Ein neues Erdbeben hat am Mittwochabend, den 26. Oktober, Mittelitalien erschüttert. Zwei heftige Erdstöße der Stärke 5,4 und 6,1 und über hundert Nachbeben erschütterten die gesamte Region der Marken und waren auch in Rom zu spüren. Da die Menschen noch wach waren und sofort ins Freie rannten, starb offenbar als einziger ein älterer Mann an einem Herzinfarkt.
Vor zwei Wochen hatten schon mehrere Beben die Region um den Gran Sasso heimgesucht und die Dörfer Amatrice, Accumoli, Pescara und Arquata zerstört. Fast dreihundert Menschen wurden getötet und über vierhundert verletzt. Auch dieses Mal stürzten wieder zahlreiche Gebäude ein, und die Menschen verbrachten die Nacht in Kälte und strömendem Regen. Jetzt benötigen weitere Tausende Menschen Notquartiere, Trinkwasser, Toiletten und warme Sachen und längerfristig ein neues Zuhause.
„Der Wiederaufbau hat Priorität“, hatte Ministerpräsident Matteo Renzi (PD) den Erdbebenopfern schon vor zwei Monaten versprochen. Allerdings sind selbst die Schäden früherer Beben bisher nicht behoben worden: So ist in L’Aquila, der Stadt des Erdbebens von 2009, auch sieben Jahre danach die Innenstadt noch eine einzige Baustelle und zum Teil eine Bauruine, verlassen und leer. Die Menschen leben zum größten Teil noch immer in provisorischen Unterkünften, die in den offenen Verfall übergehen. Die Balkone brechen ab, und durch Wände und Decken pfeift der Wind.
Renzi hat wegen des Erdbebens seine nationale Referendums-Werbetour unterbrochen und ist aus Venetien nach Rom zurückgekehrt. Die Abstimmung vom 4. Dezember könnte der Renzi-Regierung jedoch noch ein Beben ganz anderer Art bescheren: ein politisches Beben mit weit reichenden Folgen, nicht nur für Italien, sondern auch für das Schicksal der EU.
Im Referendum vom 4. Dezember wird in Italien über Renzis wichtigste Reform, die Verfassungsänderung, abgestimmt. Sie soll das parlamentarische Zweikammersystem abschaffen und die Entscheidungsprozesse im Parlament vereinfachen und beschleunigen. Mit der Reform will sich die italienische Regierung auf Kriegszeiten und kommende Klassenkämpfe vorbereiten.
Die Regierung folgt darin den Vorgaben des Finanzkapitals, das von den Ländern Südeuropas fordert, autoritäre Herrschaftsformen einzuführen, um die angeblich notwendigen „Reformen“ gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen. Renzi hat den Ausgang dieses reaktionären Referendums lange Zeit mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft und erklärt: „Wenn das Referendum scheitert, ist meine politische Zeit zu Ende.“
Renzi kann sich eines Sieges beim Referendum jedoch durchaus nicht sicher sein. Seine Politik der letzten Jahre und die Angriffe auf Arbeiter, Rentner und Jugendliche haben die sozialen Spannungen enorm verschärft. Einem Bericht der Caritas Italien vom 7. Oktober zufolge ist die Zahl der absolut Armen in acht Jahren von 1,8 Millionen auf 4,6 Millionen angestiegen. Die Armut betrifft mehr und mehr nicht nur den Süden Italiens, sondern auch die nördlichen Regionen. Wie es im Bericht heißt, betrifft sie „die ganze Gesellschaft und nicht nur einzelne Gruppen“.
Renzi hat mit seiner Schulreform „Buona Scuola“, der Arbeitsreform „Jobs Act“ und der Rentenreform grundlegende soziale Rechte zerschlagen. Seit Wochen kommt es immer wieder zu Streiks und Arbeiterprotesten gegen die Regierung. Im September streikten Paketzusteller und Lastwagenfahrer, Eisenbahner und das Flugpersonal von Alitalia. Am 15. September wurde in Piacenza ein ägyptischer Arbeiter von einem Streikbrecher-Lastwagen überfahren und getötet, worauf tagelang Zehntausende protestierten.
Zuletzt nahmen am Freitag, dem 21. Oktober, weit über eine Million Arbeiter in ganz Italien an den Streiks der Basisgewerkschaften teil, die auch mehrere Fiatwerke, besonders das FCA-Werk Pomigliano bei Neapel, in Mitleidenschaft zogen.
Die Basisgewerkschaften (Cobas, Cub, Usb und andere) haben wachsenden Zulauf, weil die traditionellen Gewerkschaften die Arbeits- und Marktreformen der Renzi-Regierung unterstützen. Gewerkschaftsbürokraten wie Cgil-Chefin Susanna Camusso teilen im Grunde Renzis Ansicht, dass die italienische Wirtschaft auf Kosten der Arbeiter fit gemacht werden müsse. Bei Fiat wirft die größte Metallgewerkschaft Fiom, die zur Cgil gehört, alle Arbeiter aus der Gewerkschaft, die sich an einem Boykott der erzwungenen Samstagschichten beteiligen.
