15,4 Prozent der deutschen Bevölkerung, und somit fast jeder sechste Deutsche, galten im Jahr 2014 als einkommensarm. Dies geht aus dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands hervor, der im Jahr 2016 erstmals unter Einbeziehung von Mitherausgebern erstellt wurde. Unter diesen befindet sich unter anderem die Organisation PRO ASYL, welche eine Expertise zur Armut von Flüchtlingen beigetragen hat. Sämtliche Daten beziehen sich auf den Zeitraum von 2005 bis 2014.
15,4 Prozent entsprechen einer Gesamtzahl von ca. 12,5 Millionen Menschen, die in Deutschland „in Haushalten leben, deren [Netto-] Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt“. Besonders betroffen sind hierbei Erwerbslose, bei denen die Armutsquote bei 58 Prozent liegt, Alleinerziehende, welche zu 42 Prozent unter der Armutsgrenze leben, sowie nach wie vor in einem hohen Maß Kinder (19 Prozent) und, mit 15,6 Prozent zum ersten Mal über der durchschnittlichen Armutsquote, Rentner und Rentnerinnen.
Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich die Armutsquote im Jahr 2014 minimal um 0,1 Prozentpunkte. Dabei sank die Armut statistisch betrachtet in neun Bundesländern, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern (-2,3 Prozentpunkte), Berlin (-1,4 Prozentpunkte) und Bremen (-0,5 Prozentpunkte). Nichtsdestotrotz führen diese die Liste der Bundesländer mit der höchsten Armutsquote nach wie vor an, und gerade im Vergleich zu den südlich gelegenen sind die Unterschiede nach wie vor immens.
Das nur geringe Absinken der Quote trotz dieser besseren Zahlen aus vielen Ländern ist dadurch zu erklären, dass sowohl Bayern als auch Nordrhein-Westfalen, in denen über 30 Millionen Menschen leben, einen Anstieg der Armutsquote zu verzeichnen haben. In Bayern, welches nach wie vor einen der höchsten Lebensstandards aufweist, stieg sie von 11,3 auf 11,5 Prozentpunkte, während sie in Nordrhein-Westfalen auf 17,5 und somit um ganze 0,4 Prozentpunkte anstieg.
Der Paritätische Gesamtverband weist außerdem explizit darauf hin, dass „relevante Gruppen außen vor bleiben“, da lediglich Menschen in die Statistik einbezogen werden, „die einen eigenen Haushalt führen“. Dies bedeutet, dass weder die rund 335.000 Obdachlosen, noch die ca. 764.000 in Heimen lebenden pflegebedürftigen Menschen, von denen etwa die Hälfte auf Sozialhilfen angewiesen ist, überhaupt in die Statistik aufgenommen werden.
Hinzu kommen „die über 200.000 behinderten Menschen in vollstationären Einrichtungen“, etwa 185.000 Studenten, die in Gemeinschaftsunterkünften wohnen und natürlich die vielen Flüchtlinge, die in sogenannten Aufnahmeeinrichtungen unter menschenunwürdigen Zuständen ausharren und mit einem zynischerweise als Taschengeld bezeichneten Minimum an Geld auskommen müssen.
Dies entspricht, die Geflüchteten ausgenommen, einer Gesamtzahl von rund anderthalb Millionen Menschen oder anders gesagt ca. 1,8 Prozent der deutschen Bevölkerung, welche in den Daten zur Berechnung der Armutsquote nicht erfasst sind.
Allein das deutet bereits darauf hin, dass die minime Verringerung der Gesamtarmutsquote keinesfalls als ein Ende, geschweige denn als eine Kehrtwende im seit 2006 nahezu kontinuierlich zunehmenden Abrutschen breiter Bevölkerungsschichten in die Armut angesehen werden kann.
