Nach 41 Jahren als politischer Gefangener kommt Gary Tyler frei

Am 29. April verließ Gary Tyler im Alter von 57 Jahren das berüchtigte Louisiana State Penitentiary als freier Mann. Tyler hatte sein gesamtes Erwachsenenleben in dem Hochsicherheitsgefängnis des gleichnamigen amerikanischen Bundesstaats verbracht, das auch „Angola“ genannt wird. Er saß für ein Verbrechen ein, das er nicht begangen hatte.

Gary Tyler 1985

Sein Fall gehört zu den brutalsten Justizkomplotten der neueren amerikanischen Geschichte. Seine staatliche Verfolgung ist ein Beispiel für den gewalttätigen und repressiven Charakter der Klassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten und für das antidemokratische Wesen des US-„Rechts“systems.

Die Workers League und die Young Socialists, die Vorläuferorganisationen der Socialist Equality Party (SEP) und der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE), führten den Kampf um die Freilassung Gary Tylers an. Unsere Bewegung kämpfte auf nationaler und internationaler Ebene, um die Arbeiterklasse zu seiner Verteidigung zu mobilisieren. Dabei betonten wir, dass es in der Verschwörung gegen ihn im Wesentlichen um Klassenfragen ging. Das Komplott war ein Angriff auf die Arbeiterklasse als Ganze.

1974, als Tyler 16 Jahre alt und Schüler an der Destrehan High School in einem Außenbezirk von New Orleans war, wurde er verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Man beschuldigte ihn, den 13-jährigen weißen Schüler Timothy Weber am 7. Oktober erschossen zu haben. Der Mord geschah in einer von Rassenspannungen aufgeladenen Atmosphäre, die von Elementen wie David Duke geschürt wurde, der damals zu einer führenden Figur im Ku-Klux-Klan in Louisiana und ganz Amerika aufstieg. Heute unterstützt Duke den republikanischen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump. Anlass der damaligen Spannungen war die Entscheidung eines Gerichts, die Rassentrennung in Destrehan und anderen High Schools aufzuheben.

Gary Tyler Ende 1977

Tyler gehörte zu einer Gruppe afroamerikanischer Schüler an der Destrehan High School, die an diesem Tag wegen der angespannten Situation an der Schule früher nach Hause geschickt wurden. Als der Schulbus davonfuhr stand Weber bei zahlreichen weißen Schülern und Erwachsenen, die Schimpfworte riefen. Plötzlich fiel ein Schuss, der Weber tödlich traf.Tyler wurde von der Polizei willkürlich herausgegriffen und ins örtliche Gefängnis gebracht, wo er brutal misshandelt wurde.

Man hielt ihn ein Jahr lang im Gefängnis fest, bis er 17 war und dem Erwachsenenstrafrecht unterlag. Die Anklage, die auf Mord ersten Grades lautete, bedeutete die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Der neuntägige Prozess war eine Farce. Während der Spurensicherung konnte keine Tatwaffe gefunden werden. Nachträglich wurde eine Pistole als Mordwaffe präsentiert, die von einem Schießstand der Polizei „verschwunden“ war und die später wieder verloren ging. Der Richter war Berichten zufolge Mitglied des White Citizen Council, einer Organisation, die die Vorherrschaft der Weißen propagierte.

Die einzigen „Beweise“ gegen Tyler waren Zeugenaussagen von weißen und schwarzen Schülern, die beim Prozess ihre Aussagen widerriefen. Einige erhoben den Vorwurf, sie seien eingeschüchtert und von der Polizei bedroht worden, damit sie gegen Tyler falsch aussagten.

Eine Jury, der nur Weiße angehörten, verhängte gegen Tyler am 1. Mai 1976, fast genau 40 Jahre vor seiner Entlassung, die Todesstrafe. Im „Angola“ verbrachte er zwei Jahre in der Todeszelle. Zu der Zeit war er der jüngste Todeskandidat in den USA. Erst nach einem Urteil des Supreme Court im Jahr 1977, dass die gesetzlichen Bestimmungen des Staates Louisiana zur Todesstrafe verfassungswidrig seien, wurde das Todesurteil in lebenslängliche Haft ohne Bewährung umgewandelt. Die Justiz von Louisiana übte Vergeltung, indem sie den jungen Mann acht Jahre in Einzelhaft hielt.

Obwohl das Berufungsgericht des Fünften Gerichtsbezirks der Vereinigten Staaten geurteilt hatte, dass der Prozess gegen Tyler verfassungswidrig und „von Grund auf unfair“ war, wurde seine Freilassung abgelehnt und es wurde ihm auch kein neuer Prozess gewährt. Die Generalstaatsanwälte von Louisiana, Texas und Florida appellierten stattdessen an das Gericht des Fünften Bezirks, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Ihre Befürchtung war, dass ein neuer Prozess für Gary eine ganze Reihe ähnlicher Justizkomplotte im Süden platzen lassen könnte. 1981 hob das Appellationsgericht sein eigenes Urteil wegen eines Formfehlers auf.

