In Brasilien wird die Amtsenthebung der amtierenden Präsidentin Dilma Roussef von immer wahrscheinlicher. Am Dienstag hat der größte Koalitionspartner der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) in einer Abstimmung entschieden, die Regierung zu verlassen und seinen Mitgliedern die freie Entscheidung überlassen, für die Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff zu stimmen.
Die PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro – Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) fällte die Entscheidung am Dienstagnachmittag in einer lautstarken dreiminütigen Versammlung in der Abgeordnetenkammer. Alle sechs verbliebenen Minister der Partei wurden verpflichtet, dem Beispiel des Tourismusministers Henrique Eduardo Alves zu folgen, der bereits am Tag zuvor Rousseff seinen Rücktrittsbrief überreicht hatte. Auch 600 weiteren Parteimitgliedern auf Regierungsposten wurde aufgetragen zurückzutreten.
PMDB-Abgeordnete und Parteimitglieder, die bei der Versammlung zugegen waren, skandierten „Fora PT“ (Nieder mit der PT) und „Brasil para frente, Temer presidente“ (Vorwärts Brasilien, Temer Präsident). Michel Temer von der PMDB ist der amtierende brasilianische Vize-Präsidenten, der bei einer Amtsenthebung von Rousseff ihr Amt übernehmen würde.
Der 75-jährige Temer war bei der Parteiversammlung nicht anwesend. Er sagte, er wolle keinen Einfluss auf die Abstimmung nehmen. In den Tagen vor dem Meeting führte er indessen ausführliche Gespräche mit den Parteiführern, um die Entscheidung vorzubereiten.
Die PMDB ging aus der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (Movimento Democrático Brasileiro – MDB) hervor, der einzigen legalen Oppositionspartei während der Militärdiktatur in Brasilien zwischen 1964 und 1985. In diesem Zeitraum operierte die stalinistische Kommunistische Partei Brasiliens als Fraktion innerhalb MDB gegen die Diktatur.
Obwohl die PMDB seit 1994 keinen Präsidentschaftskandidaten stellte, spielte sie in praktisch jeder Regierung seit Beendigung der Militärherrschaft eine entscheidende Rolle. Sie verfügte stets über den größten Mitgliederblock in den beiden Kammern des Parlaments. Gegenwärtig stellt sie 69 Kongressabgeordnete und 19 Senatoren. Die Partei hält in beiden Häusern Führungspositionen.
Ein weiterer Koalitionspartner der PT, die PSD (Partido Social – Sozialdemokratische Partei), erklärte, sie überlasse es ihren 48 Mitgliedern im Unterhaus, selbst über die Amtsenthebung der Präsidentin zu entscheiden.
Der Rückzug der PMDB aus der Rousseff-Regierung erfolgte einen Tag nachdem die brasilianische Anwaltskammer (Ordem dos Advogados do Brasil – OAB) im Unterhaus des Parlaments eine neue Petition zur Amtsenthebung eingereicht hatte. Diese löste im Plenum des Parlaments beinahe handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen PT-Unterstützern und ihren Gegnern aus.
Der Kongress beschäftigt sich bereits seit Rousseffs knapper Wiederwahl im Jahr 2014 mit einem Amtsenthebungsverfahren wegen angeblich illegaler Manipulationen des Bundeshaushalts, die erfolgt seien, um eine Ausweitung der Sozialausgaben zu ermöglichen. Rousseff behauptet, ihre Haushaltsmanöver seien legal gewesen und dass vorhergehende Regierungen ähnliche Methoden angewandt hätten.
Die neue von der OAB (eine konservative Organisation, die 1964 den Militärputsch unterstützt hatte) eingereichte Petition fügt zu diesem Vorwurf noch Behinderung der Justiz hinzu. Außerdem habe die Regierung während der Fußballweltmeisterschaft 2014 dem Fußballweltverband FIFA auf unsaubere Weise einen Steuerbefreiungsstatus verliehen, der dem Verband etwa 2,6 Milliarden Dollar in die Taschen fließen ließ.
Der Vorwurf der Behinderung der Justiz bezieht sich auf Rousseffs Versuch, den Begründer der Arbeiterpartei und ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva in ihr Kabinett zu holen und ihm dessen Leitung zu übertragen. Lula war verhaftet und angeklagt worden, an einem politischen Bestechungs- und Schmiergeldskandal (Operação Lava Jato – Operation Autowäsche) beteiligt zu sein, bei dem über den staatlichen Ölkonzern Petrobras Geldwäsche in Höhe von ca. 2 Milliarden Dollar betrieben wurde. Als Regierungsmitglied würden dem Angeklagten Lula beträchtlich mehr Rechte zustehen und der Fall dürfte lediglich vor dem obersten brasilianischen Gericht verhandelt werden.
Anfang des Monats erließ das Höchste Gericht eine einstweilige Verfügung gegen die Ernennung, und für nächste Woche wird eine Entscheidung des Gerichts in voller Besetzung erwartet. Die Ernennung geriet zu einer öffentlichen Kontroverse, nachdem der geheim aufgezeichnete Inhalt eines Gesprächs zwischen Rousseff und Lula öffentlich gemacht worden war. Rousseff sagte in der Aufzeichnung, sie werde Lula Dokumente zusenden, auf die er „falls notwendig“ zurückgreifen könne.