Dieser Eindruck erhärtet sich dadurch, dass die ohnehin nur sehr geringe Veränderung in eklatantem Widerspruch zum Wachstum der deutschen Wirtschaftsleistung um 1,6 Prozent steht. Sie betont somit erneut, wie sehr die gesellschaftliche Spaltung voranschreitet und wie wenigen der enorme wirtschaftliche Reichtum zu Gute kommt. So betonen auch die Herausgeber des Armutsberichtes, dass „wirtschaftliches Wachstum nicht ,automatisch‘ zu einer armutsverhindernden Verteilung des Mehrerwirtschafteten führt. Ganz im Gegenteil kann dieser zunehmende Reichtum noch zu einer weiteren Öffnung der Einkommensschere und noch größerer relativer Armut führen.“
Bezeichnend ist außerdem, dass sich gerade die Lage von besonders von Armut betroffenen Mitgliedern der Gesellschaft in den Jahren 2005 bis 2014 wenig geändert, wenn nicht sogar verschlimmert hat. Eine Gruppe, bei der sich dies in wirklich schockierender Deutlichkeit zeigt, ist die der Rentner und Rentnerinnen. „Die Armutsquote der Rentner liegt heute um 46 Prozent höher als 2005.“
Verdeutlicht wird dies durch einen Beitrag von Joachim Rock unter dem Titel „Armut im Alter und bei Erwerbsminderung“ am Beispiel des 75-jährigen Joseph H., welcher bis zu seinem 71. Lebensjahr gearbeitet hat, nun einen Rentenanspruch von 416 Euro hat und somit auf eine zusätzliche Grundsicherung angewiesen ist. Während diese im Jahr 2003 noch von 257.734 Rentnern in Anspruch genommen wurde, beträgt die Zahl im Jahr 2014 512.262. Dies entspricht einem Zuwachs von 99 Prozent, doch bereits jetzt ist abzusehen, „dass die Zahl der von Armut im Alter betroffenen Menschen in den nächsten Jahren noch deutlich zunehmen wird.“
Diese beunruhigende Entwicklung ist keinesfalls durch den demografischen Wandel oder mangelnde wirtschaftliche Erfolge bedingt, sondern das Resultat einer systematischen Kürzungspolitik der Renten- und Sozialleistungen. So sind seit der Einführung der sogenannten „Nachhaltigkeits- und Riester- Faktoren“ in den Jahren 2003 und 2005 „die Rentenerhöhungen 4,4 Prozent hinter der Lohnentwicklung zurückgeblieben. Bis 2029 werden es zusätzlich nochmal weitere acht Prozentpunkte sein. Für einen Durchschnittsverdiener mit 45 Beitragsjahren entspräche dies einem Wertverlust von 2.939 Euro im Jahr.“
Die größte Gruppe der von Armut betroffenen Menschen bilden jedoch nach wie vor Arbeitslose. „Wer hierzulande arbeitslos wird oder bleibt ist nicht vor Armut geschützt – sondern im Gegenteil besonders hart von Armut betroffen“, heißt es in der Expertise „Arbeitslosigkeit und Armut“ von Tina Hoffmann. Am schlimmsten trifft es dabei diejenigen, die auf die „Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende“, besser als Hartz-IV bekannt, angewiesen sind, „ihre Armutsquote liegt bei 84 Prozent“.
Im europäischen Vergleich führt Deutschland damit die „Statistik im negativen Sinn an“. Selbst die Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung und Wohnraum ist durch den Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 404 Euro nicht sicher abgedeckt. „40 Prozent der Hartz-IV-Bezieher können sich [außerdem] zahlungspflichtige medizinische Behandlungen, wie den Zahnersatz oder eine Brille, nicht leisten.“
Abgesehen von diesen massiven materiellen Einschränkungen hat der Hartz-IV-Bezug auch oft Auswirkungen auf den sozialen Lebensstandard der Menschen, da sie „ihre gesellschaftlichen Aktivitäten einschränken müssen – von der ausbleibenden Kommunikation mangels Internetzugang und Computer über die Unmöglichkeit, einen Kinoabend oder einen Besuch im Restaurant zu bezahlen“.
Diese soziale Isolierung, noch verstärkt durch den häufigen Abbruch der Beziehungen zu ehemaligen Arbeitskollegen, schlägt sich auch in der psychischen Verfassung vieler Hartz-IV-Empfänger nieder und verstärkt oft noch den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. „Allerdings wäre es falsch, ein Bild der Apathie und des totalen Rückzugs zu zeichnen. Erfahrungen aus der Praxis“, zeigen laut dem Armutsbericht, „dass sich insbesondere im Osten Deutschlands Arbeitslose verstärkt im Bundesfreiwilligendienst engagieren.“
Das Gesamtbild, welches sich aus diesem Bericht ergibt, widerspricht offensichtlich dem von vielen Politikern und den bürgerlichen Medien propagierten Bild des sozialen Aufschwungs durch höhere Beschäftigungszahlen. Diese weisen letztendlich nur darauf hin, dass es selbst Erwerbstätigen immer schwerer fällt, sich einen gewissen Lebensstandard zu erhalten, da die Armut keineswegs zurückgegangen ist. Muss die immer größere Spaltung zwischen Arm und Reich mittlerweile selbst von vielen Mainstream-Medien zugegeben werden, so werden die gravierenden Daten, die sich aus dem Armutsbericht ergeben, meist in kurzen, wenig aussagenden unkritischen Artikeln abgetan.
Guido Kleinhubbert geht in einem Kommentar auf Spiegel Online unter dem Titel „Sozialverband: der gefährliche Blues vom bitterarmen Deutschland“ sogar soweit zu behaupten, das Bild, welches vom Armutsbericht gezeichnet wird, würde „jene Teile der Bevölkerung, die wegen der Flüchtlingskrise ohnehin schon verunsichert sind“, in die Hände der „AfD-Politiker, NPD-Wirrköpfe und Pegida-Gröhler“ treiben. Es sei deshalb „fahrlässig, den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht“.
In dieser an Heuchelei kaum zu übertreffenden Aussage, welche sich schlicht gegen die Nennung von Fakten zum Lebensstandard eines großen Teiles der Bevölkerung richtet, spiegeln sich die zunehmenden Ängste der herrschenden Klasse vor einer Radikalisierung der Arbeiterklasse wieder. Diese hat im Angesicht einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung als einzige ein Interesse daran, die Ungleichheit aufzuhalten, zu bekämpfen und durch ein wirklich gerechtes, sozialistisches Wirtschaftssystem zu ersetzen.