In der slowakischen Hauptstadt Bratislava trafen sich unter wachsenden Spannungen innerhalb der Europäischen Union (EU) und zwischen der EU und den USA die Staatsführer der 27 verbliebenen Mitgliedsstaaten. Großbritannien nahm nicht mehr an diesem ersten Gipfeltreffen nach dem Brexit teil.
Der Gipfel bestätigte erneut die Vorschläge von Spitzenbeamten der EU, Deutschlands und Frankreichs, die als Reaktion auf den britischen Austritt aus der EU, die Union in ein gemeinsames Militärbündnis verwandeln und auch im Innern aufrüsten wollen. Grundzüge dieses reaktionären Programms sind in der vom Europäischen Rat veröffentlichten sogenannten „Bratislava-Erklärung“ umrissen. Auf weitere konkrete Maßnahmen konnten sich die verbliebenen EU-Länder nicht verständigen. Heftige Konflikte brachen aufgrund der Wirtschaftskrise in Europa und der Millionen Flüchtlinge aus, die vor den Kriegen im Nahen Osten und Afrika fliehen.
Der italienische Premierminister Matteo Renzi, Regierungschef der drittgrößten Wirtschaftsmacht in der Eurozone, weigerte sich, an der gemeinsamen Abschlusspressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten François Hollande teilzunehmen. Noch vor wenigen Wochen hatte sich Renzi mit Merkel und Hollande auf einem Flugzeugträger vor der italienischen Insel Ventotene getroffen, um nach dem Brexit zu einer geeinten EU aufzurufen und seit langem bestehende Pläne wiederzubeleben, die EU in ein Militärbündnis zu verwandeln. Gestern kritisierte Renzi jedoch den Gipfel und erklärte offen seine Ablehnung der deutschen und französischen Politik.
„Ich kann an keiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel und Hollande teilnehmen, solange ich nicht ihre Schllüsse bei Wirtschaft und Migration teile,“ sagte Renzi Reportern nach dem Treffen im Schloss von Bratislava. Er fügte hinzu: „Es ist keine Kontroverse, Italien sieht es nicht auf die Weise wie die anderen.“
Renzi, dessen Regierung aufgrund ihrer Sparmaßnahmen zutiefst unpopulär ist, kritisierte insbesondere Berlin, da es als Antwort auf die italienische Bankenkrise scharfe Ausgabenkürzungen forderte. „In derselben Weise, in der die Staaten Defizitregeln respektieren müssen, müssen sie auch andere Regeln respektieren, wie die des Handelsüberschusses,“ erklärte Renzi. „Und es gibt Länder, die sie nicht respektieren; das wichtigste ist Deutschland.“
Hunderttausende Flüchtlinge sind über das Mittelmeer nach Italien und Griechenland geflohen und die beiden Staaten forderten, dass andere EU-Länder auch Flüchtlinge aufnehmen oder bei der Finanzierung ihrer Unterbringung helfen. Renzi attackierte den Gipfel, weil zu diesem Thema keine sinnvolle Vereinbarung getroffen worden sei.
„Um das heutige Dokument zur Migration als einen Schritt vorwärts zu bezeichnen, braucht man die Phantasie eines Wortakrobaten“, erklärte er. Es seien lediglich „die üblichen Dinge“ wiederholt worden.
Der migrantenfeindliche ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der an der ungarischen Grenze einen Zaun errichten ließ, um Flüchtlinge fernzuhalten, griff öffentlich die EU-Quoten an, welche Ungarn verpflichten, Migranten aufzunehmen. „In meinem Gespräch mit Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, bat ich ihn, Respekt für das ungarische Volk zu zeigen,“ sagte Orban. „Ich bat ihn, mit ihren gesetzgeberischen Tricksereien aufzuhören, die die souveränen Entscheidungen und den Willen der Nationalstaaten hintertreiben.“
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestätigte die tiefen Risse in der EU und erklärte, es sei „unangemessen“, schriftliche Ergebnisse nach dem Gipfel zu veröffentlichen.
Der Bratislava-Gipfel machte deutlich, dass das britische Austrittsvotum nur ein Ausdruck von Spaltungen und Konflikten ist, die sich über ganz Europa erstrecken und drohen, die Europäische Union vollständig zu sprengen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1992, ein Jahr nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie, unterstützte die EU die von den Vereinigten Staaten geführten Kriegen und führte wirtschaftsfreundliche Restrukturierungsmaßnahmen und heftige Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter durch. Doch insbesondere seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und den 2011 entfesselten Kriegen in Libyen und Syrien haben diese internationalen Krisen und die wachsenden Klassenkonflikte das Ziel einer gemeinsamen EU-Politik unterhöhlt.
Als Reaktion auf den Ausgang des Brexit-Referendums, das von der britischen herrschenden Klasse unter Bedingungen einer zunehmend von Deutschland dominierten EU organisiert worden war, preschen Deutschland und Frankreich mit dem Versuch voran, die EU in ein Militärbündnis zu verwandeln. Derartige Pläne waren von Großbritannien – auch auf Betreiben der Vereinigten Staaten – immer wieder blockiert worden.
