Die Streiks und Proteste, die sich in ganz Frankreich ausbreiten, greifen auch auf Belgien über.
In Frankreich beteiligten sich am Donnerstag Hundertausende an dem achten landesweiten Protesttag gegen die Arbeitsmarktreform der Hollande-Regierung. Seit Anfang des Monats ist das „El-Khomri“-Gesetz in Kraft. Dienstag gingen auch in Brüssel 60.000 Menschen auf die Straße, um gegen ähnliche arbeiterfeindliche Reformgesetze zu protestieren. Diese Demonstrationen sind Teil eines internationalen Kampfs der Arbeiterklasse gegen Massenentlassungen, Sparmaßnahmen und Krieg.
Das „El-Khomri“-Gesetz ist die französische Version der berüchtigten Hartz-IV-Gesetze, die vor über zehn Jahren die rot-grüne Bundesregierung in Deutschland einführte. Das Gesetz stellt einen massiven Angriff auf Löhne und Arbeiterrechte dar. Sein Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs gegenüber seinen europäischen und internationalen Konkurrenten zu steigern. Das Gesetz erlaubt den Firmen eine Verlängerung der Arbeitszeit auf bis zu 46 Stunden in der Woche, bei entsprechenden Vereinbarungen mit den lokalen Gewerkschaften und gibt ihnen größeren Freiraum für Lohnkürzungen. Außerdem erleichtert es Entlassungen.
Die verhasste Regierung von Präsident François Hollande (Sozialistische Partei, PS) geht brutal gegen streikende und protestierende Arbeiter vor und stützt sich dabei auf den Ausnahmezustand, der seit den Terroranschlägen von Paris im November verhängt wurde. Dennoch bricht sich die Wut in der Bevölkerung weiter Bahn. Laut Polizei nahmen 153.000 Menschen an den Protesten teil, laut dem stalinistischen Allgemeinen Gewerkschaftsbund (CGT) 300.000. Damit war die Beteiligung an den Demonstrationen im Vergleich zur Vorwoche noch einmal angestiegen.
Zwar hat die Polizei in vierzehn Ölraffinerien in ganz Frankreich die Streikposten durchbrochen, um die Blockaden zu beenden und die Produktion wieder in Gang zu setzen. Aber der Treibstoffmangel nimmt dennoch zu, und das trotz der Freigabe von strategischen Treibstoffreserven durch staatliche Behörden und die Ölgesellschaften. Seit Donnerstagabend fehlt an 5000 von Frankreichs 12.000 Tankstellen mindestens eine Kraftstoffsorte.
An einem Streikposten vor dem Treibstofflager in Fos-sur-Mer wurde ein CGT-Mitglied überfahren und musste mit einem Rettungshubschrauber ausgeflogen werden. Zwei Arbeiter, die an einem Streikposten im Gewerbegebiet bei Vitrolles teilnahmen, wurden verletzt, als ein Lastwagen versuchte, die Blockade zu durchbrechen.
Nicht nur die Hafenarbeiter, Ölarbeiter und Lastwagenfahrer setzen ihre Streiks fort, sondern auch die Beschäftigten der neunzehn Nuklearanlagen des Landes und der Atom-U-Boot-Werke in Cherbourg sind in Streik getreten und besetzen die Werke, um gegen die Arbeitsmarktreform zu protestierten. Im Norden und Westen Frankreichs wurden überall Stromausfälle gemeldet. Die Stromproduktion fiel insgesamt um 5000 Megawatt.
In Belgien legte ein Eisenbahnstreik den öffentlichen Nahverkehr in Brüssel praktisch lahm. In den französischsprachigen Gebieten im Süden fielen fast alle Züge aus, während im flämischen Landesteil gerademal noch eine Zugstrecke in Betrieb war. Für Dienstag, 31. Mai, ist ein weiterer Eisenbahnerstreik in Belgien geplant. Auch die belgischen Eisenbahner kämpfen gegen die Sparpolitik und die Arbeitsmarktreform ihrer Regierung.
