Am Mittwoch gab der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu seine Entscheidung bekannt, als Vorsitzender der amtierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), und damit auch als Ministerpräsident zurückzutreten. Während einer Pressekonferenz nach dem Treffen des Zentralvorstands seiner Partei erklärte er, die AKP werde einen Sonderparteitag einberufen, um seinen Nachfolger zu wählen.
Die Rücktrittentscheidung ist eine Reaktion auf die tiefen Konflikte innerhalb der Staatsführung angesichts der türkischen Beteiligung am Bürgerkrieg in Syrien, der wachsenden Spannungen mit Russland und des erneuten blutigen Bürgerkrieges gegen die kurdische Minderheit im eigenen Land.
Im Vorfeld von Davutoglus Rücktritt war es wiederholt zu Handgreiflichkeiten im Parlament gekommen. Die Bestrebungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) zu unterdrücken, führen zu heftigen Auseinandersetzungen. Letzte Woche und am Montag kam es in der Nationalversammlung zu Handgreiflichkeiten aufgrund der Drohungen der AKP, die parlamentarische Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben und sie wegen Terrorismus anzuklagen.
Davutoglus Rücktritt ging ein kaum verhohlener Konflikt zwischen ihm und Erdogan voraus. Am 29. April schränkte der Zentralvorstand der AKP, der von Erdogans Anhängern dominiert ist, Davutoglus Recht als AKP-Vorsitzender ein, regionale Parteifunktionäre zu ernennen. Vor einem Krisentreffen am Mittwoch ermahnte Erdogan Davutoglu offen und unverhohlen: "Vergessen Sie nicht, wie sie auf Ihren Posten gekommen sind."
Nach dem Treffen am 29. April wurde in den Medien über Davutoglus politische Zukunft spekuliert. Es wurden gezielt Gerüchte verbreitet, Erdogan wolle Davutoglu durch einen engen Vertrauten, wie Verkehrsminister Binali Yildirim oder seinen Schwiegersohn, Energieminister Berat Albayrak ersetzen.
Erdogan erklärte zu Davutoglus Rücktritt nur knapp, es sei "die Entscheidung des Ministerpräsidenten". Dieser hatte jedoch deutlich gemacht, dass er damit auf tiefe Spaltungen innerhalb der AKP reagierte.
Er erklärte, er sei über die Entscheidung erbost, ihm seine Vollmachten als Parteivorsitzender abzuerkennen: "Ich habe wegen meiner Werte und Prinzipien nie über einen Posten oder eine Position verhandelt." Weiter sagte er:" Aufgrund meiner eigenen Überlegungen und Gespräche mit politisch erfahrenen Freunden, zu denen auch unser Präsident gehört, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, statt Kollegen auszutauschen den Parteivorsitz zum Wohle der Einigkeit der AKP zu räumen... Das Schicksal der AKP ist das Schicksal der Türkei."
Davutoglu rief zur Loyalität gegenüber Erdogan auf und fügte kryptisch hinzu: "Niemand sollte es wagen, neue Verschwörungen zu beginnen."
Davutoglus Rücktritt legt explosive Konflikte innerhalb der türkischen Regierung und der Bourgeoisie offen.
Als ehemaliger Innenminister ist sich Davutoglu bewusst, dass die Türkei durch Erdogans Politik großen Schaden erlitten hat. Sie hat gleichzeitig Ankaras Beziehungen zu den USA, der Europäischen Union und Russland beschädigt. Die AKP ist auch für eine beispiellose soziale Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit verantwortlich. Fast die Hälfte der türkischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, während eine winzige Elite über riesige und wachsende Vermögen verfügt.
Davutoglu war zwar vorsichtig genug, Erdogan nicht öffentlich zu kritisieren, doch er hat sich in vielen kontroversen Themen von ihm distanziert, u.a. bei Erdogans Versuch, durch den Aufbau eines "Präsidialsystems" und Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Presse die Macht noch stärker in seinen Händen zu konzentrieren. Eine dieser Maßnahmen sieht die Verhaftung von Journalisten vor Prozessbeginn vor.
Die Spaltung innerhalb der islamistischen AKP zwischen Erdogan und Davutoglu stellt ein neues Stadium im Zerfall der AKP angesichts der politischen Nachwirkungen der revolutionären Erhebungen in Ägypten 2011 und des Beginns des Nato-Krieges in Syrien im gleichen Jahr dar. Nach anfänglichem Zögern unterstützte die AKP den Kriegskurs der Nato. Der Putsch gegen das islamistische Regime unter Präsident Mohammed Mursi in Ägypten 2013 fiel mit den Protesten im Istanbuler Gezi-Park im Juni des gleichen Jahres zusammen. Beide Ereignisse stellten eine Gefahr für die AKP-Regierung dar.
