Kürzlich lief auf dem deutschen Fernsehsender RBB zu denkbar schlechter Sendezeit um 00.00 der Dokumentarfilm Die Partitur des Krieges -- Leben zwischen den Fronten von Mark Chaet, Tom Franke und Armin Siebert. Wer davon ausging, den Film später in der Mediathek des Senders zu finden, wurde enttäuscht. Der Film hat es jedoch nicht verdient, ignoriert zu werden.
Im April 2015 machte sich der ukrainische Geiger und Komponist Mark Chaet, begleitet von einem kleinen Dreh-Team von Berlin, wo er seit Mitte der 90er Jahre lebt, in den Osten der Ukraine auf. Das Zentrum des Bürgerkriegs, wo jetzt die Grenze zwischen pro-westlich und pro-russisch verläuft, ist seine alte Heimat. Beunruhigt hatte er immer wieder von Bekannten am Telefon gehört, der Krieg hätte sie stark verändert. Würde er auf Fanatiker treffen?
Nach über zwanzig Jahren steht er seiner Cousine Olga im ukrainischen Kramatorsk gegenüber. Sie leidet unter ohnmächtiger Angst. Früher, erklärt Olga, hätte sie über Krieg sprechen können. Sie hätte viel gelesen, die alten sowjetischen, auch neue Filme gesehen über den Zweiten Weltkrieg. Es sei völlig anders, Krieg zu erleben: Gefechte in nächster Nähe, Kontrollen, Barrikaden, ausgebrannte Busse und das Schlimmste, die Bomben. Plötzliche Detonationen, man begreife nichts, lebe wie eine Maus.
Der alte Schulfreund Roman, inzwischen Dozent an der Akademie für Maschinenbau, wirkt wie immer. Wie viele, so Roman, ignoriere er den Krieg, sobald nicht mehr geschossen wird. Doch er hätte sich dabei ertappt, dass er den Weg mit der kleinen Tochter durch die Stadt immer so plane, dass sie nicht länger als zehn Sekunden bräuchten, um in Sicherheit zu sein. Die Stadt ist eine Todeszone, so Marks erste Geigenlehrerin. Viele sind geflüchtet, viel ist zerstört.
Der Film ist eindringlich, weil er den Krieg gerade nicht in martialischen Bildern, sondern in seinem allumfassenden Einfluss auf das zivile Leben – man könnte sagen, in seiner zivilen Totalität zeigt.
Die Fassungslosigkeit Marks und seiner Kollegen darüber, dass die Allgegenwärtigkeit des Todes Alltag sein kann, ist durchgehend spürbar. Den Verlust jeglicher Sicherheit zu erleben, ist ein ungeheuerlich radikaler Einschnitt. Der Krieg beherrscht alles, selbst die Stille. Diese Seite des Films ist sehr überzeugend.
Das Konservatorium der modernen Industriestadt Donezk, wo Mark Violine studierte, hat sich seit seinem Weggang kaum verändert. Doch nun ist der Weg für Studenten lebensgefährlich. Wie andere staatliche Angestellte arbeitet Marks früherer Geigenlehrer unentgeltlich, seit Kiew die Zahlung der Gehälter eingestellt hat. Der öffentliche Nahverkehr, die Stadtreinigung bis hin zu den Musikern der Philharmonie, alle sind bestrebt, das gewohnte zivile Leben aufrecht zu erhalten, solange es geht. Unter dem bewundernswertem Engagement eines jungen Dirigenten werden Konzert- und Opernaufführungen vorbereitet.
Es heißt allgemein, wenn die Kanonen donnern, habe die Muse zu schweigen, so der Konzertmeister der Prokofjew-Philharmonie. Er sei nicht der Meinung. Gerade jetzt helfe die Kunst den Menschen beim Überleben. Anders als vor dem Krieg bedankten sich die Menschen nach dem Konzert bei den Musikern. Während Marks alter Lehrer für das Kamerateam Bach interpretiert -- Völker verbindende Weltkultur --, spielt auf der anderen Frontseite in Kramatorsk ein Kinder-Geigenensemble voller Hingabe den Welthit „My Way“.
Es ist eine berührende Szene. Die Kamera fährt behutsam an den konzentrierten Gesichtern der Kinder vorbei. Dann kommt die Lehrerin ins Bild, bei der schon Mark die ersten Töne auf der Violine lernte. Auch Mark greift immer wieder zum Instrument, ein freundlicher Wanderer zwischen den Fronten des Krieges.
Der Donezker Violin-Professor ist fassungslos, dass die ukrainische Armee einen Teil des eigenen Landes mit Artillerie und Minenwerfern beschießt. Man hätte sich einigen müssen über eine gewisse Autonomie, dass auch Geld in der Region bleibt, nicht alles in die Hauptstadt fließt. Das klingt bekannt. Überall in der Welt führt sozialer Niedergang zu regionalen Spannungen.
Ein alter Kollege Marks, Theaterregisseur in der 2014 heiß umkämpften Industriestadt Slawjansk, spricht von einer Inszenierung; der ganze Konflikt sei zu neunzig Prozent künstlich geschürt, die Bevölkerung der Stadt bewusst gespalten worden. Eine Donezkerin, die mit ihrem Bruder in der Westukraine telefoniert hat, erklärt, ihnen sei klar, dass dies ein Krieg des Geldes ist. Hier kämpfe nicht die Ukraine gegen die Ukraine, sondern die Oligarchen gegeneinander. Sie sei weder ein Freund von Janukowitsch noch der Partei der Regionen oder der Kommunistischen Partei. Aber es war Frieden. Jetzt wisse man nicht, wer da an der Macht ist, und es ist Krieg.
