Eine Studie von Ökonomen der Brookings Institution, die in der letzten Woche veröffentlicht wurde, dokumentiert eine scharfe Zunahme des Unterschieds in der Lebenserwartung zwischen reichen und armen Amerikanern. Die Studie stützt sich auf die Analyse von Daten des statistischen Bundesamts der USA und der Sozialversicherungsanstalt. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Kluft in der Lebenserwartung von Männern, die 1950 geboren sind, zwischen den obersten zehn Prozent der Lohnempfänger und den untersten zehn Prozent doppelt so groß ist wie bei Männern, die 1920 geboren wurden.
Bei den 1920 Geborenen gab es zwischen Armen und Reichen eine Kluft von sechs Jahren. Bei den 1950 Geborenen betrug sie schon 14 Jahre. Bei Frauen verdreifachte sich die Kluft beinahe von 4,7 auf 13 Jahre.
Insgesamt verbesserte sich die Lebenserwartung für die unteren zehn Prozent der 1950 geborenen Männer gegenüber denen, die 1920 geboren wurden, nur um drei Prozent. Bei den oberen zehn Prozent sprang sie um ca. 28 Prozent nach oben.
Die Lebenserwartung für die unteren zehn Prozent der 1950 geborenen Erwerbstätigen stieg gegenüber den 40 Jahre früher geborenen um weniger als ein Jahr, von 72,9 auf 73,6 Jahre. Bei den oberen zehn Prozent schnellte die Lebenserwartung von 79,1 auf 87,2 Jahre hoch.
Die Vereinigten Staaten zählen, wenn es um die Lebenserwartung geht, unter den so genannten reichen Ländern zu den schlechtesten. Aber für dieses niedrige Ranking ist ausschließlich der schlechte Gesundheitszustand und die hohe Sterblichkeit der Amerikaner mit geringem Einkommen verantwortlich. Zahlen der Sozialbehörden zufolge ist die Lebenserwartung der reichsten amerikanischen Männer mit 60 Jahren nur geringfügig niedriger als die der Isländer und der Japaner, die mit die höchste Erwartung haben. Amerikaner im untersten Viertel der Lohnskala rangieren hingegen nur knapp über Polen und der Tschechischen Republik.
Die Lebenserwartung ist der grundlegendste Indikator für das gesellschaftliche Wohlergehen. Die nur minimale Zunahme der Lebenserwartung von Arbeitern mit geringem Einkommen und die größer werdende Kluft zwischen den Armen und den Reichen sind ein starker Ausdruck des enormen Anwachsens der sozialen Ungleichheit und der Klassenpolarisierung in den Vereinigten Staaten. Sie unterstreicht die Tatsache, dass die sozioökonomische Klassenzugehörigkeit die grundlegende Kategorie des gesellschaftlichen Lebens im Kapitalismus ist. Sie entscheidet über jeden Aspekt des Lebens, bis hin zu seiner Dauer.
Die Erkenntnisse der Brookings Institution werfen erneut ein Licht auf den katastrophalen Niedergang der gesellschaftlichen Lage der amerikanischen Arbeiterklasse. Sie bestätigen Ergebnisse aus jüngerer Zeit, die einen scharfen Anstieg der Sterblichkeitsrate bei jungen weißen Arbeitern wie auch bei solchen mittleren Alters zeigen, besonders infolge von Drogenmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und Selbstmord. Andere Berichte belegen einen dramatischen Rückgang der Lebenserwartung bei ärmeren Amerikanern mittleren Alters und eine Umkehrung des jahrzehntelangen Rückgangs der Säuglingssterblichkeit.
Der Grund für diesen enormen gesellschaftlichen Rückschritt ist kein Geheimnis. Er ist das Ergebnis des Verfalls des amerikanischen Kapitalismus und der seit vier Jahrzehnten andauernden Offensive der herrschenden Elite gegen die Arbeiterklasse. Von Reagan bis Obama haben Demokratische und Republikanische Regierungen gleichermaßen Hand in Hand mit der Wirtschaft einen Angriff auf Arbeitsplätze, Löhne, Renten und die Gesundheitsversorgung der arbeitenden Bevölkerung geführt.
