Bundesarbeitsgericht weicht Mindestlohn weiter auf

Fast genau eineinhalb Jahre nach Einführung des flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland segnet das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine beliebte Methode zu seiner Umgehung gerichtlich ab. In dem mit Spannung erwarteten Urteil vom Mittwoch stellten die Erfurter Richter fest, dass arbeitsvertraglich zugesicherte Sonderzahlungen, wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, auf den Stundensatz angerechnet werden können. Ausreichend ist es, wenn das „Gesamteinkommen für die Arbeit den Mindestlohn“ erreicht, so die Sprecherin des BAG Stephanie Rachor.

Das BAG bestätigt damit eine Vorgehensweise, die schon seit Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 häufig praktiziert wird. Arbeitgeber zahlen zwar den vorgeschriebenen Mindestlohn. Dafür werden aber die Schichtzulage, das Trinkgeld oder sonstige Zuschüsse ersatzlos gestrichen.

Oft gehen sie dabei besonders perfide vor. Entweder werden den Arbeitnehmern Vertragsänderungen vorgelegt, die sie meist in besonderen Drucksituationen unterschreiben müssen. Oder sie treffen Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat, die dann automatisch und ohne Unterschrift des Arbeitnehmers die Veränderungen festschreiben.

Die Entscheidung des BAG ist eine herbe Enttäuschung für die geschätzt vier Millionen Arbeitnehmer, deren Jobs vom Mindestlohn betroffen sind (Schätzung des Statistischen Bundesamts von Januar 2015). Ihre Lohnsteigerung stellt eine reine Umschichtung dar, die dem Arbeitgeber nichts kostet und dem Arbeitnehmer nichts einbringt. Sie bleiben auf dem gleichen niedrigen Lohnniveau wie vor Einführung des Mindestlohns.

Geklagt hatte eine Angestellte der Klinik Service Center GmbH, einer Tochtergesellschaft des Städtischen Klinikums in Brandenburg an der Havel. Für ihren Vollzeitjob verdiente die 53-Jährige in der Klinik-Cafeteria vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes 1391,36 EUR brutto im Monat. Das sind 8,03 EUR in der Stunde. Dazu erhielt sie als Sonderzulage jeweils ein halbes Monatsgehalt als Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Vor Einführung des Mindestlohns vereinbarte der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat die Umlegung der eigentlich im Mai und November auszuzahlenden Sonderzulagen auf monatliche Zuschläge zu 1/12 des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes. Dadurch erhöhte sich der Lohn der Klägerin auf 1507,30 EUR brutto im Monat. Der Stundensatz betrug nun 8,69 EUR und damit mehr als der erforderliche Mindestlohn.

Bereits die Vorinstanzen hatten diese Rechnung abgenickt. Als Begründung führten sie an, dass es sich zum einen um eine tatsächliche und unwiderrufliche Auszahlung des Geldes an die Arbeitnehmerin handelte. Zum anderen sei die Zahlung als Gegenleistung für erbrachte Arbeitsleistung zu verstehen.

Insbesondere letztere Voraussetzung für eine Anrechnung ist nicht schwer zu erfüllen. So reicht es aus, dass die Sonderzahlung an den Bestand des Arbeitsverhältnisses geknüpft ist und sich bei früherer Beendigung die Höhe der Zulagen proportional verringert. Danach wären grundsätzlich alle Zulagen anrechenbar, die nicht ausdrücklich unabhängig vom Arbeitsverhältnis erfolgen. Spätestens nach diesem Urteil werden sich Arbeitgeber beeilen, ihre Sonderzahlungen grundsätzlich als Teil der Gegenleistung für die getane Arbeit zu deklarieren.

Der Mindestlohn wird damit weiter ausgehöhlt. Für Geringverdiener bedeutet er oftmals überhaupt keine Verbesserung. Wer vorher für eine Vollzeitbeschäftigung einen Armutslohn von 5 oder 6 EUR die Stunde bekam, musste meist mit Hartz IV aufstocken. Statt dieser Leistung erhält der Arbeitnehmer nun direkt den Mindestlohn, was seine miserable finanzielle Situation jedoch keineswegs verbessert. Vielmehr wurden dadurch die Staatskassen geschont. Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge könnten die Ausgaben für Aufstocker durch den Mindestlohn um 700 bis 900 Millionen Euro sinken.

