Das Pentagon-Handbuch zum Kriegsrecht

Eine Blaupause für totalen Krieg und Militärdiktatur

Das neue vom US-Verteidigungsministerium herausgegebene „Handbuch zum Kriegsrecht“ (Law of War Manual) ist im Wesentlichen eine Anleitung, wie man das Völkerrecht und US-Gesetze bricht und Kriegsverbrechen begeht. Das 1165 Seiten starke Dokument wurde im Juni 2015 vorgelegt und erst Monate später online gestellt. Es entspricht nicht geltendem Recht, sondern zeigt vielmehr, wie das Pentagon sich die Gesetze nach Gutdünken zurechtbiegt.

Nach diesem Handbuch setzt das „Kriegsrecht“ (d.h. das Kriegsrecht, wie es das Pentagon versteht) nicht nur die internationalen Menschenrechtsverträge, sondern auch die US-Verfassung außer Kraft.

Das Handbuch erlaubt die Tötung von Zivilisten in bewaffneten Konflikten und schafft die Voraussetzungen für massenhafte Inhaftierungen durch das US-Militär. Journalisten dürfen nicht nur zensiert, sondern auch als Spione behandelt werden, wenn die Generäle das für notwendig halten. Das Handbuch stellt den Einsatz von Atomwaffen frei und lässt auch Napalm, Geschosse aus angereichertem Uran, Streubomben und andere schreckliche Waffen zu.

Das Handbuch sollte eher Manual für den totalen Krieg und die Errichtung einer Militärdiktatur genannt werden.

Das Handbuch ist der Beweis dafür, dass Militarismus und Demokratie nicht vereinbar sind. In den 25 Jahren seit der Auflösung der Sowjetunion und besonders in den vierzehn Jahren seit Beginn des sogenannten „Kriegs gegen den Terror“ haben die USA fast ununterbrochen Krieg geführt. Damit versuchen sie, ihren wirtschaftlichen Niedergang durch Einschüchterung und militärische Gewalt auf der ganzen Welt zu kompensieren.

Die Regierung hat in der Ukraine mit Hilfe von Faschisten einen Staatsstreich inszeniert, in Ägypten unterstützt sie eine repressive Militärdiktatur. Sie billigt die Verwüstung des Gazastreifens und den Massenmord an den Palästinensern. Es ist kaum zu erwarten, dass eine solche Regierung in den USA selbst die Gesetze einhält und demokratische Prinzipien achtet.

Die Regierungen beider Präsidenten Bush und Obama haben den „Krieg gegen den Terror“ zum schrittweisen Abbau demokratischer Rechte im Inland genutzt: Mit dem Patriot Act haben sie polizeistaatliche Einschränkungen eingeführt, und mittels der NSA und anderer Geheimdienste lassen sie die Bevölkerung rund um die Uhr überwachen. Sie haben die Polizei aufgerüstet. Sie lassen es nicht dabei bewenden, Vorkehrungen zur Inhaftierung und Ermordung von US-Bürgern ohne Anklage und Gerichtsprozess zu treffen, sondern haben bereits die ersten Präzedenzfälle geschaffen.

Bei all dem ist das Pentagon-Handbuch ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Polizeistaat.

Präsident Dwight D. Eisenhower hat in seiner berühmten Abschiedsrede im Jahr 1961 vor den Gefahren gewarnt, die von dem „militärisch-industriellen Komplex“ ausgehen. Das gegenwärtige US-Establishment aus Militär, Geheimdiensten und Großindustrie ist heute aber viel mächtiger und einflussreicher, als sich Eisenhower je hätte träumen lassen. Die Mächtigen mit den bluttriefenden Händen schwimmen im Geld und brüsten sich ihrer Unangreifbarkeit, sie verachten das Recht und die Demokratie und sind entschlossen, in den USA und im Ausland weiterhin Gräueltaten und Kriegsverbrechen zu begehen.

Das Pentagon-Handbuch bringt eine weltweite Tendenz des Imperialismus zum Ausdruck. Wie seine Autoren betonen, waren „auch britische und australische Offiziere, die an Austauschprogrammen der US-Luftwaffe teilnahmen, an seiner Erstellung beteiligt“. Weiter heißt es: „Außerdem haben Rechtsberater der Streitkräfte Kanadas, Großbritanniens, Neuseelands und Australiens den 2009 vorgelegten Entwurf des Handbuchs überprüft, und ausgewählte Juristen haben Kommentare dazu abgegeben“ (s. Manual-Einleitung, S. V).