Seither hat Erdogan im In- und Ausland eine noch kriegerischere Politik betrieben. Im Inland nahm er den Bürgerkrieg gegen die kurdische Minderheit in der Türkei wieder auf. Im November provozierte er mit Unterstützung durch die USA beinahe einen Krieg gegen Russland, indem er ein russisches Flugzeug über Syrien abschießen ließ. Es wird immer deutlicher, dass er ein "präsidiales System" aufbauen will, um die unlösbaren politischen Widersprüche durch die Errichtung eines autoritären Regimes zu bewältigen.
Während sich die Zahl der Toten erhöht und die Zerstörung kurdischer Städte zunimmt, versucht die AKP durch eine Verfassungsänderung die Immunität von 129 Abgeordneten abzuerkennen, d.h. von fast einem Viertel der Gesamtzahl.
Am Dienstag unterstützte die Verfassungskommission des türkischen Parlaments einen Plan der AKP, die türkische Verfassung um eine zeitlich begrenzte Klausel zu erweitern, die die Immunität der Abgeordneten aufhebt. Der Vorschlag wurde mit der Unterstützung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) angenommen, die HDP stimmte dagegen.
Während der Sitzung der Kommission gingen AKP-Abgeordnete auf ihre Kollegen von der HDP los. Diese verurteilten die Entscheidung der Kommission als "Putsch." Nach dem Übergriff auf die HDP-Abgeordneten zogen sich diese aus der Kommission zurück.
Der Ko-Präsident der HDP, Selahattin Demirtas, erklärte am gleichen Tag beim wöchentlichen Treffen seiner Partei, sie würde über Alternativen diskutieren, wenn HDP-Abgeordnete verhaftet und angeklagt würden. Er erklärte: "Die Bürger könnten mehrere Parlamente bilden, wenn sie wollten." Er rief zur Untersützung der HDP auf und forderte von der CHP, sich an ihrer Seite gegen die AKP zu stellen.
Die HDP hatte ursprünglich den sogenannten Friedensprozess der AKP mit den Kurden unterstützt, wurde aber seither von Erdogan und Davutoglu immer wieder beschuldigt, eine "Terrororganisation" zu unterstützen, d.h. die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Ankaras Haltung zur "kurdischen Frage" hat sich während des Krieges in Syrien radikal geändert. Russland hat den von der AKP unterstützten islamistischen Kräften vernichtende Schläge zugefügt, während die amerikanischen und europäischen Imperialisten kurdische Kräfte unter der Führung des syrischen Ablegers der PKK als neue Stellvertreter im Irak und Syrien unterstützen.
Davutoglu hat die brutale und aggressive Politik der AKP in Syrien und der Türkei unterstützt. Vor kurzem sprach er sich gegen die Forderung nach Autonomie für den hauptsächlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei aus und erklärte, es sei unentschuldbar, dass sich die Abgeordneten "hinter dem Schutz ihrer parlamentarischen Immunität verstecken" und gleichzeitig den Terrorismus unterstüten. Angeblich spielte er auch eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des schmutzigen Deals mit der EU, in dem sich die Türkei bereit erklärte, Flüchtlinge aus Syrien nicht nach Europa weiterreisen zu lassen.
Allerdings hat sich Erdogan zum Hauptverantwortlichen für die Angriffe auf die Pressefreiheit und die Hetzkampagne gegen die HDP entwickelt. Obwohl der türkische Präsident zuvor den sogenannten Friedensprozess mit der PKK eingeleitet hatte, wirft er den HDP-Abgeordneten immer wieder vor, sie seien Anhängsel der PKK und fordert ein juristisches Vorgehen gegen sie. Dabei wird er vom Militär und der MHP unterstützt.
Davutoglus Rücktritt und die anhaltenden Angriffe auf kurdische Nationalisten stürzen nicht nur die Türkei in politische Unsicherheit, sondern auch ihre imperialistischen Gönner. Diese betrachten die Türkei als nützlichen Verbündeten bei ihren Kriegsplänen im Nahen Osten und ihrem Vorgehen gegen die Millionen von Flüchtlingen aus der Region.
Der außenpolitische Berater Ian Bremmer erklärte in einem Interview mit dem UK Business Insider: "Davutoglu war als das kooperative, westlich orientierte Gesicht der Regierung besonders wichtig beim Zustandekommen des Flüchtlingsdeals mit der EU. Es wird eine gefährliche Zeit für die Opposition werden."
Soner Cagaptay vom Washington Institute for Near East Policy erklärte, wenn Erdogan seine Macht weiter ausbaue, werde „das Land politisch so brüchig werden, dass es nach seinem Rücktritt praktisch keine Institutionen mehr geben wird, die das Land zusammenhalten."