Hinzu kommen Anschuldigungen des ehemaligen Senatsführers der Arbeiterpartei Delcidio do Amaral, der in einer Vergleichsvereinbarung, die im Zusammenhang mit einer Korruptionsklage abgeschlossen worden war, aussagte, dass sowohl Lula als auch Rousseff von den Bestechungen und Schmiergeldern bei Petrobras wussten. Teilweise würden diese Gelder zur Finanzierung von Wahlkämpfen der PT verwendet. Er behauptete außerdem, Rousseff habe versucht, die Untersuchungen zu blockieren oder zu verwässern. Lula und Rousseff haben die Vorwürfe zurückgewiesen und behaupten, sie seien Opfer eines „Putsch“-Versuchs.
Sowohl das brasilianische als auch das internationale Kapital sind die treibenden Kräfte hinter den Forderungen nach einer Amtsenthebung der Präsidentin. Angesichts der tiefsten Wirtschaftskrise in Brasilien seit der Großen Depression in den 1930er Jahren verlangen sie eine radikale Änderung der Regierungspolitik. Die Wirtschaftskraft hat weiter abgenommen, die Arbeitslosenzahlen stiegen vergangenen Donnerstag auf 9,5 Prozent, während die Löhne um 2,4 Prozent gefallen sind. Im letzten Jahr sank die Wirtschaftsleistung um 3,8 Prozent und 2016 droht ein ähnlicher Rückgang.
Dessen ungeachtet erholten sich Brasiliens Aktienmärkte und die Landeswährung, der Real, beträchtlich, da erwartet wird, dass Rousseff und die PT von der Macht verdrängt und durch eine stärker rechtsorientierte Regierung ersetzt werden würden. Temer und die PMDB signalisieren der herrschenden Klasse in Brasilien und den ausländischen Banken und transnationalen Unternehmen, diese Erwartungen zu erfüllen.
Die Tageszeitung O Estado de S. Paulo zitierte vergangene Woche PMDB-Vertreter mit den Worten, die Partei werde durch drastische Kürzungen der Sozialausgaben eine „ausgeglichenen Haushalt“ erreichen.
Mehrere der Programme, die die PT initiiert hatte, um die Klassenspannungen in einem der ungleichsten Länder der Welt zu dämpfen, sollen jetzt zusammengestrichen werden. Zu ihnen zählen „Minha Casa, Minha Vida“ [Mein Zuhause, Mein Leben], das Mietsubventionen vorsieht, und „Bolsa Familia“ [Familiengeld], ein Programm für Bedürftige, von dem knapp ein Viertel der Bevölkerung profitieren. Die Zeitung berichtete, die PMDB erwäge, das zweite Programm auf lediglich die ärmsten zehn Prozent der brasilianischen Bevölkerung zu beschränken, die von weniger als einem Dollar täglich leben müssen.
Ein Strategiepapier der Partei ruft dazu auf, die Krise durch eine höhere „Wettbewerbsfähigkeit“ und mehr ausländische Investoren zu lösen. Erreicht werde soll dies durch Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse. Das Papier schlägt u.a. die die Anhebung des Renteneintrittsalters, die Beendigung der verfassungsmäßigen Verpflichtung zur Gesundheits- und Bildungsfinanzierung sowie die Reduzierung der Reallöhne vor.
Temer hat Berichten zufolge Politikern und führenden brasilianischen Kapitalisten zugesagt, die Präsidentschaft lediglich bis zum Ende von Rousseffs Amtszeit im Jahr 2018 auszuüben. Er habe eine erneute Kandidatur ausgeschlossen, um sich freie Hand für zutiefst unpopuläre Maßnahmen zu verschaffen.
Es ist jedoch keineswegs klar, dass Temer und die PMDB sich der Korruptionskrise entziehen können, in die die PT-Regierung gestürzt ist. Die Partei und ihr Vorstand sind mindestens genauso tief wie die Führung der Arbeiterpartei in sie verstrickt.
Eduardo Cunha, der PMDB-Sprecher des Unterhauses des Kongresses, der den Amtsenthebungsprozess leitet, soll fünf Millionen Dollar aus Petrobras-Schmiergeldzahlungen auf geheimen Schweizer Bankkonten deponiert haben. Er leitete das Amtsenthebungsverfahren ein, nachdem ihn die PT nicht vor den Korruptionsvorwürfen in Schutz genommen hatte.
Praktisch sind alle Parteien in den Bestechungsskandal verwickelt, was die tiefe Fäulnis des gesamten brasilianischen bürgerlichen Staatsapparats offenlegt.
Mitte April könnte das Unterhaus des brasilianischen Kongresses über die Amtsenthebung abstimmen. Wenn 342 oder mehr der 513 Abgeordneten dafür stimmen, wird Rousseff für 180 Tage suspendiert und das Amtsenthebungsverfahren wird dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. In dieser Phase würde Temer übergangsweise das Amt als Staatspräsident übernehmen. Ein endgültiges Votum des Senats über die dauerhafte Absetzung der Präsidentin dürfte im Oktober zu erwarten sein.