Perspektive

Die US-Wahlen und die gesellschaftliche Realität

Die Studie, die diese Woche vom Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, befasst sich mit der immer größer werdenden Kluft bei der Lebenserwartung von Arm und Reich in den USA und wirft ein neues Licht auf die gravierenden Auswüchse sozialer Ungleichheit.

Der Bericht basiert auf der Untersuchung von etwa 1,4 Milliarden Steuerunterlagen und dokumentiert die Tatsache, dass ein höheres Einkommen in engem Zusammenhang mit einer höheren Lebenserwartung steht. Die Studie zeigt, dass diese zwischen dem reichsten Prozent und dem ärmsten Prozent bei Männern um 14,6 Jahre und bei Frauen um 10,1 Jahre auseinanderklafft. Sie ermittelte außerdem, dass sich die Lebenserwartung für die obersten fünf Prozent der Einkommensbezieher zwischen 2001 und 2014 um fast drei Jahre erhöht hat, während sie für Personen aus den untersten fünf Prozent fast überhaupt nicht gestiegen ist.

Die Forscher stellten fest, dass amerikanische Männer aus dem untersten Prozent der Einkommenspyramide im Alter von 40 Jahren eine Lebenserwartung haben, die der durchschnittlichen Lebenserwartung von 40-jährigen Männern im Sudan und Pakistan entspricht. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Angus Deaton erklärte in einem Kommentar zu den Ergebnissen: „Es ist, als wenn die obersten Einkommensprozente einer eigenen Welt der Elite, der reichen amerikanischen Erwachsenen, angehören, während die untersten Einkommensprozente in völlig anderen, davon getrennten Welten der Armut leben, jede davon auf ihre Art unglücklich und ungesund.“

Deaton und Anne Case, ebenfalls Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität von Princeton, haben im letzten Jahr einen Bericht veröffentlicht, der einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeitsrate von weißen Amerikanern mittleren Alters aus der Arbeiterklasse im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre aufzeigt. Dieser Anstieg war eng verbunden mit einer dramatischen Zunahme von Todesfällen durch Selbstmorde, Drogenmissbrauch und Alkoholismus, den typischen Begleiterscheinungen wirtschaftlicher und sozialer Not.

Die drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen in den USA ist nicht das Ergebnis von unpersönlichen ökonomischen Faktoren, geschweige denn individuellem Versagen. Sie sind das Ergebnis einer bewussten Politik, die die herrschende Klasse Amerikas diktiert und die beiden großen politischen Parteien in den letzten vier Jahrzehnten umgesetzt haben, um die Arbeiterklasse für die Krise des amerikanischen Kapitalismus bezahlen zu lassen.

Die Arbeiter erlitten einen historischen Niedergang ihrer sozialen Position. Während des Nachkriegsbooms schien die reformistische Behauptung, dass „alle Boote mit der Flut steigen“, ein Körnchen Wahrheit zu enthalten. Der Boom ist jedoch schon längst durch jahrzehntelange Deindustrialisierung, wachsenden Finanzparasitismus und unaufhörliche Angriffe auf die Arbeitsplätze und den Lebensstandard der Arbeiter abgelöst worden. Einkommen und Vermögen haben sich mehr und mehr auf den Konten der Finanzaristokratie gesammelt, egal ob die Demokraten oder die Republikaner regierten. Für die arbeitende Bevölkerung und die Jugend hatte dies verheerende Folgen.

Eine entscheidende Rolle bei dieser sozialen Konterrevolution, die sich seit dem Finanzkrach 2008 noch verschärft hat, spielten die Gewerkschaften, die sich die Arbeiter einst in den Massenkämpfen der 1930er und 1940er Jahre aufgebaut haben.

Ausgehend von ihrem pro-kapitalistischen und nationalistischen Programm verwandelten sich die Gewerkschaften mit der verschärften Krise des amerikanischen Kapitalismus in direkte Partner der Unternehmen und der Regierung und halfen, die ganze Last der Krise auf dem Rücken der Arbeiter abzuladen. Sie waren mitverantwortlich für die Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen, die Senkung der Löhne und Zusatzleistungen und die Durchsetzung von extremen Ausbeutungsbedingungen und rechtfertigten dies im Namen der Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Unternehmen gegenüber ihren internationalen Rivalen. Dafür übernahmen sie die Rolle einer Betriebspolizei und unterdrückten den Widerstand der Arbeiterklasse. Streiks, die früher an der Tagesordnung waren, sind fast verschwunden.