In Frankreich nahmen WSWS-Reporterteams an den Protestmärschen teil, die am Donnerstag in fast allen französischen Städten stattfanden. Sie verteilten die Erklärung „Mobilisiert die europäischen Arbeiter zur Verteidigung der Streikenden in Frankreich!“ In Paris und Marseille sprachen sie mit zahlreichen Teilnehmern.
Auf dem Platz der Bastille in Paris sprachen wir mit Samuel, einem Angestellten im öffentlichen Dienst, der nicht nur das „El-Khomri“-Gesetz, sondern auch Frankreichs PS-Regierung entschieden ablehnt. Er erklärte: „Wir können dieses El-Khomri-Gesetz nicht zulassen, es ist ein Rückschritt für die Arbeiterrechte. Die PS-Regierung von François Hollande und Manuel Valls behauptet, sie sei links, aber das ist sie nicht.“
Samuel sagte, er sei auch mit den Streikenden in Belgien solidarisch. Er fügte hinzu: „Es gibt ein Streikrecht, das in der Verfassung festgeschrieben ist. Es könnte das einzige Recht sein, das wir noch ausüben können, um Einfluss zu nehmen und die Dinge in die richtige Richtung zu lenken.“
Er erklärte, seiner Ansicht nach stehe die PS-Regierung im Dienst einer diktatorischen Finanzoligarchie. Er sagte: „Die Menschen müssen aufstehen und für eine wahre Demokratie kämpfen. Gegenwärtig haben wir keine Demokratie; wir haben kleine Gruppen, die unter sich bleiben und für die ganz Reichen arbeiten.“
Die WSWS sprach auch mit Donovan, einem Angestellten aus Paris, der über die Arbeitsmarktreform sagte: „Ich weiß, dass viele Unternehmen diese Gesetze anwenden werden; das wird zu Missbrauch führen. Ein Gesetz, das den Arbeitgebern jede Menge Verbesserungen schafft und den Angestellten, Arbeitern und sozial Schwachen die Rechte wegnimmt, ist meiner Meinung nach schlecht.“
Er äußerte den Verdacht, dass der Ausnahmezustand, der nach den Anschlägen vom 13. November in Paris verhängt wurde, in Wirklichkeit größtenteils das Ziel hatte, die Opposition im Inneren zu unterdrücken: „Erst erhöhen sie die Spannungen, um den Ausnahmezustand einführen zu können; dann nutzen sie den Ausnahmezustand für ihre eigenen Zwecke und passen ihn an ganz andere Situationen an.“
Donovan betonte auch seine Unterstützung für die Arbeiter, die gegen das Gesetz streiken, und erklärte: „Wir können sagen, was wir wollen, aber niemand hört auf uns. Unter diesen Umständen wird der Streik praktisch zur Pflicht.“
Die Demonstration hatte am Platz der Bastille begonnen und wurde immer größer. In der Nähe der Chaligny-Straße kam es zu Zusammenstößen, als unbekannte maskierte Provokateure auftauchten und begannen, die Sicherheitskräfte anzugreifen. Auch diesmal waren wieder ganz junge Demonstranten an die Spitze der Demonstration gestellt worden. Als sie zum Platz der Nation kamen, wurden sie von der Abordnung der Gewerkschaften getrennt und gewaltsam angegriffen. Mindestens ein junger Demonstrant wurde vom Splitter einer Blendgranate schwer verletzt.
Überall im Land wurden die Sicherheitskräfte massiv eingesetzt. In Paris soll die Polizei bestätigt haben, dass sie 19.000 Polizisten gegen die Demonstranten eingesetzt hatte. Mindestens 77 Menschen sollen verhaftet worden sein.
Auch in anderen Städten Frankreichs kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen wütenden Demonstranten und schwer bewaffneter Bereitschaftspolizei. Im Südwesten, in Bordeaux, griffen hundert Menschen eine Polizeistation an und beschädigten ein Polizeiauto. In Nantes warfen Demonstranten die Fenster von Banken ein, worauf die Sicherheitskräfte mit dem Einsatz von Tränengas reagierten.
