Es ist hinlänglich bekannt, dass das Ancien regime vor der Französischen Revolution von 1789 weder willens noch in der Lage war, den feindlichen Ausbruch aktiv zu verhindern, der es schließlich hinwegfegen sollte. Diese Unfähigkeit war nicht das Ergebnis psychologischer oder persönlicher Unzulänglichkeiten einzelner Mitglieder der herrschenden Klasse. Sie wurzelte vielmehr in der Klassenstruktur der Gesellschaft.
Ein ähnliches Phänomen ließ sich auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos beobachten, das am letzten Freitag zu Ende ging. In dem Schweizer Nobelskiort versammeln sich alljährlich Vertreter der führenden wirtschaftlichen und politischen Eliten des Weltkapitalismus.
Das Treffen war dem Anstieg sozialer Ungleichheit gewidmet, wie auch der zunehmenden Revolte gegen die soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung, für welche die Damen und Herren in Davos verantwortlich zeichnen.
Die Atmosphäre war eine Mischung aus Fassungslosigkeit über den anhaltenden Zerfall der globalen Ordnung und Angst vor den Konsequenzen. Kein Teilnehmer hatte irgendwelche Maßnahmen anzubieten, die geeignet wären, eine Verbesserung herbeizuführen. Dazu waren die Anwesenden viel zu sehr bemüht, sicherzustellen, dass nichts und niemand ihren Interessen zu nahe kommt.
Der langjährige Teilnehmer William Browder, Mitgründer der Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management, brachte die kollektive Verunsicherung über den weiteren Lauf der Dinge auf den Punkt, als er sagte: „Zum ersten Mal gibt es absolut keinen Konsens. Alle starren gebannt in den Abgrund.“
Die New York Times veröffentlichte einen Artikel von Peter Goodman mit der Überschrift: „Davos: Elite sorgt sich bei Qualitätswein und Häppchen um die Ungleichheit.“ Er enthielt einige scharfe Beobachtungen und eine lebhafte Schilderung der Veranstaltung. Bei zahllosen Diskussionsrunden ging es darum, wie sich der Kapitalismus „reformieren“ lässt, und wie man es schafft, dass die Globalisierung funktioniert.
Goodman schrieb: „Bezeichnenderweise gab es ein Thema, über das niemand sprach: wie Arbeiter zu ermutigen seien, bessere Löhne auszuhandeln und den Reichtum von oben nach unten zu verteilen.“
Goodman gab einen Grund für die Furcht an, die die Diskussionen in Davos beherrschte: „Wenn es stimmt, dass sich die Welt in der Gewalt einer populistischen Bewegung befindet, dann werden die Mistgabeln sich wohl nicht damit begnügen, nur auf uns zu zeigen.“ Wie er schrieb, erfreuen sich die Eliten in Davos eines immer größeren Teils des Gesamtreichtums, während „die Einkommen der armen Haushalte und der Mittelschicht stagnieren und sinken“.
„Doch die Lösungen, die Anklang finden“, heißt es weiter bei Goodman, „sind offenbar darauf ausgelegt, den Konzernen und den reichsten Personen jedes Opfer zu ersparen. Als sei es möglich, die Ungleichheit zu verringern und gleichzeitig jenen an der Spitze alles, was sie heute besitzen, zu belassen.“
Ian Goldin, Professor für Globalisierung an der Universität Oxford, formulierte in seiner Rede den Tenor, der die Foren und Seminare der viertägigen Veranstaltung bestimmte.
Er erklärte, niemals habe es „eine bessere Zeit gegeben, um darin zu leben, und trotzdem fühlen wir uns so niedergeschlagen“. Viele Menschen befürchteten, die heutige Zeit sei „besonders gefährlich“. Seine Rede erinnerte an den berühmten Einleitungssatz von Charles Dickens‘ Roman über die Französische Revolution, Eine Geschichte aus zwei Städten: „Es war die beste und die schlimmste Zeit…“
Goldin gab der Diskussion die Worte auf den Weg, in diesem „kostbarsten Moment“ der Menschheitsgeschichte bestehe die Aufgabe darin, die Globalisierung nachhaltig zu befestigen und sicherzustellen, dass „wir die hartnäckigen Probleme bewältigen können, die den Menschen Sorgen bereiten“.
