Die konservative britische Premierministerin Theresa May hat am 31. August ihr Kabinett zu einer Krisensitzung auf ihrem Landsitz Chequers versammelt, um über den britischen Rückzug aus der Europäischen Union (EU) zu diskutieren.
Das Referendum vom 23. Juni hatte ergeben, dass Großbritannien seine EU-Mitgliedschaft beendet. Berichten zufolge hat May es wiederholt abgelehnt, darüber eine Unterhausabstimmung durchzuführen, ehe der Austritt offiziell eingeleitet wird. Führende Regierungsvertreter sollen dem Kabinett jetzt Pläne vorlegen, wie „der Brexit funktionieren“ könne.
Mays Entscheidung hat die Spaltungen in der herrschenden Elite über die wirtschaftlichen und politischen Folgen des Brexit einmal mehr vertieft. Es geht um die Anwendung von Artikel 50, der den Verhandlungsprozess über den Austritt offiziell einleitet.
Die Mehrheit der Bourgeoisie und ein großer Teil der Wirtschaft befürworten den Verbleib in der EU. Mehr als 480 der 650 Unterhausabgeordneten sind gegen einen Austritt aus der EU, und auch das Oberhaus ist mit überwältigender Mehrheit für eine weitere EU-Mitgliedschaft. Eine Abstimmung im Unterhaus könnte den Beginn von Verhandlungen blockieren oder zumindest verzögern.
Die Frage des Brexit steht auch im Zentrum des Putschs, den der rechte Blair-Flügel in der Labour-Party gegen den Parteichef Jeremy Corbyn betreibt. Die Verschwörer, die mit den britischen und amerikanischen Geheimdiensten zusammenarbeiten, verfolgen das Ziel, die Labour Party als Gegenpol zu den Befürwortern eines Austritts in Stellung zu bringen.
Owen Smith, Corbyns rechter Herausforderer um die Labour-Führung, hat gesagt, er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um einen Brexit zu verhindern. Unter anderem würde er ein zweites Referendum durchführen. Corbyn schloss ein zweites Referendum aus und sagte lediglich, er würde über die besten Bedingungen für einen britischen Rückzug verhandeln.
Am Samstag sprach sich Lord O’Donnell, der Chef des Öffentlichen Dienstes von 2005 bis 2011, dagegen aus, den Artikel 50 „übereilt“ zu aktivieren, und erklärte, der Brexit sei nicht unvermeidlich. Vieles hänge davon ab, wie sich die öffentliche Meinung entwickle, und ob sich die EU verändere. Er sagte: „Möglicherweise wäre ja eine offenere, lockerere Gruppe genau das Gebilde, dem Großbritannien gerne angehören würde.“
Gegen seine Bemerkungen trat Steve Baker auf, der Tory-Abgeordnete, der vor dem Referendum die Gruppe der Konservativen angeführt hatte, die für einen Austritt Großbritanniens eintraten. Er betonte: „Jeder Staatsbeamte, der gegen unseren Austritt arbeitet, sollte sofort entlassen werden.“ Wenn nötig, müsse man sofort Gesetze schaffen, die das ermöglichten.
Der Daily Telegraph berief sich auf eine Quelle in der Downing Street mit der Meldung, May habe „absolut klar gemacht, dass die britischen Wähler abgestimmt haben, und sie wird den Brexit jetzt liefern“. In dem Artikel heißt es: „May hat sich mit Juristen der Regierung beraten und diese haben der Premierministerin bestätigt, dass sie die exekutive Vollmacht hat, über die Aktivierung von Artikel 50 allein zu entscheiden.“
Das provozierte eine ebenso wütende Reaktion aus den Reihen der Brexit-Gegner. So meldete sich Barry Gardiner, Labours Schattenaußenminister für internationalen Handel, Energie und Klimawandel, zu Wort. Er kritisierte, May ergreife die Initiative, Artikel 50 zu aktivieren, „ohne zuvor dem Parlament die Bedingungen und die Grundlage darzulegen, auf der sie die Verhandlungen zu führen gedenkt … Damit schwächt sie das Parlament und eignet sich die arrogante Macht eines Tudor-Königs an.“
Ein EU-freundliches überparteiliches Bündnis ehemaliger Minister forderte May öffentlich auf, die „bestmöglichen Beziehungen“ mit der EU nach dem Brexit auszuhandeln. Die neue Bewegung Offenes Britannien, die am 2. September an den Start gehen soll, setzt die Arbeit der offiziellen „Remain“(Bleiben)-Kampagne während des Referendums fort. In dem Bündnis arbeiten die Tory-Abgeordnete Anna Soubry und der Labour-Abgeordnete Pat McFadden mit. Die Organisation Open Britain hat erklärt, sie werde zwar kein neues Referendum anstreben, aber eine „positive und patriotische Argumentation“ für ein enges Bündnis mit der EU vorbringen.
Auch wollen offenbar mehrere Minister, darunter Schatzkanzler Philip Hammond, erreichen, dass Großbritannien den Zugang zum Gemeinsamen Markt für seinen Finanzsektor und die Autoindustrie behalten kann.