So ist es kein Wunder, dass zehntausende Arbeiter die traditionellen Gewerkschaften verlassen und sich den „alternativen“ Basisgewerkschaften zuwenden. Doch auch diese Organisationen, die von pseudolinken Konzepten dominiert sind, gehen in ihrer Politik über den gewerkschaftlichen und nationalen Rahmen nicht hinaus. Sie verschließen die Augen vor der der angespannten politischen Situation, die ein internationales und revolutionäres Programm erfordert.
Sie überlassen den rechten Kräften die politische Initiative.
In der Tat mobilisieren die Lega Nord, die Faschisten und andere Rechtsradikale massiv gegen das Referendum. Lega Nord-Chef Matteo Savini hat für Mitte November zur Blockade mehrerer norditalienischer Städte, wie Mailand und Bologna, aufgerufen, angeblich um „Italien zu befreien“ und die „Einwanderung zu stoppen“. Sie haben auch die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo aufgefordert, an der Blockade teilzunehmen.
Beppe Grillo hat ebenfalls ein Nein-Votum im Referendum ausgegeben. Grillo könnte mit seiner Fünf-Sterne-Bewegung der eigentliche Hauptsieger sein, wenn Renzi am 4. Dezember das Referendum verlieren sollte. Das bedroht die Existenz der EU.
Beppe Grillo ist in der EU der wichtigste Verbündete von Nigel Farage, dem Hauptbefürworter des Brexit vom vergangenen Juni. Farage war der Wortführer der rechten Kräfte, die am 23. Juni eine Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erreichten. Auch Grillo fordert den Austritt Italiens aus der EU und aus dem Euro.
So könnte ein Sieg der Referendums-Gegner in Italien die Krise der EU weiter verschärfen, die schon jetzt von Spaltungstendenzen und Konflikten wie dem Flüchtlingsstreit und dem Ceta-Konflikt gezeichnet ist. Nach den Spardiktaten in Griechenland, Spanien und Italien betrachten wachsende Bevölkerungsschichten die EU als Hauptverantwortliche für die Angriffe auf Löhne, Arbeitsplätze und Sozialleistungen.
Die Fünf-Sterne-Bewegung greift die EU allerdings nicht von links, vom Standpunkt der europäischen Arbeiterklasse, sondern von einem rechten, nationalistischen Standpunkt an. Eine nationalistische Lösung würde die Krise in Italien nur verschlimmern. Dies zeigt schon die tiefe Krise der italienischen Banken, die sich am Rande des Zusammenbruchs befinden. Die italienischen Banken sind mit faulen Krediten in Höhe von über 360 Milliarden Euro belastet.
Am 27. Oktober wurde die Problembank Monte dei Paschi di Siena zum dritten Mal in einer Woche vom Handel ausgesetzt. Ihr Aktienkurs bewegt sich wie eine extreme Fieberkurve, und ein Sanierungsplan, dem die Gewerkschaft zugestimmt hat, sieht jetzt die Entlassung von 2600 Beschäftigten und die Schließung von 500 Filialen vor.
In dieser Situation versucht Matteo Renzi, sich als Vertreter italienischer Interessen gegen die EU aufzuspielen, um sich für sein Referendum stark zu machen. Im aktuellen Streit über den italienischen Haushalt fordert er die EU-Kommission ultimativ auf, Italien das geplante Defizit zu bewilligen.La Repubblica brachte ein prominentes Interview mit Wirtschaftsminister Pier Carlo Padoan, in dem dieser die EU-Kommission warnte: „Sollte die EU unser Budget zurückweisen, wäre das der Anfang vom Ende."
Im Haushaltentwurf für 2017 ist ein Defizit für das kommende Jahr über 2,3 Prozent der Wirtschaftsleistung vorgesehen. Die EU billigt aber Italien – wie auch anderen hochverschuldeten EU-Mitgliedsländern – nicht die übliche Höchstgrenze von drei Prozent, sondern nur maximal 2,2 Prozent zu.
Renzi besteht jedoch darauf, ein flexibleres Budget abzuschließen, und begründet dies mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus Afrika und der großen Kosten für die Behebung der Erdbebenschäden. Am Tag des Erdbebens hat er im Fernsehen erklärt, ab sofort werde er nur noch „die Bedürfnisse der italienischen Bürger, aber nicht die der Brüsseler Technokraten“ berücksichtigen.
Renzis Versprechungen sind – wie immer – vollmundig und nicht ernst zu nehmen. Den Rentnern hat er eine deutliche Rentenerhöhung versprochen, auch will er die Sozialhilfen um 500 Millionen aufstocken. Das wäre kaum ein Tropfen auf den heißen Stein, denn um die grassierende Armut nur notdürftig zu beheben, wäre nach offiziellen Zahlen ein Sofortprogramm von mindestens zwei Milliarden Euro erforderlich.