Das Handbuch, „in dem viele Jahre Arbeit und Erfahrung stecken“, gilt für alle dem Verteidigungsministerium unterstellten Teilstreitkräfte: die Armee, die Marine, die Luftwaffe und das Marinekorps, die vier US-Geheimdienste, einschließlich der NSA, und die vielen anderen nachgeordneten Dienststellen und Pentagon-Behörden. Das sind im Ganzen 2,13 Millionen im aktiven Dienst stehende Personen und 1,1 Millionen Reservisten. Weiter heißt es in dem Handbuch: „Seit Jahren fordern Rechtsberater des Pentagons die Vorlage eines Handbuchs zum Kriegsrecht“ (Einleitung, S. V). Das neue Handbuch ersetzt mehrere, unterschiedlich geartete politische Dokumente, die bisher für die Teilstreitkräfte und die Geheimdienste Geltung hatten.

Das Handbuch ist das Ergebnis langjähriger Bemühungen sowohl Demokratischer wie Republikanischer Regierungen, darunter der Bush- und der Obama-Regierung. Es wurde von höchster Regierungsebene herausgegeben und von der „Arbeitsgruppe Kriegsrecht“ erstellt. „Vorsitz führte ein Vertreter des Verteidigungsministeriums, und Teilnehmer waren Vertreter der höchsten Militärrichter von Armee, Marine und Luftwaffe, der Rechtsberater des Marinekorps-Kommandeurs, Vertreter aller Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte und der Rechtsberater des US-Generalstabs“ (Einleitung, S. V–VI).

Der höchste Rechtsberater des Pentagons ist Stephen W. Preston, derselbe, der von 2009 bis 2012 auch führender Rechtsberater der CIA war. In dieser Zeit tat die CIA alles, um eine Untersuchung der von ihr begangenen Kriegsverbrechen und der illegalen Folterpraxis des Geheimdienstes zu verhindern. Es ist unklar, ob überhaupt irgendeine zivile Behörde das Handbuch überprüft und genehmigt hat.

Die Bedeutung der Nürnberger Prozesse

Im „Handbuch zum Kriegsrecht“ finden sich viele Verweise auf die Nürnberger Prozesse, ein komplexes und wichtiges Ereignis aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts. Gleich zu Beginn wird darauf Bezug genommen:

„Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Juristen des US-Militärs über Tausende von Angeklagten vor Militärgerichten das Urteil gesprochen. Das taten sie nach den Worten des Chefanklägers Robert Jackson ’nicht, um Rache zu üben, sondern um ihre in Gefangenschaft geratenen Feinde nach Recht und Gesetz für ihre Verbrechen zu bestrafen’. Er nannte es ’einen besonders wichtigen Anlass‘, um ’der Vernunft den Vorzug vor der Macht zu geben‘. In Erinnerung an diesen historischen Prozess stellte ein Chef des US-Generalstabs fest: ’Das Kriegsrecht ist deshalb eigentlich eine US-amerikanische Errungenschaft.‘ Und es trifft auch zu, dass die US-Streitkräfte genauso durch das Kriegsrecht geprägt wurden wie alle anderen Streitkräfte der Welt.“

Das Pentagon beruft sich im Jahr 2015 immer noch auf den Nürnberger Präzedenzfall! Das ist etwa genauso glaubwürdig wie ein Konzern, der die Umwelt verpestet und behauptet, sich dem Umweltschutz verschrieben zu haben. Würden die in Nürnberg entwickelten Prinzipien heute auf die US-Regierung angewandt, dann müsste die gesamte Pentagon-Führung vor Gericht gestellt und verurteilt werden, denn sie zettelt immer neue völkerrechtswidrige Angriffskriege an. Nachdem die Alliierten Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg besiegt hatten, beriefen die Siegermächte internationale Tribunale ein, um die Hauptkriegsverbrecher der geschlagenen Gegner anzuklagen. Der berühmteste Prozess fand vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg gegen Hermann Göring, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop und andere Nazigrößen statt.

