Das Weiße Haus will offenbar an der nuklearen „Erstschlag-Strategie“ der Vereinigten Staaten festhalten. Das berichtete der langjährige Militär- und Geheimdienstinsider David Sanger am 6. September in einem Leitartikel der New York Times.
In den letzten Monaten hatten sowohl die Washington Post als auch die New York Times in Artikeln geschrieben, dass Präsident Barack Obama erwäge, offiziell auf den Einsatz von Atomwaffen zu verzichten, solange die USA nicht zuvor mit solchen Waffen angegriffen worden seien.
Am 10. Juli berichtete die Post: „Die Obama-Regierung ist entschlossen, ihre letzten sechs Monate im Amt für eine Reihe von Exekutivbeschlüssen zu nutzen, um die nukleare Agenda voranzubringen, für die der Präsident seit seiner College-Zeit eintritt.“ Dazu gehöre wenn möglich der „Verzicht auf den atomaren Erstschlag“.
Aber in dem Bericht in der Times vom Dienstag heißt es nun, Obama habe „diese Absicht offenbar aufgegeben, nachdem seine verantwortlichen Berater für Nationale Sicherheit argumentiert hatten“, dass eine solche Politik „Russland und China stärke“.
Die Wende erfolgt vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe von amerikanischen Provokationen gegen die zwei genannten Länder. So werden in Osteuropa, an der Grenze zu Russland, tausende Soldaten stationiert. Gleichzeitig kreuzt die US-Navy im Südchinesischen Meer, angeblich um die „Freiheit der Schifffahrt“ zu verteidigen.
Das Weiße Haus und Sprecher des Generalstabs haben gegenüber der Times deutlich gemacht, dass ein Rückzug von den geopolitischen Zielen der USA nicht in Frage komme, auch wenn dies die militärische Bedrohung von Millionen Menschen verringern würde.
Die US-Regierung hat sich letztlich dem Druck der prominenten Kriegsstrategen gebeugt. Wie die Times schreibt, haben Admiral Haney, der Oberkommandierende des Strategischen Kommandos, sowie Verteidigungsministers Ashton Carter und Außenminister John Kerry erklärt, „dass dies in Anbetracht der Schritte von Russland und China, vom Baltikum bis zum Südchinesischen Meer, ein falscher Zeitpunkt für eine solche Erklärung wäre“.
Obama ist vor und während seiner Präsidentschaft stets als Anhänger der Nichtverbreitung von Kernwaffen aufgetreten. In seiner Rede am 5. April 2009 in Prag hatte er erklärt: „Als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung […] sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“ Und: „Um die Denkmuster des Kalten Kriegs zu überwinden, werden wir die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren.“
Anfang dieses Jahres besuchte Obama Hiroshima als erster amtierender Präsident, seitdem Präsident Truman zum Ende des Zweiten Weltkriegs diese Stadt mit einer Atombombe hatte einäschern lassen. Obwohl Obama sich in Japan ausdrücklich weigerte, eine Entschuldigung für dieses Kriegsverbrechen auszusprechen, rief er alle Atommächte heuchlerisch auf, „den Mut aufzubringen, aus der Logik der Angst auszubrechen und eine Welt ohne Atomwaffen anzustreben“.
Aber Obamas „nukleares Erbe“ sieht ganz anders aus. In den acht Jahren seiner Amtszeit hat das Weiße Haus das nukleare Potential so stark ausgeweitet wie nie zuvor in der amerikanischen Geschichte.
Für eine Billion Dollar hat das Pentagon ein Modernisierungsprogramm aufgelegt, um die amerikanischen Atomwaffen kleiner, schneller, besser manövrierbar und gefechtsfähiger zu machen. Das Ergebnis dieses Programms ist, wie der ehemalige Vizegeneralstabschef General James E. Cartwright Anfang des Jahres gegenüber der Times erklärte, „den Einsatz dieser Waffen eher vorstellbar“ zu machen.
Mit veranschlagten Kosten von etwa 97 Milliarden Dollar ersetzt die US-Navy ihre U-Boote der Ohio-Klasse mit einer neuen Generation von U-Booten, die mit ballistischen Raketen bestückt sind. Jedes dieser Boote ist für sich genommen die fünftgrößte Atommacht der Welt.
Die US Air Force hat den Rüstungskonzern Northrop Grumman beauftragt, für sechzig Milliarden Dollar bis zu hundert neue nuklearwaffenfähige strategische Langstreckenbomber unter der Projektbezeichnung B-21 zu bauen. In Entwicklung sind ebenfalls so genannte Langstrecken-Cruise Missiles, die mit hoher Geschwindigkeit manövrieren können, um atomare Ladungen hinter feindlichen Luftverteidigungssystemen abzuwerfen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Experten warnen, dass die Entwicklung einer solchen atomwaffenfähigen Cruise Missile das Potential für katastrophale Fehleinschätzungen deutlich erhöhen werde, da Länder, die von solchen Waffen bedroht würden, nicht nur wenig Zeit zum reagieren hätten, sondern auch keine Möglichkeit, zu unterscheiden, ob es sich um einen Angriff mit „konventionellen“ oder atomaren Waffen handle.
Wie Bloomberg am 6. September berichtete, plant die US Air Force außerdem, weitere 85 Milliarden Dollar für die Entwicklung von neuen ballistischen Interkontinentalraketen (ICBMs) auszugeben. Das Pentagon plant 642 ICBMs „zu einem durchschnittlichen Preis von 66,4 Millionen Dollar zu kaufen“ um mindestens vierhundert dieser Waffen dauerhaft einsetzbar zu halten.
Die massive Aufrüstung des amerikanischen nuklearen Modernisierungsprogramms findet unter Bedingungen einer tiefen globalen, geopolitischen Krise statt, in deren Zentrum der schier unstillbare Durst des amerikanischen Imperialismus nach Krieg steht.
Seit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre versucht die herrschende Klasse in den USA, den ökonomischen Niedergang des amerikanischen Kapitalismus zunehmend durch den Einsatz militärischer Gewalt wettzumachen. Mit der Auflösung der Sowjetunion nahm dieser Prozess markante Formen an, und für die USA begann eine Periode von 25 Jahren ununterbrochener weltweiter Kriege. Nun entwickeln sich die regionalen US-geführten Kriege und Stellvertreterkonflikte, wie zurzeit vor allem in Syrien, in immer offenere Konflikte mit größeren Konkurrenten wie Russland und China.
Im amerikanischen Wahlkampf hat das Clinton-Lager Vorwürfe über russische Cyberattacken und Unterwanderung erhoben. Gleichzeitig verschärfen sich die Spannungen mit China. Mit dem Festhalten an ihrer nuklearen „Erstschlag-Strategie“ senden die Vereinigten Staaten ein klares Signal aus, dass sie inzwischen auch „das Undenkbare“ für möglich halten.
Vor achtzig Jahren warnte der russische Revolutionär Leo Trotzki: „Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode.“ Wer heute glaubt, dass die USA nie wieder Atomwaffen einsetzen würden, unterschätzt nicht nur das Ausmaß der inneren und äußeren Krise des amerikanischen Imperialismus, sondern auch das Ausmaß an Gewalt und Kriminalität, zu dem die amerikanische herrschende Klasse fähig ist.