Die etablierten Parteien reagieren auf ihr katastrophales Wahlergebnis bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen mit einer scharfen Rechtswende. Während sich SPD, Linkspartei und Grüne darauf vorbereiten, das Programm von Sparpolitik, Flüchtlingshetze sowie innerer und äußerer Aufrüstung im Rahmen einer rot-rot-grünen Koalition fortzusetzen, übernimmt die CDU immer offener das Programm der rechtsextremen AfD.
Am Montag nutzte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das historisch schlechte Abschneiden ihrer Partei, um sich offen von der „Willkommenskultur“ zu distanzieren, die ihr fälschlicherweise zugeschriebenen wird. Vor Medienvertretern in Berlin stellte sie klar, dass ihr Satz „Wir schaffen das“ nie etwas mit der Solidarität gegenüber Flüchtlingen zu tun hatte. „Viel“ sei „in diesen eigentlich alltagssprachlichen Satz hineininterpretiert, ja sogar hineingeheimnist worden. So viel, dass ich ihn inzwischen eigentlich am liebsten kaum noch wiederholen mag“, so die Kanzlerin
Mit Blick auf den rechten Flügel in ihrer eigenen Partei und die ständige Kritik vom bayrischen Unionspartner CSU fügte Merkel hinzu: „Manch einer fühlt sich zudem von dem Satz provoziert - und so war der kurze Satz natürlich nie gemeint.“ Und dann: „Es soll sich die Situation nicht wiederholen, wie wir sie im vergangenen Jahr [...] hatten, mit einem in Teilen zunächst unkontrollierten und unregistrierten Zuzug – dann kämpfe ich genau dafür, dass sich das nicht wiederholt. [...] Die Wiederholung dieser Situation will niemand, auch ich nicht.“
Merkel bedauerte offen, dass sie und die Große Koalition vor einem Jahr nicht in der Lage gewesen seien, die Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens von Anfang an aus Deutschland fernzuhalten. Wenn sie könnte, würde sie gerne die Zeit zurückdrehen, um viele, viele Jahre, „um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns dann im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf“, erklärte Merkel. Nun wolle sie den AfD-Wählern ein Angebot machen, fügte sie provokativ hinzu.
Bereits in den vergangenen Wochen hatte Merkel zunehmend die Rhetorik der extremen Rechten innerhalb und außerhalb der Union übernommen. Auf einer Fraktionsklausur Anfang September erklärte sie laut einem Bericht der Welt, das Wichtigste sei nun, abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. „Für die nächsten Monate ist das Wichtigste Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“, zitierte das konservative Blatt die Kanzlerin. Wenige Tage später wurde Merkel mit dem Satz zitiert: „Deutschland wird Deutschland bleiben. Mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.“
Während bürgerliche Medien nun „vom neuen Ton der Kanzlerin“ (tagesschau.de) oder gar einem „Kurswechsel“ (Frankfurtter Allgemeine Zeitung) sprechen, vertrat Merkel in Wirklichkeit von Anfang an eine rechte und menschenverachtende Flüchtlingspolitik. Merkel und die Große Koalition arbeiteten mit Unterstützung von großen Teilen der Linken und Grünen im gesamten letzten Jahr fieberhaft an einer „gemeinsamen“ europäischen Lösung, um neue Flüchtlinge von Europa fernzuhalten und bereits angekommene brutal abzuschieben.
Am Dienstag brüstete sich der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete und Merkel-Unterstützer Karl-Georg Wellmann im Deutschlandfunk: „Der Flüchtlingsstrom ist gestoppt. Warum sagt eigentlich niemand, dass in diesem Jahr über 60.000 Flüchtlinge zurückgehen in ihre Heimat. Warum sagt niemand, dass über 100.000 Abschiebungen erfolgen.“
Die „Bratislava-Erklärung“, die auf dem EU-Gipfel am vergangenen Freitag verabschiedet wurde, gibt einen Eindruck von Merkels reaktionärer Flüchtlingspolitik. Der Abschnitt unter dem Titel „Migration und Außengrenzen“ ruft dazu auf, die Festung Europa zu verstärken, spricht Kriegsflüchtlingen das Recht auf Asyl ab und verlangt weitere Massendeportationen von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Das Papier verlangt den „vollkommene[n] Ausschluss einer Wiederholung der unkontrollierten Migrationsströme des letzten Jahres und [eine] weitere Verringerung der Anzahl irregulärer Migranten“ sowie das „Sicherstellen der vollständigen Kontrolle über die Außengrenzen“.