Diesen Verfahren gegen Kriegsverbrecher der unterlegenen Mächte haftete zweifellos ein Element von „Siegerjustiz“ an, denn in der gleichen Augustwoche des Jahres 1945, in der die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich die Gründung eines Internationalen Militärtribunals vereinbarten, begingen die USA mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zwei der abscheulichsten Kriegsverbrechen.

Trotzdem stehen die in Nürnberg vertretenen völkerrechtlichen Prinzipien in scharfem Widerspruch zum derzeitigen korrupten und gesetzlosen politischen Establishment der USA, das für sich das Recht in Anspruch nimmt, jede beliebige Person überall auf der Welt jederzeit ohne Anklage und Gerichtsverhandlung zu entführen oder zu ermorden, Staaten „vorbeugend“ zu überfallen und die Bevölkerung der ganzen Welt auszuspionieren.

Der Nürnberger Prozess fand statt, weil sich die Alliierten mehrheitlich darauf einigten, die Nazigrößen nicht einfach exekutieren zu lassen, was sie auf der Grundlage einer „politischen Entscheidung“ hätten tun können. Die Angeklagten erhielten die Möglichkeit, sich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren durch einen Rechtsanwalt eigener Wahl verteidigen zu lassen, Entlastungszeugen zu benennen und vorgelegte Beweise zu entkräften.

Der wichtigste Rechtsgrundsatz, der in Nürnberg entwickelt wurde, lautet: Die Entfesselung eines Angriffskriegs ist das schwerste internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken der anderen Verbrechen einschließt und anhäuft. Für die Richter, die im Nürnberger Prozess über einige der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu urteilen hatten, waren also die von Hitler und seinen Helfershelfern entfesselten Angriffskriege die schlimmsten Verbrechen überhaupt.

US-Chefankläger war der dem Obersten US-Gericht angehörende Richter Robert Jackson. Sein Assistent Telford Taylor schrieb in einem Vermerk für Jackson, die Frage nach den Motiven und Zielen der Nazis sei nicht das wichtigste Rechtsproblem: „Die Frage nach den Ursachen ist sicher wichtig und wird die Historiker noch lange beschäftigen. Sie ist aber nicht in diesem Prozess zu klären, der sich ausschließlich mit der Planung und Entfesselung illegaler Angriffskriege zu befassen hat, unabhängig davon, welche Gründe die Angeklagten für ihr Handeln geltend machen.“

Mit anderen Worten, die Entfesselung eines Angriffskriegs ist ein krimineller Akt – ein Verbrechen gegen den Frieden – unabhängig von den politischen Argumenten, die zu seiner Rechtfertigung angeführt werden.

Im Nürnberger Urteil wird auch das Argument zurückgewiesen, Verbrechen, die auf höheren Befehl, begangen wurden, seien den Tätern nicht anzulasten. Das 4. Nürnberger Prinzip lautet: „Handeln auf höheren Befehl befreit nicht von völkerrechtlicher Verantwortlichkeit, sofern der Täter auch anders hätte handeln können.“

Diese auf demokratischen Vorstellungen beruhenden Prinzipien wirkten lange über den Prozess hinaus nach. Während des Vietnamkrieges schrieb Taylor in seinen Erinnerungen: „Tausende von jungen Männern machten unter Berufung auf die Nürnberger Prinzipien geltend, dass ihnen das Völkerrecht verbiete, an diesem US-Angriffskrieg teilzunehmen.“

Am 12. Juli 2013 hat sich auch NSA-Whistleblower Edward Snowden auf die Nürnberger Prinzipien berufen, um seine Enthüllungen über illegale Überwachungspraktiken zu rechtfertigen: „Ich halte mich an die 1945 in Nürnberg entwickelten Prinzipien. Auch als Individuum bin ich zur Achtung des Völkerrechts verpflichtet und fühle mich deshalb von der Einhaltung nationaler Vorschriften entbunden. Auch US-Bürger haben die Pflicht, sich über amerikanische Gesetze hinwegzusetzen, um Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit zu verhindern.“

Der Nürnberger Präzedenzfall bezeugte auch das Selbstvertrauen, mit dem die USA als dominierende imperialistische Macht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren. Die herrschende Klasse der USA glaubte, es sich unter diesen Umständen leisten zu können, nicht nur demokratische Prinzipien geltend zu machen, sondern auch zu versichern, dass diese für alle Staaten, also auch für die USA, gelten sollten.

