Perspektive

Die Flüchtlingskrise und die Polarisierung Europas

Idomeni, Lesbos, Calais … Jeden Tag zeigen die Medien Bilder, die man sich in Europa jahrzehntelang nicht mehr hatte vorstellen können: Flüchtlinge, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, die in improvisierten Zelten und Erdlöchern hausen, in Regen und Schlamm versinken und weder ausreichend medizinisch noch mit Nahrung versorgt werden. Und immer wieder: Geschlossene Grenzen, Stacheldraht und schwer bewaffnete Polizisten, die mit Tränengas und Schlagstock gegen verzweifelte Flüchtlinge vorgehen.

Während große Teile der Bevölkerung diese brutalen Szenen mit Entsetzen und Abscheu verfolgen, hat sich die offizielle Debatte über die Flüchtlingskrise auf ein Spektrum verengt, das sich zwischen rechts und ultrarechts bewegt. In Politik und Medien kommt nur noch zu Wort, wer entweder für einen hemmungslosen Nationalismus und die Abschottung der europäischen Binnengrenzen eintritt, oder wer im Namen einer „europäischen Lösung“ die Militarisierung der EU-Außengrenzen und einen schmutzigen Deal mit der türkischen Regierung unterstützt.

Mitgefühl mit Flüchtlingen, Aufnahme, Hilfe, das Recht auf Schutz und Asyl sind aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Dieser konzentriert sich ausschließlich auf die Frage, wie man die Flüchtlinge am wirkungsvollsten abschreckt, kriminalisiert und wieder loswird. Die große Mehrheit der europäischen Bevölkerung, die allen Umfragen zufolge mit den Flüchtenden sympathisiert, und die Unzähligen, die ihre Ersparnisse und ihre Freizeit opfern um ihnen zu helfen, kommen in den Spalten der Zeitungen und den Talkshows der Fernsehsender nicht zu Wort.

In den deutschen Bundesländern, in denen am Sonntag gewählt wird, werben die Grünen, die SPD und indirekt auch die Linkspartei für die Politik von Angela Merkel, die für eine hermetische Abschottung der EU-Außengrenzen eintritt, während die einzige Opposition vom rechten Flügel der Union und der rechtsextremen AfD kommt, die stattdessen die deutschen Grenzen dicht machen wollen.

Die Auseinandersetzung in Deutschland gleicht der in Großbritannien, wo die Wähler in der Abstimmung über den Brexit, den Austritt aus der Europäischen Union, vor zwei ebenso rechte Alternativen gestellt werden: Die Unterstützung der reaktionären Institutionen der Europäischen Union oder die Befürwortung einer britischen „Unabhängigkeit“, die alle Hindernisse für die verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse beseitigt und das Land rigoros gegen Einwanderung abschottet.

Diese Beschränkung der öffentlichen Debatte auf rechte Themen, die von allen etablierten Medien und Parteien mitgetragen wird, erfüllt einen politischen Zweck. Sie soll verhindern, dass die Verteidigung und Unterstützung der Flüchtlinge mit dem Kampf gegen das kapitalistische Gesellschaftssystem verbunden wird, das breiten Teilen der Bevölkerung nichts mehr zu bieten hat, als sozialen Niedergang, Staatsaufrüstung und Krieg. Wer sich über die rassistische Hetze und die Brandanschläge der äußersten Rechten empört, soll ins politische Fahrwasser einer Regierungspolitik gelenkt werden, die ebenso reaktionär ist und erst den Nährboden für das Wachstum der extremen Rechten schafft.

Die brutale Misshandlung der Flüchtlinge ist der bisherige Höhepunkt einer Rechtsentwicklung der europäischen Politik, die seit Jahren anhält. Das Vorgehen gegen Flüchtlinge ist der bisher schärfste Ausdruck, aber nicht der Grund für diesen Rechtsruck. Die wirkliche Ursache ist die sich vertiefende Krise des internationalen Kapitalismus und die scharfe soziale Polarisierung, die damit einhergeht. Die herrschenden Eliten reagieren darauf wie in den 1930er Jahren, indem sie Nationalismus und Fremdenhass schüren, den Staatsapparat aufrüsten und ihre internationalen wirtschaftlichen und politischen Interessen mit kriegerischen Mitteln verfolgen.

