Der Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) warnt davor, dass die Ankunft von Flüchtlingen, die vor Krieg und Unterdrückung im Nahen Osten fliehen, „viele westeuropäische Regierungen veranlasst, den Schutz von Menschenrechten zurückzufahren“, und fährt fort: „Dieser Rückschritt bedroht die Rechte von allen“ Teilen der Bevölkerung, nicht nur von Flüchtlingen.
In der Einführung zu dem Bericht stellt der Leitende HRW-Direktor, Kenneth Roth, fest: „In Europa und in den Vereinigten Staaten hat sich eine polarisierende Wir-Gegen-Sie-Haltung breit gemacht und sich vom politischen Rand in den Mainstream vorgearbeitet. Plumpe Islamophobie und schamlose Dämonisierung von Flüchtlingen sind das Markenzeichen einer stärker werdenden Politik der Intoleranz geworden.“
„Der öffentliche Diskurs“, fährt Roth fort, „ist zunehmend von hasserfüllten Stimmen gegen und Furcht vor Muslimen geprägt, die Flüchtlinge, [die in Europa ankommen] gelten als ihre Personifizierung.“ Das Klima trägt zu „der hartnäckigen Diskriminierung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung bei, die sich in einigen Stadtvierteln am Rande einiger europäischer Städte breitmachen.“
2015 gab es in ganz Europa und Amerika einen dramatischen Rollback bei demokratischen Rechten. In Frankreich setzte die Hollande-Regierung eine Ausweitung der Überwachungsbefugnisse der Regierung und eine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch. Um das zu erreichen, nutzte sie die Anschläge vom November in Paris und den Terroranschlag auf Charlie Hebdo Anfang des Jahres als Vorwand. In den Vereinigten Staaten wurde Anfang des letzten Jahres das Militär in Baltimore gegen friedliche Proteste gegen Polizeibrutalität eingesetzt. Gleichzeitig ging die Massenausspähung der Bevölkerung durch die Regierung ungehindert weiter.
Der Bericht umfasst für 2015 umfangreiche Analysen der Lage in mehr als neunzig Ländern. Der bei weitem umfangreichste Teil mit 24 Seiten betrifft die Europäische Union. Er ist größer als der über Saudi-Arabien, dessen absolute Monarchie vergangenes Jahr eine Rekordzahl von Hinrichtungen durch Enthauptungen vorgenommen hat, darunter auch von vielen politischen Gefangenen. Es geht auch um Länder wie Syrien und Libyen, in denen Bürgerkriege wüten. Die Vereinigten Staaten stehen auf dem zweiten Platz mit siebzehn Seiten.
In dem Bericht steht, dass zurzeit seiner Erstellung 850.000 Menschen mit Booten ihr Heil in Europa gesucht hatten, hauptsächlich aus von Kriegen verwüsteten Ländern am Horn von Afrika und dem Nahen Osten, vor allem aus Syrien. Mehr als 3.770 waren dabei ertrunken, ein Drittel davon waren Kinder. Die bei Weitem am stärksten genutzte Route ging von der Türkei auf die griechischen Inseln in der Ägäis.
Vereinbarungen zwischen europäischen Regierungen über die Verteilung von Flüchtlingen auf den ganzen Kontinent waren das Papier nicht wert, auf dem sie standen, weil zahlreiche Länder ihre Grenzen für Flüchtlinge schlossen. Nur 159 Flüchtlinge wurden aus Italien und Griechenland weiterverteilt, obwohl ein Abkommen vom letzten Jahr die Verteilung von 160.000 Asylsuchenden vorsah.
Die Angriffe auf Muslime stiegen vergangenes Jahr stark an. Neonazigruppen fühlten sich durch die diskriminierende Politik europäischer Regierungen ermutigt. Solche Angriffe haben in London in der ersten Hälfte von 2015 um 46,7 Prozent zugenommen. Rassistische Angriffe richten sich aber keineswegs nur gegen Muslime; auch antisemitische Angriffe nehmen zu und diskriminierende Räumungen von Romalagern gehen in der ganzen EU weiter. In den baltischen Republiken werden häufig russischsprachige Einwohner diskriminiert.