Am 23. Juli 1945 erklärte Jackson vor der International Conference on Military Tribunals in London, dem Alliierten-Gremium, das diese Prozesse vorbereitete: „Wenn wir bestimmte gewaltsame Verletzungen von völkerrechtlichen Verträgen zu Verbrechen erklären, dann gilt das unabhängig davon, ob diese Verbrechen von den USA oder von Deutschland begangen werden. Wir können verbrecherisches Verhalten nicht nur bei anderen ahnden, wir müssen uns auch selbst den von uns festgelegten Bestimmungen unterwerfen.“

Siebzig Jahre nach den Nürnberger Prozessen hört die US-Regierung nicht mehr auf die Juristen Jackson und Taylor, sie handelt eher wie die in Nürnberg Angeklagten. Das Pentagon beruft sich zwar auf die Nürnberger Prinzipien, hat aber seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion u.a. den Irak, Somalia, Haiti, das ehemalige Jugoslawien, den Sudan, Afghanistan, Pakistan, Libyen, Syrien, Nigeria und den Jemen überfallen.

Da die Entfesselung von Angriffskriegen völkerrechtswidrig ist, müssten gegen Barack Obama, Hillary Clinton, George W. Bush, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, John Brennan, Leon Panetta, Robert Gates, James Clapper, John Ashcroft, Joe Biden, John Kerry und ihre kriminellen Mitverschwörer schon längst Haftbefehle ergangen sein. Alle genannten Personen gehören wie Göring und die anderen Nazigrößen auf die Anklagebank, weil sie Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen haben.

Es liegen genügend stichhaltige Beweise für Anklageerhebungen vor. Ein solches Beweisstück ist zum Beispiel ein Memorandum Donald Rumsfelds vom 27. November 2001, in dem er vorschlägt, wie ein Angriffskrieg gegen den Irak mit gefälschten Anschuldigungen zu rechtfertigen wäre. Unter der entlarvenden Überschrift „Wie beginnen?“ erwägt er folgende mögliche Hypothesen: „Saddam plant einen Angriff auf die Kurden im Norden des Iraks? Die USA entdecken, dass er in die Anschläge vom 11. September 2001 und die Milzbrand-Attentate verwickelt war? Auseinandersetzung über die UN-Inspektoren? Befassen wir uns zunächst mit der Forderung nach Inspektionen.“

Rumsfelds Memorandum ist einer von vielen Beweisen dafür, dass es eine Absprache gab, die Invasion des Iraks im Jahr 2003 mit Lügen und Vorwänden zu rechtfertigen. Durch diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verloren Hunderttausende von Menschen ihr Leben und Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen. Die irakische Gesellschaft wurde zerstört, islamistische Gruppierungen wie der IS tauchten auf und privates und staatliches Eigentum im Wert von Billionen Dollar wurde vernichtet.

Die Nürnberger Prozesse hatten ein ähnlich kriminelles Komplott enthüllt, mit dem die Nazis ihren Überfall auf Polen zu rechtfertigen versuchten. Um einen Kriegsgrund zu haben, inszenierten sie einen „polnischen Überfall“ auf den Sender Gleiwitz. In Nürnberg konnte nachgewiesen werden, dass der Überfall von Deutschen durchgeführt wurde, die sich als Polen ausgaben. Hitler hatte vor seinen Generälen geprahlt: „Die Glaubwürdigkeit spielt keine Rolle. Niemand wird den Sieger fragen, ob er die Wahrheit gesagt hat.“

Tu, was ich dir sage, und nicht, was ich selber tue

Trotz der wiederholten Berufung auf den Nürnberger Präzedenzfall lautet das Motto, das das Pentagon-Handbuch größtenteils prägt: „Tue, was ich dir sage, und nicht, was ich selber tue!“

Zum Angriffskrieg wird zum Beispiel gesagt: „Der Angriffskrieg ist die schwerwiegendste, gefährlichste und illegalste Form der Anwendung militärischer Gewalt… Die Entfesselung eines Angriffskriegs ist ein völkerrechtswidriges Verbrechen“ (Handbuch, S. 44). Diese Aussage stimmt mit den Nürnberger Prinzipien überein.

