Brasilien: Senat suspendiert Präsidentin Dilma Rousseff

Die 20-stündige Diskussion im brasilianischen Senat dauerte bis gestern Morgen um viertel vor sechs. Am Ende beschloss der Senat, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff einzuleiten und sie damit zu suspendieren. Zwar war nur eine einfache Mehrheit nötig, um das Verfahren gegen die Präsidentin von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) zu eröffnen. Am Ende konnten ihre Gegner jedoch 55 Stimmen – zwei Drittel aller Senatoren – dafür aufbieten, und nur 22 stimmten dagegen.

Mit diesem Schritt wird die über 13-jährige Herrschaft der Arbeiterpartei in Brasilien praktisch beendet und eine extrem rechte Regierung an die Macht gebracht. Sie wird die Angriffe auf den Lebensstandard und auf grundlegende Rechte der brasilianischen Arbeiter verdoppeln, die bereits unter der Rousseff-Regierung begonnen haben.

Im Verlauf der Senatsdebatte kam es in der Hauptstadt Brasilia und im ganzen Land zu vereinzelten Demonstrationen sowohl für als auch gegen das Amtsenthebungsverfahren.

In Washington bekräftigte der Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, die Obama-Regierung habe „Vertrauen in die reifen, belastbaren, demokratischen Institutionen in Brasilien, um der Herausforderung standzuhalten“.

Juristisch gesehen leitet die Abstimmung im Senat nur eine Gerichtsverhandlung ein, an deren Ende der Senat innerhalb von 180 Tagen entscheiden muss, ob Rousseff angeklagt und endgültig abgesetzt wird oder nicht. Dazu ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Ihre Suspendierung hat allerdings einstweilen den Weg für ihren Nachfolger, Vizepräsident Michel Temer, freigemacht. Er wird eine massive Säuberungsaktion unter den Regierungsbeamten durchführen.

Noch am Dienstag hatte der Justizminister vergeblich versucht, das Amtsenthebungsverfahren in letzter Minute durch einen Beschluss des Obersten Gerichts aufzuhalten. Ein weiterer Antrag an dieses Gericht, es möge Temer verbieten, Minister zu entlassen und sein eigenes Kabinett zu ernennen, fand beim Obersten Gericht ebenfalls keine Mehrheit.

Brasiliens gesamtes politisches Establishment und einige der reichsten Geschäftsleute sind in einen umfangreichen Schmiergeld- und Bestechungsskandal verwickelt. Darin geht es um Verträge mit dem staatlichen Energieriesen Petrobras. Im Gegensatz dazu wird Rousseff angeklagt, weil sie vorschriftswidrig Gelder von öffentlichen Banken transferiert und dadurch staatliche Programme verzögert haben soll. Vor ihrer Wiederwahl 2014 soll sie angeblich den tatsächlichen Stand des Haushalts verschleiert haben. Die Präsidentin und ihre Anhänger machen geltend, dass solche Praktiken nichts Neues seien. Jeder ihrer Vorgänger aus jüngster Zeit habe sie angewandt.

Gegen 60 Prozent der Senatsmitglieder, die für das Amtsenthebungsverfahren gestimmt haben, laufen selbst Anklagen wegen verschiedener Delikte. In den meisten Fällen geht es um Geldwäsche und Korruption. 13 von ihnen müssen in Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal mit einem Verfahren vor dem Obersten Gericht rechnen. Wieder andere sind in Verfahren verwickelt, bei denen die Vorwürfe von Mord über Vergewaltigung bis hin zur Ausbeutung von Sklavenarbeit reichen.

Rousseff war Vorstandsvorsitzende von Petrobras, als dort etwa zwei Milliarden Dollar im Schmiergeldsystem versickerten. Doch obwohl ihr und ihrem Vorgänger im Präsidentenamt, dem Gründer der Arbeiterpartei Luis Inacio Lula da Silva, ebenfalls Ermittlungsverfahren drohen, gibt es bisher keine Beweise, die sie mit den kriminellen Aktivitäten in Verbindung bringen.

Stattdessen hat man das Amtsenthebungsverfahren auf der Grundlage eines fadenscheinigen Vorwands durchgeführt. Das Ziel ist eine radikale Veränderung der Regierungspolitik, wie die Finanzmärkte sie seit langem fordern.

Brasilien ist mit der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er-Jahre konfrontiert. Man erwartet, dass die Wirtschaft das zweite Jahr in Folge um mindestens vier Prozent schrumpfen wird. Jeden Monat werden etwa 100.000 Entlassungen durchgeführt, und die Inflation hat den Lebensstandard der Bevölkerung drastisch reduziert.

Die Regierung der Arbeiterpartei hatte bereits mit einschneidenden Sparmaßnahmen begonnen. Rousseff und andere PT-Führer hatten argumentiert, sie allein besäßen die „Legitimation“, um solche Angriffe durchzuführen. Dabei rechneten sie auch mit der Unterstützung des Gewerkschaftsverbands CTU. Entscheidende Teile der brasilianischen herrschenden Klasse sowie ausländische Investoren bestanden jedoch auf einem Regierungswechsel.

