Scottish National Party strebt zweites Referendum über Unabhängigkeit an

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon führte am 24. Oktober Gespräche mit der britischen Premierministerin Theresa May. Dabei ging es um die Krise, die die Referendumsentscheidung vom Juni für den Austritt Großbritanniens aus der EU ausgelöst hat. An den Gesprächen nahmen auch führende Vertreter der beiden anderen dezentralisierten Verwaltungen, Wales und Nordirland teil.

In Schottland stimmten 62 Prozent für den Verbleib in der EU, während in Großbritannien insgesamt nur 48 Prozent dafür stimmten. In Nordirland stimmte eine Mehrheit von 55 Prozent für den Verbleib.

In der Financial Times schrieb Sturgeon: „Ich akzeptiere, dass die Wähler in England und Wales für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Sie haben aber keineswegs dafür gestimmt, einen Teil des Vereinigten Königreichs aus dem Gemeinsamen Markt (der EU) auszuschließen.“

Die Gespräche fanden eine Woche nach der Ankündigung statt, wonach die SNP-Regierung einen Gesetzentwurf für ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands plane. Noch gibt es kein ein Datum oder genaueren Fahrplan für das Referendum. Auch verpflichtet der Entwurf die schottische Regierung zu nichts. Doch schon die Ankündigung genügt, um die Krise des britischen und europäischen Nationalstaatensystems voranzutreiben. Ein System, das durch die Folgen des Votums vom 23. Juni bereits jetzt ins Taumeln gerät.

Sturgeon führte aus, dass mit dem von Großbritannien abweichenden Abstimmungsergebnis in Schottland „eines der spezifischen Szenarien“ eingetreten ist, für das die schottische Regierung eine Wiederholung des Referendums zur Unabhängigkeit Schottlands vorgeschlagen hatte. Sie halte „daran fest, dass Schottland über die Unabhängigkeit erneut entscheiden kann, und zwar bevor das Vereinigte Königreich die EU verlässt, wenn die Interessen unseres Landes dies erfordern.“

Die Wenns und Abers in ihrer Erklärung zeigen die Verunsicherung im Zusammenhang mit dem EU-Austritt Großbritanniens und die Ratlosigkeit der SNP, wie sie darauf reagieren soll. Nach der Finanzkrise von 2008, dem anschließenden Verfall des Ölpreises und dem Einbruch der Ölförderung in der Nordsee ist die Vorstellung eines unabhängigen Schottlands und der damit verbundenen Instabilität für Geschäfts- und Finanzkreise äußerst unattraktiv.

Ohne eine vorherige Einigung mit der EU würde Schottland außerdem vom Gemeinsamen Markt ausgeschlossen oder müsste mit Sanktionen für den Handel innerhalb Großbritanniens rechnen, von dem es in hohem Maße abhängig ist. Eine Einigung mit der EU ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da regionale und separatistische Bewegungen auf dem ganzen europäischen Kontinent sich daran ein Beispiel nehmen würden. Das zeigt sich vor allem an Spanien, wo sich die seit Monaten anhaltende Regierungskrise durch das katalanische Unabhängigkeitsbestreben verschärft hat. Ähnliche Bewegungen gibt es in Belgien, wo das wallonische Regionalparlament gerade das milliardenschwere Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA, blockiert, das über fünf Jahren ausgearbeitet wurde.

Daher trat die SNP beim Referendum am 23. Juni auch für den Verbleib Großbritanniens als Ganzes ein, obwohl sie zwei Jahre zuvor für die Unabhängigkeit Schottlands geworben hatte. Sturgeon gehörte zu den prominentesten Fürsprechern der EU. Sie bot an, sich an einem „progressiven Bündnis“ mit der Labour Party zu beteiligen, was die zutiefst gespaltene Labour Party allerdings ablehnte.

Sturgeon und die SNP-Führung sehen den Gesetzentwurf für ein neues Referendum und die Drohung mit einer weiteren Abstimmung als Mittel, um London Zugeständnisse abzuringen, vor allem über die Bedingungen des Brexit. Sturgeon hat wiederholt gefordert, in Schottland ansässige Unternehmen müssten auch nach dem Abschluss der Austrittsverhandlungen Zugang zum Gemeinsamen Markt sowie das Recht haben, eine weniger restriktive Einwanderungspolitik zu betreiben, um den Bevölkerungsrückgang in Schottland in Grenzen zu halten.

In der Financial Times forderte Sturgeon einen „‘flexiblen‘ Brexit, bei dem einzelne Branchen der britischen Industrie weiterhin vom Gemeinsamen Markt und einer engen Beziehung zu EU-Handelspartner profitieren würden“. Ähnliche maßgeschneiderte Vereinbarungen sind auch im Gespräch für Nordirland und die City of London. So gibt es Überlegungen, jährlich einen bestimmten Milliardenbetrag an die EU zu zahlen, damit im Gegenzug London seine Stellung als führendes europäisches Finanzzentrum behalten darf.