Der tragischste Moment des Films ist das Bild einer 85-jährigen Frau, inmitten zerstörter Häuser am Stadtrand von Donezk. Sie muss ein kleines Kind gewesen sein, als Hitlers Armee die UdSSR überfiel und barbarische Kriegsverbrechen in der Westukraine beging, ihrer alten Heimat. Der Krieg ist zurückgekommen. Sie sitzt wie erstarrt. Letzte Bilder zeigen Kramatorsk. Das im Film mehrmals eingeblendete große Lenindenkmal steht nicht mehr. Auf dem leeren Sockel ist die Fahne des rechten Sektors aufgepflanzt, der sich bekanntermaßen offen zur Tradition der faschistischen NSDAP bekennt. Wie konnte es soweit kommen?
Für alle Protagonisten des Films kam der Krieg sichtlich überraschend. Mark, der die zerschossenen Häuser am Stadtrand von Donezk zunächst wie eine Filmkulisse wahrnimmt, stellt immer wieder naiv klingende Fragen wie: Was fühlen Sie, wenn Bomben fallen? Kategorisch erklärt er, Krieg sei unbegreiflich, wenn man ihn nicht erlebt. Es gäbe kein Gut oder Böse. Auf beiden Seiten stünden Menschen mit ihren Wahrheiten. Später räumt er ein, in Deutschland der EU-Propaganda gegenüber den Menschen der ehemaligen Sowjetrepubliken geglaubt zu haben, so in der Art: Diese wüssten nicht Bescheid, man müsse den armen Kerlen (er ahmt den herablassenden Ton nach) helfen. Jetzt spüre er eine große Lücke.
Viele, die wie Mark während der 90er Jahre die ehemalige UdSSR verließen, erlebten den Aufbruch in den „Westen“ als befreienden Bruch mit einer perspektivlosen, verlogenen Vergangenheit. Gegenüber dem Erbe der Sowjetunion empfand man bestenfalls noch Ironie. Vertrauensselig schwamm man auf der von Balkan-Beat und „Russendisco“-Partysound flankierten, ideologischen Welle der EU-Osterweiterung. Jetzt ist schlagartig sichtbar geworden, dass die Auflösung der Sowjetunion und die Einführung kapitalistischer Verhältnisse nicht zu Wohlstand, Freiheit und Demokratie, sondern zu Krieg geführt haben.
Die gegenwärtige Sackgasse spiegelt sich in den vagen Zukunftsprognosen der Protagonisten. Niemand ist zum Fanatiker geworden, aber was für eine heftige Diskussion würde es geben, säßen sie alle an einem Tisch.
Der Verteidiger des ukrainischen Kapitalismus Wladimir sieht wirtschaftlichen Aufschwung „durch Arbeit“, wenn nötig ohne „unsere Partner in Europa und Amerika“. Während er die ukrainische Armee lobt, die für stabile Verhältnisse sorgt, deutet die Geigenlehrerin aus der gleichen Stadt an, dass es jetzt gefährlich sei, die ukrainische Politik zu kritisieren. Ein junger patriotischer Sänger aus Donezk, träumt vom Fall aller Ländergrenzen. Sein älterer Kollege, hörbar beeinflusst vom sowjetischen Sänger Wladimir Wyssozki, erklärt pragmatisch: Zuerst müsse die jetzige Situation beendet werden, dann werde man weitersehen. Zwischen Wladimir und dessen in Russland lebenden Cousin ist es vollständig zum Bruch gekommen, seit dieser erklärte: „Wir werden nicht zulassen, dass die Ukraine unter die NATO fällt.“ Roman dagegen sagt beim Abschied zu Mark: „Wir brauchen ein Fenster nach Europa“.
Die beiden letzten Aussagen sind die einzigen im Film, die konkret darauf verweisen, dass es in dem Konflikt um mehr als regionale Auseinandersetzungen geht. Dass der Film nichts zur aktiven Beteiligung der USA und Deutschlands am Putsch in der Ukraine sagt, macht seine Schwäche aus. Immerhin sicherte Obamas außenpolitische Sprecherin Nuland der Opposition gegen Janukowitsch fünf Milliarden Dollar zu und unterstützte auch die deutsche Regierung die Opposition, zu der erklärte Faschisten von Swoboda gehörten.
Wenn Mark Chaet sagt, die Dinge seien sehr „vielschichtig“, er müsse erst darüber nachdenken, dann wäre eine Klärung dieser Fakten der erste wichtige Schritt. Zumal man den Eindruck hat, dass der eine oder andere Protagonist nicht frei von Illusionen ist. Etwa wenn Roman zu Mark sagt: „Helft uns“, und dem, mit Blick auf die deutsche Regierung, noch ein „Gebt uns diese Chance“ nachsetzt.
Der Krieg hat die Menschen erschüttert, auch Mark. Er ist in diesem Mai nach Donezk zurückgekehrt, wo seine 1. Sinfonie, inspiriert von den aufwühlenden Eindrücken der ersten Reise, uraufgeführt und vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert wurde. Wie der Film ist sie den alltäglichen Menschen auf beiden Seiten der Front gewidmet. Der Ausschnitt eines kurzen Dokumentarbeitrags des MDR klingt vielversprechend. Wohl nicht zufällig erinnern die Klänge teilweise an Schostakowitsch, den weltbekannten Komponisten der Leningrader Sinfonie. Hoffentlich ist Mark Chaets Werk bald in Deutschland und anderen Ländern zu hören.
Die Partitur des Krieges -- Leben zwischen den Fronten
Ein Film von Mark Chaet, Tom Franke, Armin Siebert, Berlin 2016 (Die Youtube-Sequenz ist qualitativ nicht sehr gut, gibt aber einen Eindruck des Films.)
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