Die herrschende Elite hat den Großteil der industriellen Infrastruktur des Landes abgewickelt, viele Millionen anständig bezahlte Arbeitsplätze zerstört und sich den parasitärsten und kriminellsten Methoden der Finanzspekulation zugewandt, um ihre Profite und ihren privaten Reichtum zu steigern. Billionen Dollar sind vergeudet worden, um nicht endende Kriege und die wahnwitzige Selbstbereicherung des obersten Prozents und des obersten Zehntelprozents zu finanzieren.
Die grundlegende Infrastruktur des Landes ist unterfinanziert und wird dem Verfall überlassen. Das geht so weit, dass Millionen Menschen mit Blei und anderen Giftstoffen aus verrotteten Trinkwassersystemen vergiftet werden. Die Ereignisse von Flint in Michigan sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Unter Obama hat sich diese soziale Konterrevolution verschärft. Die Finanzkrise von 2008 wurde von den gleichen Kräften, die sie verursacht haben, dazu benutzt, um die gesellschaftlichen Beziehungen von oben nach unten zu kehren und alle sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse des letzten Jahrhunderts zu revidieren. Ein zentrales Ziel dieses Angriffs ist die Gesundheitsversorgung der arbeitenden Bevölkerung.
Obamacare ist die Speerspitze einer ausgearbeiteten Strategie, die Quantität und Qualität der Krankenversicherung für Arbeiter zu reduzieren und das Gesundheitssystem direkt auf Grundlage der Klassenspaltung umzubauen. Die Kosten für die Regierung und die Wirtschaft sollen gesenkt werden, indem die von den Unternehmern finanzierten Krankenversicherungen ausgehöhlt werden. Arbeiter werden gezwungen, teure Policen mit minimaler Abdeckung von den marktbeherrschenden Versicherungskonzernen zu kaufen. Arzneimittel, ärztliche Untersuchungen und Behandlungen werden rationiert, um sie für Arbeiter unerreichbar zu machen.
Der Anstieg der Sterblichkeit bei Arbeitern und die immer stärker auseinanderklaffende Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen sind nicht einfach das Ergebnis unpersönlicher wirtschaftlicher Kräfte. In den Vorstandsetagen der Wirtschaft, den Think-Tanks und staatlichen Behörden arbeitet die herrschende Klasse aktiv daran, die Lebenserwartung der Arbeiterklasse zu senken. Ende 2013 veröffentlichte das Center for Strategic and International Studies, ein Washingtoner Think-Tank mit engsten Beziehungen zum Pentagon und zur CIA, zwei Strategiepapiere, die die „Verschwendung“ von Geld für die Gesundheitsversorgung der älteren Bürger beklagten. Die unmissverständliche Botschaft war, dass die breite Bevölkerung viel zu lange lebe und Mittel binde, die vom Militär für dessen weltweite Kriegsabenteuer benötigt würden.
Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Kluft in Amerika findet ihren politischen Ausdruck in der Entfremdung zwischen dem gesamten politischen Establishment und der Masse der arbeitenden Bevölkerung. Keine der beiden Parteien und auch keiner ihrer Präsidentschaftskandidaten, der „sozialistische“ Kandidat Bernie Sanders eingeschlossen, ist in der Lage, den wirklichen Zustand der sozialen Bedingungen ernsthaft zu benennen, geschweige denn, irgendetwas daran zu ändern.
In seiner letzten Rede zur Lage der Nation im Januar malte Obama das absurde Bild einer blühenden Wirtschaft. „Die Vereinigten Staaten von Amerika“, erklärte er, „haben die stärkste und stabilste Wirtschaft der Welt… Jeder der behauptet, Amerikas Wirtschaft befinde sich im Niedergang, verbreitet Märchen.“
Im Rennen um die Demokratische Präsidentschaftskandidatur versuchen sich Hillary Clinton und Bernie Sanders wechselseitig, den Mantel der Obama-Regierung streitig zu machen. Sie loben deren angebliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Errungenschaften.
Über die wirkliche Lage der arbeitenden Bevölkerung können sie nicht sprechen, weil sie das kapitalistische System verteidigen, das der Ursprung der sozialen Katastrophe ist. Die Lösung muss vom Verständnis des Problems ausgehen. Sie liegt im Aufbau einer unabhängigen sozialistischen und revolutionären Bewegung, die die gesamte Arbeiterklasse in den USA und in aller Welt vereint.