Die Aussicht auf ein weiteres Referendum soll gleichzeitig die vielen Unterstützer der SNP besänftigen, die die Unabhängigkeit Schottlands um jeden Preis anstreben. Nach dem Referendum 2014, bei dem sich 55 Prozent für einen Verbleib in Großbritannien entschieden hatten, vervierfachte sich die Zahl der SNP-Mitglieder auf über 100.000. Die neuen Mitglieder kommen vor allem aus der Labour Party und stärken die Fraktion der hartgesottenen Separatisten. Die Grünen (Green Party) haben bereits mit der Kampagne für ein neues Unabhängigkeitsreferendum begonnen. Patrick Harvie, einer ihrer führenden Vertreter, behauptete letzte Woche, „das Vereinigte Königreich, für das die Menschen 2014 gestimmt haben, existiert nicht mehr.“

Die SNP will London gerade mit den Themen unter Druck setzen, bei denen May und ihr Pro-Brexit-Kabinett keine Zugeständnisse machen wollen. In den letzten Wochen wurde deutlich, dass die Konservativen, ungeachtet ihrer Zerrissenheit, von Elementen angeführt werden, die einen sogenannten „harten Brexit“ anstreben. Dabei sind sie bereit, den Zugang zum Gemeinsamen Markt zu opfern, um die Freizügigkeit von EU-Arbeitnehmern zu beenden und die City of London von der Kontrolle durch Regulierungsbehörden frei zu halten.

Wiederholt haben Minister ausländische Arbeiter angegriffen, weil sie Arbeitsplätze wegnähmen, „die britische Arbeiter besetzen sollten“, wie es Innenminister Amber Rudd formulierte. Ein - später wieder zurückgenommener - Vorschlag der Regierung, die Unternehmen sollten den Anteil ihrer ausländischen Beschäftigten offenlegen, stieß bei der Wirtschaft auf heftige Ablehnung. Führende Vertreter der EU machten daraufhin klar, dass der Zugang zum Gemeinsamen Markt nur möglich sei, wenn Großbritannien sich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU bekenne.

Die Beziehungen zwischen London und der EU verschlechtern sich rapide. In den Hauptstädten der EU setzt sich allmählich der Standpunkt durch, dass Großbritannien für die Krise des gesamten Kontinents, die sich durch das Brexit-Votum noch verschärft hat, bezahlen soll. Der ehemalige polnische Premierminister und heutige Präsident des Europarats, Donald Tusk, drückte es so aus: „Die einzige Alternative zu einem harten Brexit“, bei dem keine Einigung über den Zugang zum Gemeinsamen Markt und der Einwanderung erzielt wird, „ist kein Brexit“.

Um die ablehnende Haltung der EU zu überwinden, befürwortet die SNP immer entschiedener den imperialistischen Militarismus. So will sie sich für eine EU-Mitgliedschaft empfehlen. 2012 gab die Partei ihre Opposition zur NATO auf. Schon lange war auch klar, dass ihre Ablehnung des Trident-Nuklearprogramms bloße Rhetorik war. Bei Faslane-on-Clyde in Schottland, etwa 30 km von Glasgow entfernt, liegt die gesamte atomare U-Boot-Flotte Großbritanniens. Der Marinestützpunkt, wo über 7 000 Arbeiter und Servicepersonal beschäftigt sind, wird gerade für die neuen Trident-Nuklearraketen ausgebaut. Die SNP hat mit keinem Wort dagegen protestiert.

Harriet Baldwin, Staatssekretärin im britischen Verteidigungsministerium, bestätigte vor kurzem, dass alle acht neuen Type 26 “Global Combat Ships” der Marine in Glasgow gebaut werden. Eine der noch bestehenden Werften am Fluss Clyde ist in Govan, dem Wahlkreis von Sturgeon. Sturgeon, die Hillary Clinton bewundert, ergriff auch Partei für die gegen Russland gerichtete Außenpolitik Großbritanniens und der USA. „Das barbarische Assad-Regime und die Aktionen Russlands sind abstoßend“, tönte sie und verlor natürlich kein Wort darüber, dass Großbritannien und die USA in erster Linie die Verantwortung für die Katastrophe tragen.

Wohin dies führt, machte Stephen Gethins deutlich, Abgeordneter der SNP in Westminster und Mitglied des House of Commons Foreign Affairs Select Committee. Gethins deutete an, Schottland könnte das Instrument sein, womit die USA ihren schwindenden Einfluss in der EU nach dem Brexit kompensieren könnten: „Auch die USA haben ein starkes Interesse an der Europäischen Union, wie Präsident Obama während des Referendums über die Mitgliedschaft in der EU deutlich machte. Schottland würde als verbleibendes EU-Mitglied einerseits ein verlässlicher Partner in der EU sein und andererseits würde die Mitgliedschaft wesentliche Wettbewerbs- und strategische Vorteile für unser Land mit sich bringen.“

Gethins Vorschläge entlarven wieder einmal die Behauptungen der Pseudolinken in Großbritannien, die Verfechter der Unabhängigkeit Schottlands seien links und antimilitaristisch. Doch die USA sind ebenso wenig geneigt wie die EU, zugunsten der SNP ihre Beziehungen zu den NATO-Ländern Spanien und Belgien zu belasten.

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