In Le Havre versammelten sich mindestens zehntausend Hafenarbeiter und Demonstranten. Medienberichten zufolge war die Stimmung vor dem Rathaus aufgeheizt. Die Demonstranten entzündeten Rauchbomben und ließen Feuerwerkskörper explodieren. Sie stellten Plakate auf dem Platz auf, die einen blutroten Grabstein zeigten, der die Arbeitsmarktreform darstellen sollte. Auf dem Stein stand: „Nicht verbesserungsfähig, nicht verhandlungsfähig: Nehmt das El-Khomri-Gesetz zurück.“
Der französische Premierminister Manuel Valls beharrte in einem Interview mit dem Fernsehsender BFM darauf, dass das „Herzstück“ des Gesetzes unangetastet bleibe. Er erklärte, das Gesetz zurückzunehmen, sei „nicht möglich. Es könnte Verbesserungen und Änderungen am Gesetz geben“. Valls sagte nicht im Detail, was er ändern wolle, erklärte aber provokativ, das Gesetz sei „gut für die Arbeiter“, und beschuldigte die CGT, sie sei „unverantwortlich“.
Obwohl die CGT momentan militant auftritt, wissen viele Arbeiter, dass die Gewerkschaft im Grunde kein Gegner der Hollande-Regierung ist. Die CGT hat Hollande in den Präsidentschaftswahlen von 2012 unterstützt. Sie vertritt nicht die Interessen der Arbeiter.
Anfang der Woche erklärte die WSWS: „Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez drängt die Gewerkschaft, Forderungen zu übernehmen, die spontan unter Arbeitern aufkommen. Dies dient teilweise dazu, der CGT eine bessere Stellung gegen konkurrierende Gewerkschaftsbürokratien zu verschaffen, aber vor allem soll ein Aufstand der Arbeiter gegen das ganze politische System verhindert werden und die Arbeiter in der Zwangsjacke eines nationalen Kampfes gefangen bleiben.“
In Marseille sprachen WSWS-Reporter mit zwei Jugendlichen, Mohamed und seinem Freund, über den Kampf gegen die Arbeitsmarktgesetze. Mohamed erklärte, seiner Meinung nach sei internationale Solidarität im Kampf gegen Sparmaßnahmen sehr wichtig, und er sagte: „Was sich hier entwickelt, ist gut, obwohl die Menschen in unterschiedlichen Ländern leben und nicht dieselben Gesetze haben. Aber wir arbeiten zusammen. Wir haben das seit vielen Jahren verloren, aber jetzt kommt es wieder. Auch wenn wir Opfer bringen und die Wirtschaft blockieren müssen, ist das, was sich hier entwickelt, im Grunde wunderschön.“
Mohamed wies darauf hin, dass die CGT sich vor kurzem an einer Pro-Polizei-Demonstration beteiligt hatte. Diese war von Kräften organisiert, die dem neofaschistischen Front National nahestehen. Mohamed erklärte: „Ich glaube nicht, dass die CGT die Massen vereinen wird. Die CGT hat uns verraten, die CGT verliert ihre Glaubwürdigkeit. Es wird nicht das Verdienst der CGT sein, wenn wir verhindern, dass dieses Gesetz kommt.“
Er verurteilte die PS-Regierung aufs Schärfste, weil sie die Sicherheitskräfte eingesetzt hat, um die Besetzung von Fabriken und anderen Arbeitsstätten zu beenden: „Ich denke, das macht die Leute krank. Es wird sie aufwecken, und sie werden erkennen, dass wir dieses Gesetz nicht verabschieden dürfen. Man kann deutlich sehen, dass die Dinge sich rasch zu einem Bürgerkrieg entwickeln können. Zwischen der Bevölkerung und dem politischen Establishment kann sich ein enormer Konflikt entwickeln.“