, es genüge nicht, Grenzbeamte hinzuschicken. Man müsse auch „einen Schutz dazugesellen, damit die überhaupt ihre Tätigkeit machen“, weil sich die „hochkriminellen Strukturen“ vor Ort wehren werden. Außerdem sei „die Sahara ist lang und breit“. Wenn an der libysch-nigrischen Grenze etwas installiert werde, sei „in Mali oder in Burkina Faso … immer noch nichts geschehen, und dort gibt es auch Stammesaktivitäten, die dort sehr an dem Geschäft mit den armen Menschen interessiert sind.“

Damit macht Gahler den kriminellen und abenteuerlichen Charakter der geplanten Mission jenseits jedes UN-Mandats deutlich, die sich schnell zu einem größeren Krieg ausdehnen kann.

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