„Strippenzieher“ ist einer der häufigsten Begriffe, den man in Nachrufen auf Hans-Dietrich Genscher findet, der in der Nacht zum Freitag im Alter von 89 Jahren gestorben ist. Genscher scheute zwar nie das politische Rampenlicht. Doch seine wichtigsten politischen Taten vollbrachte er abgeschirmt von den Blicken der Öffentlichkeit. Sie bleiben bis heute geheimnisumwittert.
So bleibt seine Rolle beim Sturz von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt 1974 und von seinem Nachfolger Helmut Schmidt 1982 bis heute umstritten. Zweimal wechselte auf Genschers Initiative der Bundeskanzler und der Kurs der Regierung, einmal sogar die Regierungskoalition, ohne dass eine Bundestagswahl stattgefunden hätte. Ebenso anrüchig ist Genschers Rolle beim Ausbruch des Jugoslawienkriegs, den er durch die übereilte Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens maßgeblich mit auslöste.
Genschers Fähigkeit, hinter den Kulissen zu intrigieren, offenen Konflikten auszuweichen und sich rätselhaft auszudrücken, die den Begriff „Genscherismus“ prägte, entsprang weniger seinem persönlichen Charakter, als der Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.
Als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs, das halb Europa in Trümmer gelegt und den größten Völkermord in der Geschichte verübt hatte, konnte die Bundesrepublik ihre globalen wirtschaftlichen und politischen Ambitionen nicht arrogant und polternd vertreten, wie dies Kaiser Wilhelm und Hitler getan hatten. Sie musste sich bescheiden geben, sich mit allen gut stellen, lavieren, Netzwerke knüpfen und Abhängigkeiten schaffen, um in die Riege der Weltmächte zurückzukehren.
Genscher verfolgte dieses Ziel trotz schweren Krankheiten von früher Jugend an mit großer Zielstrebigkeit und Energie. Er vertrat die Bundesrepublik 18 Jahre lang als Außenminister und beherrschte die Kunst des Täuschens und Lavierens wie kein anderer vor und nach ihm. Es ist bezeichnend, dass in seinem Büro das Bild Gustav Stresemanns hing, des langjährigen Außenministers der Weimarer Republik, und nicht das Porträt Bismarcks, wie dies bei anderen Ministern der Fall war. Obwohl Genscher fast ununterbrochen auf Reisen war und rund um die Welt enge Beziehungen und Kontakte knüpfte, misstrauten ihm sowohl seine Gegner wie seine Freunde.
Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990, an deren Zustandekommen er als Außenminister maßgeblich beteiligt war, betrachtete Genscher als Krönung seines Lebenswerks. Deutschland trat damit in seinen Augen wieder in den Kreis der Weltmächte ein und erhielt auch rechtlich seine volle Souveränität.
Karriere in der FDP
Hans-Dietrich Genscher wurde am 21. März 1927 in einem Dorf in der Nähe von Halle geboren, wo er auch aufwuchs. Er war sechs, als die Nazis die Macht übernahmen. Mit 15 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und erlebte die letzten beiden Kriegsjahre als Soldat. Nach dem Krieg holte er in der Sowjetischen Besatzungszone das Abitur nach und studierte Jura. 1952, drei Jahre nach ihrer Gründung, verließ er die DDR und zog in die Bundesrepublik, wo er eine steile politische Karriere begann.
Genscher schloss sich der FDP an, in der damals neben liberalen auch starke nationale Kräfte und ehemalige Nazis den Ton angaben. Die FDP war und ist bis heute ein gefügiges Instrument finanzkräftiger Industrie- und Bankenkreise, die sie mit hohen, teilweise auch illegalen Spenden bedachten und mehrmals vor dem Bankrott retteten. Obwohl sie selten mehr als zehn Prozent der Stimmen gewann, saß sie in den ersten 50 Jahren der Bundesrepublik 41 Jahre lang in der Regierung und bestimmte maßgeblich ihre Politik.
Genscher bekleidete ab 1956 führende Funktionen in der Bundes-FDP. 1969 vollzog die Partei einen Schwenk. Obwohl sie bisher eher rechts von der CDU gestanden und von 1961 bis 1966 gemeinsam mit ihr regiert hatte, entschied sie sich für eine Koalition mit der SPD und verhalf so den Sozialdemokraten erstmals seit 1930 wieder zur Kanzlerschaft.
