Die Fahndung nach einem mutmaßlichen syrischen Bombenbauer mündete am Wochenende in eine umfassende Polizeistaatsübung.
Im Morgengrauen des 8. Oktober umstellten schwer bewaffnete Einheiten der sächsischen Spezialeinsatzkräfte (SEK) einen Wohnblock in der Chemnitzer Fritz-Heckert-Siedlung. Ihr Auftrag: der Zugriff auf einen mutmaßlichen Terrorverdächtigen, den 22-jährigen Dschaber al-Bakr aus Syrien, den die Geheimdienste seit Wochen observiert hatten.
Kurz nach sieben Uhr verließ ein junger Mann das Haus. Polizisten riefen ihn an und gaben einen Warnschuss ab, ließen ihn aber entkommen, obwohl es sich höchst wahrscheinlich um den Gesuchten handelte.
Darauf riegelte die Polizei das ganze Viertel ab. Aberhunderte Beamte von Polizei, SEK, Bundespolizei, Landeskriminalamt und weiteren Behörden beteiligten sich an einer bundesweiten Großfahndung. In der City von Chemnitz, aber auch in Dresden zogen bis an die Zähne bewaffnete Polizeikolonnen auf. Der Hauptbahnhof Chemnitz wurde stundenlang ganz gesperrt. An mehreren Flughäfen, darunter Schönefeld und Tegel in Berlin, wurden massive Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Im ganzen Bundesgebiet und auch europaweit lief die Fahndung nach al-Bakr.
In Chemnitz bereiteten die Polizisten derweil den Sturm der observierten Wohnung vor. Sie weckten alle Hausbewohner und evakuierten mehrere Dutzend Menschen mit bereitgestellten Bussen. Dann sprengten sie die Wohnungstür auf. In der Wohnung fand sich, wie die Polizei berichtete, ein halbes Kilo des hochexplosiven Sprengstoffs TATP, daneben ein weiteres Kilo anderer Chemikalien, sowie Teile einer Rohrbombe.
Der Sprengstoff wurde später vor dem Gebäude in einer eigens ausgehobenen Grube zur Detonation gebracht. Die Hausbewohner durften auch am Montagabend, drei Tage nach der Räumung, immer noch nicht in ihre Wohnungen zurückkehren.
Am Sonntagnachmittag wurde ein Bekannter des Verdächtigen im Yorkviertel von Chemnitz festgenommen. Auch dort sprengten die SEK-Beamten die Wohnungstür auf und warfen laut Augenzeugen sogar eine Blendgranate über den Balkon durchs Fenster. Der ganze Block wurde weiträumig abgesperrt. Ein Anwohner berichtete der ARD-Sendung Tagesthemen: „Es kam immer mehr Polizei, Staatsschutz, das volle Programm… Da denkt man wirklich, man ist im Krieg.“
In der Nacht zum Montag wurde Dschaber al-Bakr schließlich festgenommen. Er war völlig unbewaffnet. Zwei syrische Landsleute, die er am Leipziger Hauptbahnhof um eine Schlafstelle gebeten hatte, hatten ihn mit nach Hause genommen. Als sie später von der Fahndung hörten, alarmierten sie die Polizei und übergaben den Beamten den gefesselten al-Bakr.
Dieser war schon seit Wochen vom Geheimdienst beobachtet worden. Er war im Februar 2015 in München als Flüchtling registriert worden und hatte im Juli letzten Jahres eine Genehmigung für seinen Asylantrag auf drei Jahre befristet erhalten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst hatten ihn observiert, angeblich weil er im Internet nach Rezepten für eine Rohrbombe gesucht haben soll.
Darüber gibt es bisher jedoch nur Andeutungen. Überhaupt strotzt der Fall von Mutmaßungen und ungeklärten Fragen, was ihn in einem höchst dubiosen Licht erscheinen lässt.
Weder ist bekannt, gegen welche Ziele sich al-Bakrs Vorbereitungen richten sollten, noch, auf welche Weise und wieso er sich überhaupt zum Attentäter entwickelt, bzw. „radikalisiert“ haben soll. Auf einer Pressekonferenz in der sächsischen Staatskanzlei in Dresden sagte Innenminister Markus Ulbig (CDU), es handle sich um den gleichen Sprengstoff „wie in Paris und Brüssel“. Vieles deute auf einen IS-Kontext, sagte auch Jörg Michaelis, Präsident des LKA Sachsen.