Tylers Anwälte legten beim Supreme Court Berufung dagegen ein, doch dieser nahm den Fall nicht an.

Beide Parteien der Wirtschaft, Demokraten wie Republikaner, haben gemeinsam das Justizkomplott und die jahrzehntelange Haft von Tyler zu verantworten.Unter Präsident Gerald Ford und dem demokratischen Gouverneur von Louisiana, Edwin Edwards, wurde der Teenager weggeschlossen. Der Demokrat Charles „Buddy“ Roemer sorgte als Gouverneur dafür, dass Tyler nicht freikam, obwohl drei voneinander unabhängige Empfehlungen des Begnadigungsausschusses von Louisiana vorlagen, sein Strafmaß zu reduzieren. Damit wäre Tyler schon vor vielen Jahren freigekommen.

1994 erklärte ihn Amnesty International zum politischen Gefangenen. 2008 schied die demokratische Gouverneurin Kathleen Blanco aus dem Amt, ohne neue Appelle von prominenten Journalisten und Kulturschaffenden für Tylers Freilassung zu berücksichtigen

Der Bundesstaat Louisiana setzte Tyler erst dann auf freien Fuß, als er nach mehreren Urteilen des Supreme Court nicht mehr anders konnte. In Anlehnung an den Fall Miller gegen Alabama, bei dem das Gericht 2012 entschieden hatte, dass die Todesstrafe für jugendliche Straftäter ohne die Möglichkeit der Bewährung die US-Verfassung verletze, stellte Tylers Anwalt 2013 einen Antrag auf Freilassung. Bereits Anfang 2013 hatte der Supreme Court im Fall Montgomery gegen Louisiana entschieden, dass seine Entscheidung im Fall Miller gegen Alabama rückwirkend anzuwenden sei.

Dennoch bestand der Staat darauf, dass Tyler, der stets seine Unschuld beteuert hatte, sich als Gegenleistung für seine Freiheit des Totschlags für schuldig erklären müsse.Letzten Freitag nahm ein Richter des Bundesstaats Tylers Geständnis an und verurteilte ihn wegen Totschlags zu 21 Jahren Gefängnis, wesentlich weniger, als er schon abgesessen hatte.

Tyler, der während seiner Zeit im Gefängnis beide Eltern und mehrere Geschwister verlor, konnte zum ersten Mal seit dem Alter von 16 Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen.

Die Verhaftung Tylers, das Komplott gegen ihn und seine Verurteilung ereigneten sich vor dem Hintergund einer wachsenden ökonomischen und politischen Krise des amerikanischen Kapitalismus. Der Schuss an der Destrehan High School fiel nur wenige Wochen, nachdem Nixon wegen der Watergatge-Enthüllungen als erster amtierender Präsident der Vereinigten Staaten hatte zurücktreten müssen.

Auf internationaler Ebene taumelten die USA in Vietnam einer schmachvollen Niederlage entgegen.

Zum politischen Hass auf Nixon kamen militante Kämpfe der Berg- und Autoarbeiter, der Lehrer, der Angestellten des Öffentlichen Dienstes und anderer Teile der Arbeiterklasse gegen die ersten Versuche der amerikanischen herrschenden Klasse hinzu, die Kosten ihres ökonomischen Niedergangs auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Unter Nixons Nachfolger Gerald Ford gerieten die USA in die bis dahin tiefste Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die auch unter der Regierung des Demokraten Carter anhielt.

Unter der Präsidentschaft Ronald Reagans begann die herrschende Klasse eine Gegenoffensive, die alle bisherigen sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse und ihre demokratischen Rechte unter Beschuss nahm. Diese Klassenkriegspolitik wird seither unvermindert weitergeführt. Die Gewerkschaften haben dabei Schützenhilfe geleistet, weil sie jeden Kampf der Arbeiterklasse gegen Massenentlassungen, Fabrikschließungen, Lohnsenkungen und Angriffe auf die Gewerkschaften selbst verraten haben. Am Beginn stand ihre de-facto-Allianz mit der Reagan-Regierung gegen die streikenden Fluglotsen der Gewerkschaft PATCO 1981.

Als die Workers League und die Young Socialists 1976 vom Justizkomplott und der drohenden Hinrichtung Tylers erfuhren, organisierte unsere Bewegung eine machtvolle und anhaltende Kampagne in der Arbeiterklasse für seine Freilassung. Wir verstanden, dass es sich um einen Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse handelte, und dass Tylers Freilassung nur erreicht werden konnte, wenn die Arbeiter unabhängig von und in Opposition gegen beide kapitalistische Parteien mobilisiert würden.