Einige Nationalliberale verließen deshalb die FDP und wechselten zur CDU. Genscher blieb und wurde Innenminister unter SPD-Bundeskanzler Willy Brandt. Im Gegensatz zu den verbohrten Kalten Kriegern in der CDU verstand Genscher, dass Brandts heftig umstrittene Ostpolitik der deutschen Wirtschaft dringend benötigte neue Märkte erschloss und die stalinistischen Regime langfristig eher unterhöhlte als stärkte.
Als Innenminister und Herr der Geheimdienste spielte Genscher dann 1974 eine Schlüsselrolle beim Sturz von Willy Brandt. Brandt hatte 1969 die Studentenrevolte und eine Streikwelle unter Kontrolle gebracht, indem er soziale und demokratische Reformen versprach. Doch nun konnte er die Erwartungen, die er geweckt hatte, nicht mehr dämpfen. Im Winter 1973/74 erkämpften die Beschäftigten des öffentlichen Diensts in einem zweiwöchigen Streik inmitten der sogenannten Ölkrise eine Lohnerhöhung von elf Prozent.
Darauf organisierten führende Mitglieder der SPD und der FDP eine Intrige, um Brandt abzusetzen. Obwohl Genscher bereits wusste, dass Brandts Persönlicher Referent Günter Guillaume für den DDR-Geheimdienst arbeitete, ließ er den ahnungslosen Kanzler mit ihm in den Sommerurlaub fahren. Als Guillaume dann enttarnt wurde, reichte Brandt den Rücktritt ein.
Mit Helmut Schmidt übernahm ein Mann des rechten SPD-Flügels das Amt des Bundeskanzlers. Genscher wurde Vizekanzler und Außenminister.
Doch auch Schmidt konnte Genscher nicht trauen. Als Anfang der 80er Jahre Hunderttausende gegen die von Schmidt und Genscher befürwortete Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen (Pershing II) demonstrierten, die neugegründeten Grünen einen Teil der SPD-Wähler abzogen und die Gewerkschaften Großdemonstrationen gegen Schmidts Sparkurs ankündigten, wechselte die FDP erneut die Seite.
Angeführt von Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, der später wegen Steuerhinterziehung in der Flick-Affäre rechtskräftig verurteilt wurde, stürzte die FDP Schmidt 1982 durch ein Misstrauensvotum und wählte den CDU-Politiker Helmut Kohl (CDU) zu seinem Nachfolger. Schmidt warf Genscher damals im Bundestag Unmoral vor: „Ihre Handlungsweise ist legal, aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung.“
Außenminister
Wie unter seinen Vorgängern saßen auch unter Genscher zahlreiche alte Nazis in führenden Positionen des Außenministeriums. Sein langjähriger Büroleiter Frank Elbe löste noch 2005, als Genscher längst im Ruhestand war, einen Skandal aus, weil er öffentlich gegen die Entscheidung des grünen Außenministers Joschka Fischer protestierte, ehemalige NSDAP-Mitglieder im Auswärtigen Amt nicht mehr öffentlich zu ehren.
Dennoch setzte Genscher auch unter Kohl die sogenannte „Entspannungspolitik“ fort, die er als Möglichkeit begriff, in Osteuropa und der Sowjetunion einen Systemwechsel herbeizuführen. Mit der Ernennung Michael Gorbatschows zum Generalsekretär wurde dies ab 1985 zunehmend wahrscheinlich.
Während Genscher einer offenen Konfrontation mit der US-Regierung aus dem Weg ging, war er stets darauf bedacht, für die deutsche Politik und Wirtschaft ein eigenes internationales Beziehungsnetz aufzubauen, das oft im Gegensatz zu den Interessen der USA stand. Diesem Ziel diente seine intensive Reisediplomatie. So besuchte er im Juli 1984 als erster westeuropäischer Außenminister seit der islamischen Revolution von 1979 die iranische Hauptstadt Teheran, die von den USA strikt boykottiert wurde.