Nun treten die Spannungen zwischen Europa und den USA immer offener zu Tage. EU-Staaten haben eine Beendigung der Handelsgespräche mit den Vereinigten Staaten gefordert und Apple, den größten US-Konzern, mit einer Strafzahlung von dreizehn Milliarden Dollar belegt, da er keine Steuern in Irland gezahlt habe. Während die europäischen Staatschefs in Bratislava versammelt waren, verhängten amerikanische Behörden ihrerseits eine 14-Milliarden-Dollar-Strafe gegen die Deutsche Bank. Das größte deutsche Geldhaus soll vor Ausbruch der internationalen Finanzkrise im Jahr 2008 betrügerische Geschäfte auf dem amerikanischen Immobilien- und Hypothekenmarkt getätigt haben.
Die Deutsche Bank kündigte an, die Höhe der Strafe nicht zu akzeptieren. Sie beabsichtige „auf keinen Fall, diese möglichen zivilrechtlichen Ansprüche in einer Höhe zu vergleichen, die auch nur annähernd der genannten Zahl entspricht“, hieß es in einer offiziellen Presseerklärung. „Die Verhandlungen stehen erst am Anfang. Die Deutsche Bank erwartet ein Verhandlungsergebnis, das im Bereich ihrer Wettbewerber liegt, die sich mit dem US-Justizministerium bereits auf deutlich niedrigere Beträge geeinigt haben.“
Die finanziellen Auseinandersetzungen fallen mit strategischen Konflikten zwischen Washington und der EU zusammen, die eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Militärpolitik anstrebt. Im Vorfeld des Gipfeltreffens führten Paris und insbesondere Berlin eine reaktionäre Offensive für militärische Aufrüstung, Sparmaßnahmen und autoritäre Herrschaftsformen, wie sie im andauernden Ausnahmezustand in Frankreich ihren Ausdruck finden.
Vor dem Gipfel wurde ein sechsseitiges Papier aus der Feder der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihres französischen Kollegen Jean-Yves Le Drian der Presse zugespielt. „Es ist höchste Zeit, unsere Solidarität und die Europäischen Verteidigungsfähigkeiten zu stärken, um unsere Grenzen und die Bürger der EU effektiver zu schützen,“ heißt es darin. Nach der Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, sei es nun an der Zeit, mit den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten gemeinsam „zu handeln“. Das Papier fordert eine massive Ausweitung der Militärausgaben, um Luftbetankungskapazitäten, Satellitenkommunikation, Cyberkriegsführung und Drohnen entwickeln zu können.
Auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz in Bratislava bestätigten Merkel und Hollande, dass die innere und äußere Aufrüstung und die Reduzierung der Flüchtlingszahlen im Mittelpunkt der Diskussion standen. „Wir haben unterstrichen […], dass Krisen und Kriege natürlich Auswirkungen auf die Ankunft von Flüchtlingen haben und dass Europa natürlich auch bei der Lösung dieser Themen beteiligt sein muss“, erklärte Hollande. Außerdem müssten „die Außengrenzen stärker kontrollier[t]“ werden.
Die knappe „Bratislava-Erklärung“, die vom Europäischen Rat veröffentlicht wurde, gibt einen Überblick der reaktionären Plänen, die die EU hinter dem Rücken der Bevölkerung ausarbeitet. Der Abschnitt unter dem Titel „Migration und Außengrenzen“ ruft dazu auf, die Festung Europa zu verstärken, spricht Kriegsflüchtlingen das Recht auf Asyl ab und verlangt Massendeportationen von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Das Papier fordert den „vollkommene[n] Ausschluss einer Wiederholung der unkontrollierten Migrationsströme des letzten Jahres und [eine] weitere Verringerung der Anzahl irregulärer Migranten“ sowie das „Sicherstellen der vollständigen Kontrolle über die Außengrenzen“.
Bei der „inneren Sicherheit“ sieht die Erklärung den Aufbau eines einheitlichen EU-Polizeistaats entlang der Maßnahmen vor, die die herrschende Klasse in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unter dem Deckmantel des „Krieges gegen Terror“ ergriffen hat. Sie fordert eine „Verstärkung der Zusammenarbeit und des Informationsaustauschs zwischen den Sicherheitsdiensten der Mitgliedstaaten“ und die „Annahme der erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass alle Personen einschließlich der Staatsangehörigen von EU-Mitgliedstaaten beim Überschreiten der Außengrenzen der Union durch Abfrage der einschlägigen Datenbanken, die miteinander verbunden werden müssen, überprüft werden.“
Das Papier stellt auch „konkrete Maßnahmen“ zur militärischen Durchsetzung von Europas geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen gegen seine Rivalen in Aussicht. „Angesichts der Herausforderungen, die sich aus dem geopolitischen Umfeld ergeben“ solle der Europäische Rat „auf seiner Tagung im Dezember über einen konkreten Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung [...] entscheiden.“
Bereits in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union am Mittwoch hatte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, erklärt. „Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus.“ Europa könne „es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten“ der Vereinigten Staaten „zu segeln“ und müsse „die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen […] zu verteidigen.“
Diese Vorschläge unterstreichen die Verlogenheit und Heuchelei der Behauptungen der EU, sie verteidige Freiheit, Frieden und Demokratie gegen den migrantenfeindlichen Chauvinismus und Nationalismus der britischen Parteien, die für den Brexit gekämpft haben. Die EU ist selbst dabei, einen de facto Militär- und Polizeistaat aufzubauen und verfolgt dabei eine rechte, gegen Immigranten gerichtete Politik. Die einzige gesellschaftliche Kraft, die für Frieden und demokratische Rechte steht, ist auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Arbeiterklasse.