EU-Parlament lockert Abgasvorschriften für Diesel-Fahrzeuge

Nachdem aufgedeckt wurde, dass Volkswagen und andere Autohersteller die Abgaswerte massiv manipuliert haben, hat das Europäische Parlament nun die zulässigen Werte einfach nach oben gesetzt.

Am 3. Februar verabschiedete das Europaparlament mit der knappen Mehrheit von 323 zu 317 Stimmen neue Abgastests für Dieselautos. Danach sollen die Tests ab 2017 nicht mehr im Labor, sondern unter realistischeren Bedingungen auf der Straße erfolgen. Gleichzeitig dürfen aber neue Fahrzeugmodelle die vor Jahren beschlossenen Abgasnormen Euro 5 und Euro 6 dann um das 2,1-Fache und ab 2020 um das 1,5-Fache überschreiten. Für die Zulassung von Neuwagen gelten diese Werte sogar erst ab 2019 und 2021. Wann die Werte schließlich hundertprozentig eingehalten werden müssen, legt der Parlamentsbeschluss nicht fest.

Die neue Verordnung ist eine Reaktion auf den VW-Skandal und seine Nachwirkungen. Im vergangenen Herbst war bekannt geworden, dass der Volkswagen-Konzern bei über elf Millionen Diesel-Fahrzeugen und Hunderttausenden Benzinern die Abgaswerte mit einer speziellen Motor-Software manipuliert hatte. Unabhängige Tests vor allem der Deutschen Umwelthilfe (DUH) stellten danach auch bei vielen anderen Autoherstellern extrem erhöhte Abgaswerte fest.

Da die Fahrzeuge somit gegen die geltenden Abgasrichtlinien verstoßen, hätten die europäischen und nationalen Behörden die Zulassung von vielen Millionen Autos einkassieren und die Hersteller den Ausstoß drastisch senken müssen. Die Kampagne der Automobilindustrie und deren Betriebsräte hat dies verhindert.

Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht hatte schon Mitte Januar vor zu strengen Regeln nach dem VW-Skandal gewarnt: „Wir versuchen, mit Brüssel in Kontakt zu bleiben, damit keine Hyperaktivität entsteht, die uns vor unlösbare Probleme stellt.“ Und die DUH erklärt in einer Pressemitteilung zum Beschluss des Europaparlaments: „Das neue Verfahren wurde durch massiven Druck der deutschen Autobauer und der Bundeskanzlerin durchgesetzt.“

Neben Autos des VW-Konzerns wiesen auch Dieselfahrzeuge von BMW, Mercedes, Opel, Peugeot, Renault und Fiat erhöhte Abgaswerte im Straßenverkehr auf. So gab die DUH am Dienstag bekannt, das SUV-Modell Fiat 500X habe laut Messungen der Universität Bern unter bestimmten Bedingungen bis zu 22 Mal mehr Stickoxide ausgestoßen, als laut EU-Grenzwert erlaubt seien.

Schon im letzten Jahr hatte die DUH bei einem Opel Zafira sowie einem Renault Espace mit Dieselmotor massiv überhöhte Werte festgestellt. Der Zafira soll je nach Messmethode das bis zu 17-Fache des gültigen Grenzwertes ausstoßen, der Espace das 13- bis 25-Fache, teilte DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch damals mit.

Anfang Februar haben Kontrolleure des niederländischen Prüfinstituts TNO im Auftrag des niederländischen Umweltministeriums bei einem Dieselfahrzeug der C-Klasse von Mercedes-Benz sehr hohe Stickoxid-Konzentrationen gemessen. TNO maß im Stadtverkehr einen bis zu 40-fach höheren Ausstoß als auf dem Prüfstand.

Das getestete Modell soll auf dem Rollenprüfstand angeblich zu den saubersten Modellen seiner Klasse gehören. Wie Spiegel-Online berichtet, gab Mercedes an, dass die Abweichungen entstanden seien, weil TNO die Messungen bei der „bemerkenswert niedrigen“ Temperatur von unter zehn Grad Celsius durchgeführt habe. In der Motorsteuerung der Diesel-C-Klasse gebe es eine Vorrichtung, die die Stickoxid-Reinigung reguliert, so Mercedes.

Offensichtlich schaltet diese Steuerung die Abgasregulierung aus, sobald das Fahrzeug außerhalb der 25 Grad warmen Testhallen bewegt wird. Die Steuerung diene dem Schutz des Motors und sei damit erlaubt, erklärte der Hersteller. „Fahrzeuge von Mercedes-Benz entsprechen in vollem Umfang den jeweils zum Zeitpunkt der Zulassung geltenden, landesspezifischen Vorschriften“, so das Unternehmen.

Ein ähnliches Vorgehen musste im vergangenen Jahr Audi eingestehen. Bei 2,0-Liter-Motoren, die in unterschiedlichen Modellen zum Einsatz kommen, fiel eine „verdächtig erscheinende“ Software auf, so Audi. Eine „computergestützte Zeitschaltuhr“ regele die Verbrennung im Motor. Diese Steuerung des Abgasausstoßes zum angeblichen Schutz des Katalysators schaltet sich nach 1400 Sekunden ab. Das ist etwas länger als der durchschnittliche Prüfstandslauf in den USA dauert.