An der Restauration des Kapitalismus in der DDR und Osteuropa hatte Genscher dann maßgeblichen Anteil. Er nutzte dazu seine enge Freundschaft zu Gorbatschows Außenminister Eduard Schewardnadse, dem späteren Präsidenten Georgiens. Als sich im September 1989 mehrere Tausend DDR-Bürger in der deutschen Botschaft in Prag sammelten und die Ausreise in die Bundesrepublik verlangten, war es Schewardnadse, der dies ermöglichte. Genscher, der den Wartenden die Botschaft persönlich überbrachte, wurde daraufhin als Held gefeiert.
Auch am Zustandekommen des Zwei-plus-Vier-Vertrags, der die deutsche Wiedervereinigung international absegnete, hatte Genscher maßgeblichen Anteil.
In Jugoslawien testete Genscher dann die neugewonnene außenpolitische Unabhängigkeit erstmals aus – mit verheerenden Folgen.
Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND hatte seit den 1970er Jahren enge Kontakte zu kroatischen Separatisten gepflegt, die teilweise bis auf die Beziehungen zur faschistischen Ustascha im Zweiten Weltkrieg zurückgingen. Nun schürte das deutsche Außenministerium die Spannungen in Jugoslawien und förderte sein Auseinanderbrechen, was direkt in einen Krieg mit Hunderttausenden Toten führte.
Als sich die separatistischen Tendenzen 1991 verstärkten, drängte Berlin auf die sofortige Anerkennung der slowenischen und kroatischen Unabhängigkeit. Unter Umständen, unter denen es keine allgemein anerkannten Grenzen und keine Vereinbarung gab, wie die Rechte jeweiliger Minderheiten – der Serben in Kroatien, der Kroaten in Serbien, der Kroaten, Serben und Mosleme in Bosnien – gewahrt werden, machte dies eine Katastrophe unvermeidlich.
Genscher wurde deshalb wiederholt gewarnt. So bat ihn der britische Außenminister Lord Carrington in einem Brief, die Anerkennung Kroatiens zu verschieben, weil sonst Bosnien-Herzegowina ebenfalls die Unabhängigkeit verlangen und in Flammen aufgehen werde.
UN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar warnte in einem Brief an die EU: „Ich bin tief besorgt, dass eine frühe, selektive Anerkennung den gegenwärtigen Konflikt ausweiten und die explosive Lage in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien anheizen wird, ja ernsthafte Folgen für die gesamte Balkanregion hätte.“
Doch Genscher schlug diese Warnungen in den Wind und die Katastrophe nahm ihren Lauf. Während in Jugoslawien Hunderttausende starben, nutzte die deutsche Außenpolitik den Jugoslawienkonflikt auch nach Genschers Ausscheiden aus dem Amt, um international wieder militärisch aufzutreten. 1999 fand in Jugoslawien – diesmal unter dem grünen Außenminister Joschka Fischer – der erste internationale Kampfeinsatz der Bundeswehr statt.
Ruhestand
Im Mai 1992 schied Genscher nach 23 Jahren als Innen- und Außenminister auf eigenen Wunsch überraschend aus der Regierung aus. Er blieb aber weiterhin politisch aktiv und trat regelmäßig durch öffentliche Auftritte und Stellungnahmen in Erscheinung. So erwirkte er 2013 in persönlichen Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Putin die Freilassung des Oligarchen Michail Chodorkowski.
Auch in der FDP zog Genscher weiterhin die Fäden. Guido Westerwelle, der die Partei von 2001 bis 2011 führte und auf einen strikt neoliberalen Kurs verpflichtete, gilt als Genschers Ziehsohn. Unter Westerwelle erreichte die FDP 2009 mit 14,6 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte – allerdings nur, weil viele CDU-Anhänger für sie stimmten, um die Große Koalition mit der SPD zu beenden. Westerwelle wurde Außenminister, und der Niedergang der FDP war nicht mehr aufzuhalten. 2013 flog sie aus dem Bundestag und aus den meisten Landtagen.
Genscher stand am Ende seines Lebens also vor einem politischen Scherbenhaufen. Das hindert die Nachrufe in den bürgerlichen Medien nicht daran, ihn in den höchsten Tönen zu loben. Schließlich hat er maßgeblich dazu beigetragen, den Weg für die Rückkehr der deutschen Großmachtpolitik und des Militarismus zu ebnen.