Während der langwierigen Diskussion im Senat machten mehrere Befürworter des Amtsenthebungsverfahrens deutlich, dass dies der wirkliche Grund für die Absetzung von Rousseff ist, und nicht etwa die vorgeschobenen haushaltspolitischen Sünden. Senator Raimundo Lira von der PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens), der Vorsitzende der Sonderkommission zur Amtsenthebung, erklärte dort: „Wir durchleben eine Krisensituation, die nur mit dem Sturz von Rousseff gelöst werden kann.“

Rousseff und ihre Anhänger haben die Amtsenthebung als „Putsch“ verurteilt. Doch die unbequeme Wahrheit lautet, dass die rechten Parteien und korrupten Politiker, die sie aus dem Amt gedrängt haben, fast alles Verbündete und Partner der PT und ihrer Regierung waren.

Die 13-jährige Herrschaft der Arbeiterpartei hat die Rechten regelrecht herangezüchtet und sie mit Regierungsposten und Schmiergeldern für ihre politische Unterstützung belohnt. Gleichzeitig haben die Korruption und die pro-kapitalistische Politik der PT-Regierung die Basis untergraben, die diese Partei einst in der brasilianischen Arbeiterklasse besaß.

Vizepräsident Temer hat seinen neuen Posten als Interims-Präsident schon gestern Vormittag angetreten. Wie die Zeitung Folha de S.Paulo am Mittwoch berichtete, hatte er schon eine Rede vorbereitet, um dem brasilianischen Volk mitzuteilen, dass die Wirtschaftssituation kritisch sei und die Bevölkerung zusammenhalten müsse, um weitreichende Notmaßnahmen zu unterstützen.

Temers Partei, die PMDB, stellt das Programm der künftigen Regierung als eine „Brücke in die Zukunft“ dar. In Wirklichkeit ist es eine Brücke in die Vergangenheit – ein Versuch, die sozialen Rechte, die 1988 in die Verfassung aufgenommen wurden, auszuradieren. Diese Verfassung wurde drei Jahre nach dem Ende der über 20-jährigen Militärdiktatur verabschiedet.

Temer hat bereits gestern ein neues Kabinett vorgestellt. Mit den Ministern der Rousseff-Regierung wird praktisch restlos aufgeräumt. Ein Abgeordneter der PMDB erklärte, es sei notwendig, ein „Machtvakuum“ zu vermeiden.

Die wichtigsten Neubesetzungen haben mit dem Wirtschaftsressort zu tun. Der neue Chef der Zentralbank ist Ilan Goldfajn, Chefvolkswirt und Partner der Itaú Unibanco, Brasiliens größter Privatbank. Goldfajn hatte diesen Posten schon unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2003) inne. Er fordert die Abschaffung derjenigen Verfassungsparagraphen, die eine Finanzierung der medizinischen Versorgung, des Rentenprogramms und der Unterstützung für die Armen verlangen. Seiner Ansicht nach sind die Löhne zu hoch und die Arbeitslosigkeit zu niedrig, als dass die Inflation sinken könnte. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Bank of Boston und Zentralbankpräsident, Henrique Meirelles, wird zum Wirtschaftsminister ernannt. Ihm wird damit die Verteidigung der Interessen des brasilianischen und internationalen Kapitals anvertraut.

Zum Chef des Verteidigungsministeriums will Temer Newton Cardoso Jr. ernennen, einen 36-jährigen PMDB-Abgeordneten aus dem Bundesstaat Minas Gerais. Laut Folha hat diese Wahl zu Protesten im Oberkommando der Armee geführt, die ihn für zu jung und politisch unerfahren halten, um die Streitkräfte unter den Bedingungen einer heftigen politischen Krise zu führen. Auch nicht gerade hilfreich ist die Tatsache, dass er und sein Vater, der ehemalige Gouverneur von Minas Gerais, in den Panama-Papieren genannt werden, weil sie ein Offshore-Bankkonto führten, um einen 1,9 Millionen Dollar teuren Hubschrauber und ein Appartement in London für 1,2 Millionen Pfund zu kaufen.

Zum Justizminister hat Temer Alexandre de Moraes ernannt, den rechten Verantwortlichen für öffentliche Sicherheit in Sao Paulo, unter dessen Leitung die Militärpolizei bisher jedes Jahr mehr Menschen getötet hat als die gesamte US-amerikanische Polizei zusammengenommen.

Neueste Umfragen zeigen, dass die Zustimmungsrate für Rousseff bei etwa zehn Prozent liegt und die Zustimmung für ihre Amtsenthebung bei 60 Prozent. Allerdings ist Temers Popularität noch niedriger, und eine ähnlich große Mehrheit fordert auch seine Absetzung.

Auch Temer droht eine Amtsenthebung, auch gegen ihn laufen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal. Er wird die Krise kaum in den Griff bekommen. Der Machtantritt dieser illegitimen Regierung trifft daher mit einer deutlichen Verschärfung des Klassenkampfs in Brasilien zusammen.

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