Als die kriminellen Machenschaften der Spekulanten das Weltfinanzsystem 2008 an den Rand des Zusammenbruch brachten, pumpten die Regierungen in Europa wie auf der ganzen Welt Billionen an öffentlichen Geldern in marode Banken, um die Vermögen der Reichen zu retten. Als darauf einige schwächere europäische Länder unter der Schuldenlast fast zusammenbrachen und die Stabilität des Euro bedrohten, bestanden die EU und die deutsche Regierung darauf, dass die Arbeiterklasse die Kosten trägt. In Griechenland statuierten sie ein Exempel, das die Bevölkerung in bittere Armut stürzte.

2014 unterstützten sie dann den rechten Putsch in Kiew und provozierten eine Konfrontation mit Russland, die sich seither weiter verschärft hat. Sie kommt mit der Zuspitzung des Kriegs in Syrien zusammen. Nachdem die USA und ihre europäischen Verbündeten erst Afghanistan und dann den Irak und Libyen zerstörten, entwickelt sich der Syrienkonflikt nun zu einem Krieg zwischen Groß- und Regionalmächten, der die Welt in einen dritten Weltkrieg zu stürzen droht.

Die Opfer dieser Kriege, die versuchen, vor dem sicheren Tod nach Europa zu fliehen, werden schlechter behandelt als Tiere. Das zeigt, wozu die herrschenden Eliten Europas fähig sind. Was mit den Spardiktaten in Griechenland und anderen Ländern begonnen hat, findet seine Fortsetzung in der unmenschlichen Behandlung der Flüchtlinge und kündigt an, was Arbeiter und Jugendliche in Zukunft zu erwarten haben. Die historische Erfahrung lehrt, dass die Hetze gegen Fremde und Angehörige anderer Religionen (damals Juden, heute Muslime) der Auftakt zur Unterdrückung der gesamten Arbeiterklasse ist.

Die Verteidigung der Flüchtlinge, der Widerstand gegen Krieg und Militarismus und der Kampf gegen den Kapitalismus fallen unter diesen Umständen untrennbar zusammen. Nur eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse, die sich auf ein internationales sozialistisches Programm stützt, kann den Rückfall Europas in Nationalismus, Barbarei und Krieg verhindern.

Das erfordert nicht nur Widerstand gegen die äußerste Rechte, sondern auch und vor allem einen unerbittlichen politischen Kampf gegen den Einfluss pseudolinker Tendenzen, die Arbeiter und Jugendliche mit linken Phrasen einlullen, um in der Praxis die sozialen Angriffe, die Staatsaufrüstung und die Kriegspolitik der herrschenden Eliten zu unterstützen.

Die Erfahrung mit Syriza in Griechenland hat gezeigt, wozu solche Parteien fähig sind. Die Regierung Tsipras war Anfang 2015 an die Macht gelangt, weil sie ein Ende der brutalen Sparpolitik der EU versprach. Seither hat sie die Sparpolitik drastisch verschärft und die Rolle des Grenzpolizisten und Gefängniswärters für die EU übernommen.

Die deutsche Linkspartei, die spanische Podemos und zahlreiche andere Parteien, die Syriza hochgejubelt haben und bis heute unterstützen, spielen eine ähnliche Rolle. Sie sprechen nicht für die Arbeiterklasse, sondern für wohlhabende Mittelschichten. Sie wollen den Kapitalismus nicht stürzen, sondern um jeden Preis erhalten.

Es gibt in Europa massenhaft Opposition gegen die verheerenden Folgen der Kürzungspolitik, gegen die Angriffe auf Flüchtlinge und demokratische Rechte und gegen Militarismus und Krieg. Doch dieser Opposition fehlt eine Perspektive und eine politische Führung. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen kämpfen für die Vereinigung der europäischen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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