Doch Goodman schrieb in seiner Zusammenfassung der anschließenden Diskussion: „Die Antwort der Unternehmensvorstände, die an der Diskussion teilnahmen, lässt sich grob auf folgende These reduzieren: Wer nicht von der Globalisierung profitiert hat, der muss sich eben mehr anstrengen und den Erfolgreichen nacheifern.“
Am zweiten Tag der Versammlung hielt Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds, eine Rede über die Krise in den Mittelschichten. Laut Goldman griff sie darin zu einem Wort, das man sonst kaum hörte: Umverteilung.
Sie erklärte: „Es gibt einiges, was man tun kann. Es erfordert vermutlich mehr Umverteilung, als im Moment stattfindet.“
Doch nach ihrer Intervention wandte sich die Unterhaltung laut Goodman „anderen Themen“ zu.
„Der Gründer der amerikanischen Investmentfirma Bridgewater Associates, Ray Dalio (der im Jahr 2015 lächerliche 1,4 Milliarden Dollar kassiert hatte), nannte als wichtigstes Mittel zur Belebung der Mittelschichten die ,Schaffung einer Atmosphäre, in der sich leicht Geld verdienen lässt'. Er propagierte vor allem den Abbau von Vorschriften, um die ,Lebensgeister' zu wecken.“
Das Ganze erinnert an die französische Königin Marie Antoinette, die als Reaktion auf die Brotunruhen vor der Revolution geäußert haben soll, die Bevölkerung solle doch Kuchen essen.
Das zweite wichtige Thema war die Amtsübernahme von US-Präsident Donald Trump und deren Auswirkungen. Im Wahlkampf hatten sich mehrere amerikanische Finanziers und regelmäßige Teilnehmer in Davos noch gegen Trump ausgesprochen. Inzwischen haben sie ihre Haltung geändert. Nichts ist stärker als der Geruch des Geldes, und Trump hat versprochen, die Regulierung des Bank- und Finanzwesen abzuschaffen.
Anthony Scaramucci, ein Hedgefonds-Betreiber, Stammgast in Davos und früherer Kritiker Trumps, hat sich der Trump-Regierung jetzt als öffentlicher Kontaktmann und Berater angeschlossen. Er musste vorzeitig aus Davos abreisen, um an der Amtseinführung teilzunehmen. Der milliardenschwere Investor Paul Singer, der sich bisher als „lautstarker“ Trump-Kritiker hervorgetan hatte, ist dieses Jahr erst gar nicht nach Davos gekommen, sondern blieb wegen der Amtseinführung in Amerika. Er hat eine Million Dollar dafür gespendet.
Die soziale und wirtschaftliche Ordnung der in Davos versammelten Oberhäupter verfällt zusehends, und das vielleicht beste Beispiel dafür war die Rede des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Man hatte ihn zum Standartenträger der kapitalistischen Globalisierung und des „freien Marktes“ bestimmt, da angesichts von Trumps Kurs auf Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus kein anderes Staatsoberhaupt bereit war, den Anfang zu machen. „Ich war mir nicht sicher, ob das Präsident Xi oder Ronald Reagan war“, kommentierte Thomas Farley, Präsident der New Yorker Börse, anschließend die Rede.
Goodman fasste das Treffen mit den Worten zusammen: „Der Slogan des Weltwirtschaftsforums lautet: ,Lasst uns die Welt verbessern.' Wie jedes Jahr ist dieser Slogan in Davos allgegenwärtig. Doch aller potentiellen Verbesserungen zum Trotz kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Teilnehmer den derzeitigen Zustand der Welt auch weiterhin mit Häppchen und reifem Bordeaux genießen werden, während ihre Privatjets startbereit auf sie warten. Soll heißen: die weltweite Populismus-Welle wird so schnell nicht an Kraft verlieren.“
Wie die herrschende Klasse auf der ganzen Welt, fürchten die Eliten in Davos, dass aus der aktuellen populistischen Wut ein bewusster politischer Kampf für das Programm des internationalen Sozialismus werden könnte.