Das ZDF-Magazin Frontal 21 hatte ebenfalls an einem C-Klasse-Mercedes sowie einem BMW 320d Tests von der Berner Fachhochschule vornehmen lassen. Diese ergaben im Normalbetrieb etwa dreifache Werte des Stickoxidausstoßes.

Laut dem Fachexperten Axel Friedrich, der früher beim Umweltbundesamt arbeitete und nun als freier Berater die Tests für die DUH und das ZDF begleitet, ist dies „physikalisch-chemisch nicht zu erklären“. Die Frage, ob es aus seiner Sicht eine andere Erklärung gebe als eine illegale Abschaltvorrichtung, wollte er nicht direkt beantworten: „Meine Haftpflichtversicherung reicht nicht aus, um dazu eine Aussage zu treffen.“

Der Hintergrund ist, dass sowohl Mercedes als auch BMW gegen Leute vorgehen, die über abweichende Messwerte ihrer Fahrzeuge berichten. Die DUH erhielt ein Schreiben vom Berliner Anwalt Christian Schertz im Auftrag des Mercedes-Mutterkonzerns, der Daimler AG. Sollte die DUH „auch nur irgendwie die Behauptung aufstellen“, dass Mercedes „Abgaswerte manipuliert habe“, werde man „mit aller gebotenen Nachhaltigkeit“ dagegen vorgehen und den Verband „für jeden wirtschaftlichen Schaden, der meiner Mandantin dadurch entsteht, haftbar machen“, drohte der Anwalt. Zugleich verlangte er, dass das Schreiben nicht veröffentlicht werde, sonst drohten „gesonderte rechtliche Schritte“. Die DUH stellte das Schreiben ins Internet.

Auch das ZDF erhielt vor Ausstrahlung des Frontal-21-Beitrags ähnliche Schreiben von Anwälten der Konzerne.

Die Ergebnisse der unabhängigen Messungen – die DUH fand in Deutschland keinen Prüfdienst, der diese Aufgabe übernehmen wollte und musste in die Schweiz gehen – belegt, dass es sich bei dem Abgasbetrug von VW nicht um einen Einzelfall handelte. Betrug ist zur Methode geworden.

Die global agierenden Autokonzerne stehen schon seit den 1980er Jahren unter dem ständigen Druck ihrer Aktienbesitzer, die Rendite zu steigern. Nicht mehr die langfristige Entwicklung der Produktion – und schon gar nicht die Umwelt – ist das leitende Prinzip der Wirtschaft. Die kurzfristige Eroberung zusätzlicher Marktanteile, die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Arbeitskosten entscheiden über Aufstieg oder Absturz ganzer Konzerne. Deshalb betrügen sie etwa bei den Abgaswerten. Ob die Hersteller dies mit oder ohne Software und Abschaltautomatik tun, ist ein gradueller Unterschied, kein qualitativer.

Die Autokonzerne werden dabei von ihren jeweiligen Regierungen unterstützt. Die deutsche Bundesregierung sieht sich offen als Interessenvertreterin der Automobilindustrie. Die Hersteller hatten in den letzten Jahren von ihr nie etwas zu befürchten.

So ist es nun auch jetzt wieder im Zuge des Abgasskandals. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) richtete sofort nach Bekanntwerden des Abgasbetrugs bei VW eine „Untersuchungskommission“ ein und beauftragte das Kraftfahrtbundesamt (KBA), eine dem Bundesverkehrsministerium unterstellte Bundesoberbehörde, mehr als 50 Fahrzeuge verschiedener Hersteller auf ihre Abgasemissionen hin zu untersuchen. Seitdem ist es stillgeworden im KBA. Seine Messwerte hält es seit über vier Monaten geheim.

Dobrindt hatte auch lange Zeit die Zusammensetzung der Untersuchungskommission geheim gehalten, die nach seinen Angaben herausfinden soll, „ob die betreffenden Fahrzeuge konform der deutschen und der europäischen Regeln gebaut und auch geprüft worden sind“. Nun teilte Dobrindt mit, dass die Kommission aus acht Mitgliedern bestehe, fünf aus seinem Ministerium, zwei aus dem ihm unterstellten KBA und dem „unabhängigen Experten“ Professor Georg Wachtmeister. Dieser besetzt an der Technischen Universität München den Lehrstuhl für Verbrennungskraftmaschinen. Er habe in der Vergangenheit auch für die Fahrzeugindustrie gearbeitet, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Die Kontrolleure kontrollieren sich also selbst.

Die Untersuchungskommission hat einzig und allein den Zweck, ihre enge Kungelei mit der Autoindustrie zu verschleiern und zu decken. Denn der Bundesregierung war seit Langem bekannt, dass Autohersteller bei Abgastests Abschalteinrichtungen benutzen.

Dies geht z. B. aus der Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom 28. Juli 2015 hervor. Auf eine Frage zu Abschaltvorrichtungen bei Benzin- oder Dieselmodellen antwortete die Bundesregierung, sie teile „die Auffassung der Europäischen Kommission, dass das Konzept zur Verhinderung von Abschalteinrichtungen sich in der Praxis bislang nicht umfänglich bewährt hat“.

„Vor diesem Hintergrund“ unterstütze die Bundesregierung „auch die derzeitigen Arbeiten zur Fortentwicklung des EU-Regelwerks, insbesondere mit dem Ziel, die Realemissionen von Kraftfahrzeugen weiter zu senken.“ Ein halbes Jahr später hat die Bundesregierung über das EU-Parlament das Gegenteil durchgesetzt.

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