Die Young Socialists gaben eine Broschüre heraus, The Frameup of Gary Tyler, die in drei Auflagen erschien und mehrere zehntausend Mal verkauft wurde. Sie zeigte die wesentlichen Fakten auf, erklärte, warum es sich um einen Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse handelte, und rief zur Einheit von schwarzen und weißen Arbeitern auf, um Tylers Freilassung zu erreichen.

Juanita Tyler spricht auf einer Konferenz der Young Socialists in Detroit 1976.

Einleitend hieß es in der Broschüre, dass Tylers Freiheit und die anderer politischer Gefangener nicht „durch Proteste und Appelle an die Regierung und ihre Gerichte“ erreicht werden könne. „Genau diese Kräfte sind für die Justizkomplotte verantwortlich, die Teil ihrer Vorbereitungen auf die schärfsten Angriffe auf die grundlegenden Rechte aller Arbeiter und Jugendlichen sind. Die Verteidigung Gary Tylers bedeutet, die Stärke der Arbeiterklasse gegen Jimmy Carter und das kapitalistische System zu mobilisieren, das für diese Angriffe verantwortlich ist.“

Im Zeitraum von wenigen Monaten sammelten wir 40.000 Unterschriften für Petitionen. Gewerkschaftsgremien, die Hunderttausende von Arbeitern repräsentierten, unterstützten den Kampf für Tylers Verteidigung. Unsere Bewegung führte diesen Kampf auf internationaler Ebene und die Forderung nach Tylers Freilassung gewann breite Aufmerksamkeit. Neben anderen schrieben Gil Scott Heron und UB 40 Songtexte für die Kampagne.

Demonstration der Young Socialists für Tylers Freilassung in Harlem im December 1976

Am 4. Dezember 1976 organisierten die Young Socialists eine beeindruckende Demonstration und Kundgebung in Harlem, New York. Hunderte junge Leute und Arbeiter, Autoarbeiter, Arbeiter der Nahverkehrsunternehmen, Lehrer und im Streik befindliche Zeitungsredakteure, nahmen daran teil, um Tylers Freilassung zu fordern und die politischen Implikationen des Komplotts zu diskutieren.

Tyler richtete eine Botschaft an die Demonstranten: „Ich schicke euch diese Zeilen aus dem Gefängnis. Ich schätze sehr, was ihr tut, um Gerechtigkeit für mich zu erreichen. Nach Meinung der Regierung gibt es Gerechtigkeit in diesem Land. Aber wie kann es Gerechtigkeit geben, wenn die Demokratie nur für die Reichen gilt und nicht für die Arbeiterklasse, schon gar nicht für die Armen? … Demokratie für eine kleine Minderheit, Demokratie für die Reichen – das ist die Demokratie der kapitalistischen Gesellschaft.“

Tom Henehan (rechts) führt die Demonstration in Harlem 1976 an.

1977 wurde Tom Henehan, ein führendes Mitglied der Workers League, bei einer Freizeitveranstaltung der Young Socialists in Brooklyn, die Spenden für die Verteidigung Tylers sammelte, Opfer eines politischen Mordes. 1985 veröffentlichten wir in einer Broschüre ein Interview, das Tyler D’Artagnan Collier, dem Nationalen Sekretär der Young Socialists, gegeben hatte, als dieser den 27-jährigen im „Angola“ besuchte.

Die Young Socialists führen ein Interview mit Gary Tyler im „Angola“ am 10 Juli 1985.

Die Socialist Equality Party, die IYSSE und die World Socialist Web Site machten national und international immer wieder auf Tylers Schicksal aufmerksam, während die Medien es totschwiegen. 2012 fand im Rahmen der Präsidentschaftskampagne von Jerry White eine Veranstaltung der SEP statt, die Tylers Freilassung forderte. Auch Tylers Mutter, Juanita Tyler, war anwesend. Sie starb bald darauf im Alter von 80 Jahren.

Gary Tylers Verurteilung und seine langen Jahre im Gefängnis entlarven den brutalen Klassencharakter des amerikanischen Rechtssystems und seines riesigen Gefängnisapparates. Seit dem Komplott gegen ihn hat sich der Angriff auf den Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse verschärft. Unter dem Vorwand des „Kriegs gegen den Terror“ und insbesondere seit dem Börsenkrach an der Wall Street 2008 ist er ständig eskaliert. Unter der Obama-Regierung hat er – parallel zur Ausweitung von Kriegen, einem Rekordanstieg der sozialen Ungleichheit und einer Zunahme von staatlicher Überwachung und der Militarisierung der Polizei – beispiellose Ausmaße erreicht.

Die Fragen, die unsere Bewegung im Kampf für Gary Tylers Freiheit über den untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Kampf zur Verteidigung demokratischer Rechte und dem Kampf für den Sozialismus aufbrachte, sind heute genauso drängend wie damals.

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