Als „konkrete Maßnahmen“ fordert das Papier unter anderem das „uneingeschränkte Festhalten an der Umsetzung der Erklärung EU-Türkei und [die] fortgesetzte Unterstützung der Länder des westlichen Balkans“. Darüber hinaus habe eine Reihe von EU-Staaten zugesagt, „sofortige Hilfe anzubieten, um den Schutz der Grenze Bulgariens zur Türkei zu verstärken und die Unterstützung für andere Mitgliedstaaten an den Außengrenzen fortzusetzen“.
Bereits auf einem Gipfel im März hatte die EU die türkische Regierung gegen Geld und diplomatische Zugeständnisse dazu verpflichtet, die Grenzen für Flüchtlinge komplett zu schließen und Flüchtlingsboote bereits aufzubringen, bevor sie überhaupt aus der Türkei auslaufen können. Die rechten Regierungen der Balkan-Staaten haben Zäune errichtet und das Militär mobilisiert, um die sogenannte Balkan-Route für Flüchtlinge hermetisch abzuriegeln.
Merkel und der EU geht das offenbar nicht weit genug. Bis zum Jahresende müsse die Union die „uneingeschränkte Fähigkeit der Europäischen Grenz- und Küstenwache zur schnellen Reaktion“ sicherstellen und Abkommen mit Drittstaaten aushandeln, „die verringerte Ströme irregulärer Migration und höhere Rückkehrquoten bewirken sollen“. Mit anderen Worten: Die berüchtigte Grenzschutzeinheit Frontex und andere staatliche Sicherheitskräfte sollen an den europäischen Außengrenzen noch massiver gegen Flüchtlinge vorgehen. Gleichzeitig will die EU ihre Zusammenarbeit mit den autoritären Regimes in Nordafrika und der Türkei ausweiten, um Flüchtlinge abzuwehren und sie direkt und ohne bürokratische Hürden wieder deportieren zu können, falls sie doch lebend Europa erreichen sollten.
Merkels Ausführungen und das Brüsseler Papier unterstreichen die Verlogenheit und Heuchelei der Bundesregierung und der EU, sie verteidige „europäische Werte“ wie Freiheit und Demokratie gegen Rassismus und Nationalismus. In Wirklichkeit verfolgt sie eine migrantenfeindliche Politik, die sich kaum von der des französischen Front National, der britischen UK Independence Party oder der deutschen AfD unterscheidet und Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen ist.
Das brutale Vorgehen der herrschenden Klasse gegen Flüchtlinge ist direkt mit der Militarisierung Europas nach innen und außen verbunden, die vor allem von Berlin forciert wird. So stellt die Bratislava-Erklärung auch „konkrete Maßnahmen“ zur militärischen Durchsetzung von Europas geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen gegen seine internationalen Konkurrenten in Aussicht. „Angesichts der Herausforderungen, die sich aus dem geopolitischen Umfeld ergeben“ solle der Europäische Rat „auf seiner Tagung im Dezember über einen konkreten Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung [...] entscheiden.“
Bereits im Vorfeld des Gipfels hatten die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr französischer Kollege Jean-Yves Le Drian in einem sechsseitigen Papier gefordert, die neue „EU Globale Strategie für Außen- und Sicherheitspolitik“ (EUGHS) umzusetzen. Diese fordere „ein stärkeres Europa in Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten, europäische strategische Autonomie und eine glaubwürdige, schnelle, effektive und reaktionsfähige“ europäische Militärpolitik, die „nun zügig in konkrete Aktionspläne übersetzt werden“ müsse. Unter anderem sieht das deutsch-französische Papier den Aufbau einer autonomen „europäischen Verteidigungsindustrie“ sowie „ein permanentes EU HQ [Hauptquartier] für militärische und zivile Missionen und Operationen“ vor.
Die europäische Arbeiterklasse muss die Hetze gegen Flüchtlinge scharf zurückweisen und der damit eng verbundenen Politik von Nationalismus, Militarismus und Krieg, die von allen Teilen der herrschenden Klasse vorangetrieben wird, ihr eigenes unabhängiges Programm entgegensetzen: Den Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Krieg und Kapitalismus und die Vereinigung Europas auf sozialistischer Grundlage.