Roth erklärt, dass auch die Vereinigten Staaten Flüchtlinge verfolgen. Vergangenes Jahr versuchten dreißig US-Gouverneure, syrische Flüchtlinge aus ihren Staaten herauszuhalten. Der führende republikanische Präsidentschaftsbewerber Donald Trump ging sogar mit der Idee hausieren, Muslime gänzlich daran zu hindern, das Land zu betreten. Außerdem setzten die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr verstärkt die Praxis fort, eingewanderte Frauen aus Mittelamerika und ihre Kinder zu inhaftieren. Viele von ihnen sind vor Gewalt in ihren Heimatländern geflohen. In dem Bericht wurde es zwar nicht erwähnt, aber die Obama-Regierung läutete das neue Jahr vergangenen Monat mit einer neuen Runde gezielter Deportationen von Kindern aus Mittelamerika ein.
Der Bericht äußert sich besorgt über die immer stärkere staatliche Unterdrückung und Überwachung in den Vereinigten Staaten und Europa, die meist mit der angeblichen Bedrohung durch Terrorismus begründet wird. Am Beispiel der Terroranschläge letzten November in Paris warnt der Bericht, dass „die Erfahrung mit großen Anschlägen in Europa die Besorgnis rechtfertigen, dass Menschenrechte erneut im Namen der Sicherheit geopfert werden.“ Dem Bericht zufolge wurden nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar letzten Jahres in Frankreich in weniger als drei Monaten 298 Menschen des „breit gefassten und schwammigen“ Verbrechens der „Glorifizierung des Terrorismus“ angeklagt.
In den Vereinigten Staaten nutzten die Geheimdienste die Anschläge vom letzten Jahr, um ihre Forderung zu erneuern, Zugang zu online verschlüsselten Daten zu erhalten, obwohl die Täter von Paris ihre Kommunikation gar nicht verschlüsselten. Das KZ auf Guantánamo Bay hingegen ist immer noch in Betrieb, obwohl Obama seit Jahren leere Versprechungen macht, es zu schließen. Das Kriegsermächtigungsgesetz vom letzten Jahr, das Obama unterzeichnet hat, macht es sogar noch schwieriger, Gefangene aus Guantánamo zu entlassen.
Viele der übrigen in dem Bericht registrierten Menschenrechtsverletzungen wurden von Verbündeten der Vereinigten Staaten oder der europäischen imperialistischen Mächte begangen. Bei der von den Saudis geführten Invasion im Jemen wird zum Beispiel absichtlich die zivile Infrastruktur angegriffen, heißt es in dem Bericht. Aufgrund der Lieferung von Aufklärungsdaten, logistischer und personeller Unterstützung, die die Vereinigten Staaten den Saudis geben, sind die Vereinigten Staaten unter Umständen gemeinsam mit Saudi-Arabien der Verletzung des Kriegsrechts schuldig. Der Bericht erwähnt auch die anhaltende Hilfe der USA für den ägyptischen Diktator Abdel Fattah al-Sisi und die Tatsache, dass die Obama-Regierung Bestimmungen des Gesetzes gegen Kindersoldaten außer Kraft gesetzt hat, um weiter das Militär mehrerer afrikanischer Staaten unterstützen zu können.
Der Weltimperialismus hat in den letzten 25 Jahren zahllose verbrecherische Kriege mit der Begründung eines „humanitären Eingreifens“ gerechtfertigt. Jetzt muss eine führende Menschenrechtsgruppe zugeben, dass diese gleichen Mächte für Menschenrechtsverletzungen in ihren eigenen Ländern verantwortlich sind. Das entlarvt nicht nur die Sorge des Imperialismus um Menschenrechte als Betrug, es ist auch ein Anzeichen dafür, dass die zunehmenden Polizeistaatsmethoden in diesen Ländern vor allem gegen die eigene Arbeiterklasse gerichtet sind.