Viele Arbeitgeber haben von Anfang an versucht, den Mindestlohn zu umgehen. Bereits wenige Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes liefen die Leitungen der Telefon-Hotline der Gewerkschaft DGB heiß. Der Spiegel berichtet in einer Reportage vom 20. Januar 2015 über 450 Anrufe täglich, in denen sich Arbeitnehmer u.a. über Umgehungsversuche ihrer Chefs beschwerten.

Gibt man bei Google „Mindestlohn umgehen“ ein, erhält man gleich an zweiter Stelle den Link zu einer Anwaltskanzlei, die mit „Strategien zur Umgehung des Mindestlohngesetzes 2015“ wirbt. Möglichkeiten sind die Umwandlung der Arbeitsverhältnisse in solche der freien Mitarbeit, der Scheinselbständigkeit oder in Werkverträge. Die Verkürzung der Arbeitszeit oder die Umbenennung des Bereitschaftsdienstes – beispielsweise von Taxifahrern, die auf den nächsten Gast warten – in „Pausen“ stellen weitere sogenannte „Strategien“ dar.

Dabei handelt es sich keineswegs um illegale Methoden. Das Mindestlohngesetz selbst legt den Grundstein für dessen Umgehung. Durch Übergangsregelungen und Begrenzungen des Anwendungsbereiches gibt es schon jetzt zahlreiche Ausnahmen.

Langzeitarbeitslose haben für die ersten sechs Monate ihrer Tätigkeit keinen Anspruch auf den Mindestlohn. Bereits abgeschlossene Branchenmindestlöhne können bis zum 1. Januar 2017 auch weniger als 8,50 EUR betragen. Für Zeitungszusteller gilt zudem lediglich eine gestaffelte Erhöhung des Lohnes. Erst ab 2017 haben sie einen vollen Anspruch auf die 8,50 EUR. Auch Praktikanten können nur unter bestimmten Voraussetzungen den Mindestlohn verlangen.

Als das Gesetz am 3. Juli 2014 im Bundestag verabschiedet wurde, feierte man es auf der Website des Bundestages als eine „Entscheidung mit historischer Tragweite“. Der Abstimmung war eine jahrelange Debatte vorausgegangen, die insbesondere von der SPD und den Gewerkschaften geführt wurde. Durch den Mindestlohn sollte davon abgelenkt werden, dass sich Deutschland maßgeblich unter ihrer Feder in ein Billiglohnland verwandelt hatte.

Mit der „Agenda 2010“ und den Hartz-Gesetzen hat sich ein Niedriglohnsektor entwickelt, der zu Spitzenzeiten ein Viertel aller sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten erfasste. Nach einer Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen betrug 2010 der Anteil der Geringverdiener 23,1 Prozent. 2013 waren es 24,4 Prozent.

Die Niedriglohnschwelle errechnet sich dabei aus zwei Dritteln des mittleren Brutto-Stundenlohns und beträgt meist knapp über 9 EUR. Aktuell liegt die Grenze zwischen 9,30 EUR und 9,40 EUR. Mit anderen Worten, wer heute nur den Mindestlohn bekommt, liegt weit unter der Schwelle des Niedriglohnsektors.

Der Klägerin aus Brandenburg stehen mit 1507,30 EUR brutto nur ca. 1147 EUR netto zur Verfügung. Für eine 60 qm Wohnung in Brandenburg an der Havel müssen im Durchschnitt 460 EUR warm ausgegeben werden. Zum Überleben bleiben dann monatlich 687 EUR, wovon weitere Fixkosten wie Strom, Zusatzversicherungen, Auto und dergleichen noch abgehen. Und das für einen 40 Stundenjob im Schichtbetrieb.

Da wirkt es wie Hohn, wenn Arbeitsministerin Andrea Nahles Anfang April bilanzierte: „Der Mindestlohn wirkt. [...] Wer einen ganzen Tag hart arbeitet, kann damit auch zurechtkommen. Damit haben wir ein Mindestmaß von Anstand und Fairness gegenüber jedem, der die Ärmel hochkrempelt und versucht auf eigenen Beinen zu stehen, wieder fest in unserer Gesellschaft verankert.“

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