Wie es dem jungen Mann indessen möglich war, hochgefährliche Sprengstoffe zu organisieren und aufzubereiten, obwohl er doch intensiv observiert wurde – das wurde nicht erklärt. Auf der Pressekonferenz beantwortete der LKA-Präsident auf fast alle Fragen mit der stereotypen Antwort: „Das kann ich nicht beantworten, das ist Gegenstand der Ermittlungen, es tut mir leid.“
Die Medien nutzten den Fall von Anfang an, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. So gab es reihenweise Schlagzeilen wie: „Gesuchter Terrorverdächtiger von Chemnitz ist anerkannter Flüchtling“. Am Ende waren es jedoch zwei Syrer, die den zur Fahndung ausgeschriebenen jungen Mann in Leipzig festnahmen und der Polizei übergaben.
Wie bei andern ähnlichen Fällen fordern Politiker seither erneut gebetsmühlenartig die weitere Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten und eine bessere Kontrolle aller Flüchtlinge. Bundesinnenminister Thomas de Maizière verglich die „mutmaßlichen Anschlagpläne von Chemnitz“ mit den Anschlägen in Paris und Brüssel und erklärte, es herrsche eine „unverändert hohe Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus“.
Die CSU bekräftigte ihre Forderung nach einer lückenlosen Überprüfung aller Flüchtlinge. Parteichef Horst Seehofer sagte auf einer CSU-Vorstandssitzung in München, auch alle, die bereits im Land seien, müssten „unter Beiziehung unserer Nachrichtendienste“ überprüft werden. CSU-Innenexperte Stephan Mayer verlangte Präventivhaft für Verdächtige; die „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ müsse als Haftgrund eingeführt werden, sagte er im ZDF-Morgenmagazin. Er griff damit einen Vorschlag Innenminister de Maizières vom August auf.
Indessen fällt ins Auge, dass sich die polizeiliche Fahndung wie eine gewaltige Reality-Inszenierung darstellte. Die Polizei trat vor laufenden Kameras stark und brutal auf, um zu demonstrieren, dass sie eine gefährliche Lage voll im Griff habe. Die Öffentlichkeit soll so an die Präsenz schwer bewaffneter Sicherheitskräfte und eine umfassende Überwachung durch den Geheimdienst gewöhnt werden.
Gerade in Sachsen sind die Sicherheitskräfte durch ihre Nähe zur rechtsradikalen Szene stark diskreditiert. Allein im letzten Jahr gab es dort 57 gewaltsame Übergriffe gegen Flüchtlingsheime, von denen kaum einer aufgeklärt wurde. Der rechtsradikale Mob, der in Heidenau und Claußnitz weitgehend unbehelligt vor Flüchtlingsheimen randalierte, sorgte für bundesweite Schlagzeilen. Auch der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) residierte im sächsischen Chemnitz und organisierte von dort – umgeben von mindestens zwei Dutzend V-Leuten der Sicherheitskräfte – seine rassistischen Morde und Terroranschläge.
Erst vor einer Woche wurde die Verbindung zwischen sächsischer Polizei und rechtsextremer Szene wieder deutlich, als die Polizei einen unangemeldeten Pegida-Aufmarsch während der Feiern zur deutschen Einheit vom 3. Oktober duldete und begünstigte. Trotz eines faktischen Ausnahmezustands in der City durften die rechtsradikalen Aktivisten der versammelten Prominenz bis auf wenige Meter auf den Leib rücken. Die Polizei tolerierte faschistische Hetzparolen sowie ein Plakat mit einem Goebbels-Zitat und wünschte den Pegida-Anhängern einen „erfolgreichen Tag“.
Die spektakuläre Festnahme eines angeblichen IS-Terroristen, der seit Wochen beobachtet worden war, sollte wohl nicht zuletzt dazu dienen, den lädierten Ruf der sächsischen Polizei zu reparieren.