Die Sunday Times berichtete: „Im Privaten betont Hammond, dass ‚alles auf dem Tisch liegt‘. Beamte des Finanzministeriums glauben, dass der Zugang der Finanzdienstleistungs-Industrie zum Gemeinsamen Markt die oberste Priorität haben sollte. Aber hohe Regierungsquellen sagen, Davis, Fox und Mays engster Berater, Nick Timothy, seien der Meinung, Großbritannien müsse den Gemeinsamen Markt verlassen, um die versprochenen Grenzkontrollen einzuführen.“ David Davis und Liam Fox sind zwei Minister, die für die Brexit-Planung zuständig sind. Sie unterstützen Mays Absicht, den Artikel 50 Anfang Januar zu aktivieren.
Derweil fordert der euroskeptische Flügel der Tories von May, dass sie rote Linien für Einwanderungskontrollen festlegen soll. So sagte Andrew Bridgen der Sunday Times: „Die Premierministerin ist ihrer Fraktion eine Erklärung schuldig. Sie muss erklären, was ‚Brexit heißt Brexit’ tatsächlich bedeutet.“ Bridgen war der erste konservative Abgeordnete, der den Rücktritt von Mays Vorgänger David Cameron gefordert hatte. Auch der führende Brexit-Kämpfer der Konservativen, Iain Duncan Smith, forderte von der Regierung, eine Green Card wie in den USA für all jene einzuführen, die in Großbritannien arbeiten wollen. Das werde „britische Arbeitsplätze für britische Arbeiter“ sicherstellen.
Er wies auf das Programm Universal Job Match hin, das er als Arbeitsminister eingeführt hatte. Dieses Programm vergleicht die Informationen über Potentiale von Arbeitslosen in einer bestimmten Gegend mit den vorhandenen Arbeitsplätzen. Dabei liegt der Fokus auf geringer qualifizierten Arbeitslosen. Indem die Regierung die Arbeitslosen dazu bringt, solche Arbeitsplätze anzunehmen, könnte sie sie Migration aus der EU begrenzen.
Unmittelbar nach der Kabinettssitzung reiste May nach China zum G20-Gipfel. Ein Sprecher sagte, sie werde die Gelegenheit nutzen, „die enormen Möglichkeiten zu betonen, die der Brexit beinhaltet“, und über „beidseitig vorteilhafte Handelsbeziehungen für die Zukunft“ sprechen.
Die Zeitung Sun stellte klar, worin diese „enormen Möglichkeiten“ für die globalen Konzerne bestehen. Die Sun befindet sich im Besitz des Medienoligarchen Rupert Murdoch, der den Brexit befürwortet. In einem Leitartikel werden die Vorschläge von EU-Führern für eine engere Integration verurteilt. Dann heißt es dort: „Es ist wichtig, dass Schatzkanzler Philip Hammond jetzt dafür sorgt, dass wir mittelfristig und langfristig Erfolg haben.“ Schatzkanzler Hammonds müsse in der bevorstehenden Herbsterklärung „eine Senkung der Unternehmenssteuern“ und anderer Steuern bekanntgegeben, forderte die Sun.
Während sich die Spaltungen in der britischen Bourgeoisie über den Brexit vertiefen, ist in den Beziehungen innerhalb der EU fieberhafte Hektik ausgebrochen.
Darüber berichtet die Sunday Times: „Kanzlerin Angela Merkel und andere Führungspolitiker ließen letzte Woche erkennen, dass Großbritannien den Gemeinsamen Markt verlassen müsse, wenn es die Niederlassungsfreiheit abschaffen wolle. May soll bei einem kürzlichen Besuch in Berlin gegenüber Merkel klargemacht haben, dass sie die Niederlassungsfreiheit nicht akzeptieren könne.“
Die Abstimmung über den Brexit hat die tiefe Krise der EU zum Ausdruck gebracht, die im Begriff ist, auseinanderzubrechen. Jede Regierung auf dem gesamten Kontinent ist davon betroffen. Letzte Woche reiste Merkel quer durch Europa und traf sich mit fünfzehn Regierungen der 27 Mitgliedstaaten. Damit bereitete sie den ersten EU-Gipfel seit dem Brexit-Referendum vor, der ohne die Beteiligung Großbritanniens am 16. September in Bratislawa stattfinden wird.
In Warschau warnte Merkel mit drohendem Unterton: „Der Brexit ist kein x-beliebiges Ereignis. Er ist ein tiefer Einschnitt in die Geschichte der Integration der EU. Es ist daher wichtig, sorgfältig nach einer Antwort zu suchen. Wir müssen uns mit den Folgen des Brexit konfrontieren und uns über die Zukunft der EU Gedanken machen.“
Am Sonntag erklärte Merkels Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel, die Verhandlungen mit Großbritannien über den Austritt müssten so hart wie möglich geführt werden, um andere Länder zu entmutigen, den gleichen Weg zu gehen und zu verhindern, dass die EU „den Bach runter geht“.
„Wenn wir den Brexit falsch organisieren, dann werden wir große Probleme bekommen“, sagte Gabriel. Die EU müsse klarmachen, dass sie nicht zulassen werde, dass Großbritannien nur die angenehmen Dinge, die Europa bietet, behält, ohne selbst „Verantwortung zu übernehmen“.