Um die Rettungsprogramme für die kriminellen Finanzschieber zu finanzieren, die für den Börsenkrach an der Wall Street von 2008 und die Große Rezession verantwortlich waren, organisierten die Regierungen in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt einen brutalen Austeritätskurs. Unter der Regierung Obama sind 95 Prozent aller Einkommenszuwächse an das reichste Prozent gegangen. Heute befindet sich der Anteil am US-Bruttoinlandsprodukt, der den Arbeitern zufließt, auf dem niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Anteil, der in die Unternehmensgewinne geht, liegt dagegen auf seinem höchsten Stand.

In einer früheren Periode wären die vielen Studien, die die verzweifelte Situation von Millionen von Amerikanern aufzeigen, von Teilen des politischen Establishments und den Medien als politischer Skandal behandelt worden. Heute sind diese Fragen bestenfalls von oberflächlichem Interesse für die Medien und werden schnell wieder fallengelassen. Das politische Establishment ignoriert sie gleich ganz.

Beide Präsidentschaftskandidaten schweigen zu den Berichten über die steigenden Sterblichkeitsraten unter Arbeitern, die schockierende Kindersterblichkeitsrate unter Armen und die wachsende Kluft in der Lebenserwartung zwischen Reichen und Armen.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat und selbsterklärte „Sozialist“ Bernie Sanders passt sich an die allgemeine Wut angesichts von Existenznot und wirtschaftlicher Unsicherheit an, indem er in seinen Wahlreden die Einkommensungleichheit verurteilt; seine Äußerungen bleiben jedoch auffallend abstrakt. Er sagt wenig oder nichts über die tatsächlichen Bedingungen, mit denen Arbeiter und Jugendliche in ihrem täglichen Leben konfrontiert sind, und er schafft es, jede konkrete Bezugnahme auf die brutalen Sparmaßnahmen der Obama-Regierung zu vermeiden.

So hat sich Sanders nicht zu den 50-prozentigen Lohnkürzungen für neueingestellte Autoarbeiter geäußert, die Obama als Teil seines Rettungspakets für GM und Chrysler durchgesetzt hat. Er schweigt dazu, dass die Regierung die Aushöhlung der Krankenversicherung und Renten der Arbeiter im Rahmen der Insolvenz Detroits befürwortet; und er vermeidet jeden Hinweis auf die wiederholten Kürzungen der Lebensmittelmarken, die das Weiße Haus genehmigt hat.

Sanders versucht, die wachsende Opposition der Arbeiterklasse zu kanalisieren und wieder der Demokratischen Partei unterzuordnen, die voll und ganz an der sozialen Konterrevolution beteiligt ist. Angefangen mit der Abschaffung der Sozialhilfe durch die Clintons in den 1990er Jahren bis hin zu Obamas Angriffen auf die Krankenversorgung von Millionen Arbeitern, als „Obamacare“ bezeichnet, haben die Demokraten immer als Instrument der Wall Street und der Wirtschaftselite gehandelt.

Eine Grundvoraussetzung für jeden ernsthaften Kampf gegen Ungleichheit, Krieg und Diktatur ist der vollständige und unwiderrufliche Bruch mit der Demokratischen Partei und allen politischen Vertretern der herrschenden Klasse. Nur auf dieser Grundlage können die amerikanischen Arbeiter ein sozialistisches Programm in ihrem Interesse entwickeln und sich mit Arbeitern auf der ganzen Welt gegen die transnationalen Unternehmen und Banken vereinigen.

Es ist wichtig, diese Perspektive in die Wahlen von 2016 zu tragen und gegen Versuche anzukämpfen, eine unabhängige und wirkliche sozialistische politische Bewegung der Arbeiterklasse zu blockieren.

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