Wer weiter liest, stellt allerdings fest, dass dieser Grundsatz nur für andere Staaten, aber nicht für die USA gelten soll. Dem Handbuch ist zu entnehmen, dass die USA den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) nicht anerkennen und infolgedessen auch nicht in die Lage kommen können, wegen ihrer Angriffskriege vor ihm angeklagt und von ihm verurteilt zu werden.

Im Handbuch steht außerdem: „Die USA vertreten die Ansicht, dass die Definition des Angriffskriegs im Statut von Rom (bzw. in den in Kampala beschlossenen Änderungen) nicht mit dem Völkerrecht übereinstimmt“ (S. 45). Die USA seien „auch besorgt, weil der ICC möglicherweise einen Staat wegen eines Angriffskriegs verurteilen könnte, ohne dass der UN-Sicherheitsrat vorher zu Schluss kam, dass es sich tatsächlich um einen Angriffskrieg handle“ (S. 1112). Einen derartigen Beschluss des Sicherheitsrates könnten die USA mit ihrem Veto natürlich jederzeit verhindern.

Die Weigerung der USA, die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs anzuerkennen, ist von großer historischer Bedeutung. Für das Zustandekommen des Nürnberger Präzedenzfalls spielten die USA eine Hauptrolle, aber jetzt weigern sie sich, die Durchsetzung dort getroffener Festlegungen auch für sich selbst zu akzeptieren. Damit geben sie eigentlich zu, dass bei einer Anwendung der Nürnberger Prinzipien auf die heutigen USA buchstäblich das gesamte offizielle Washington eingesperrt werden müsste. Die Weigerung entlarvt auch die betrügerische Arroganz, mit der sich Washington als selbsternannter „Weltpolizist“ aufspielt und sich anmaßt, andere Staaten wegen angeblicher Verstöße gegen das Völkerrecht anzugreifen oder mit Sanktionen zu belegen.

Ähnlich wird in dem Pentagon-Handbuch auch mit der Folter verfahren. Dazu heißt es: „Natürlich ist es illegal, Häftlinge bei Verhören zu foltern, um an Informationen zu kommen“ (S. 309). Gleichzeitig wird kein Wort über das systematische sadistische Folterprogramm der CIA verloren, das mit dem Einverständnis hochrangiger Mitarbeiter des Weißen Hauses praktiziert worden ist, für das bisher aber niemand zur Verantwortung gezogen wurde.

Das Handbuch ist voller Einschränkungen, Ausschlussklauseln und Zweideutigkeiten. So ist zum Beispiel darin zu lesen: „Dieses Handbuch liefert keinerlei juristische Handhabe materieller oder verfahrenstechnischer Art, die es möglich machen, gegen die USA, einzelne Ministerien, Behörden oder andere staatliche Einrichtungen und gegen Behördenleiter, staatliche Angestellte oder US-Bürger strafrechtlich vorzugehen" (S. 1). Mit anderen Worten, das Kriegsrecht müssen nur die anderen Staaten einhalten, die USA selbst natürlich nicht. Passagen, wie die gerade zitierte, lassen erkennen, dass es in diesem „Handbuch zum Kriegsrecht“ nicht um das Recht, sondern nur um die Rechtfertigung von Taten des Pentagons geht.

Die Heuchelei und Widersprüchlichkeit, die das Pentagon in Fragen der Folter und des Angriffskriegs an den Tag legt, ist vor allem Ausdruck der tiefen Krise, in der sich die herrschende Klasse der USA befindet. Einerseits bemüht sich die US-Regierung ständig, ihre imperialistischen Projekte als völkerrechtskonform darzustellen. So wurde zum Beispiel zur Rechtfertigung des ersten Golfkriegs 1991 die Invasion Kuwaits durch den Irak als „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ hingestellt.

Und im letzten Jahr haben führende US-Politiker Russland der „Aggression“ gegen die Ukraine bezichtigt. Zwar haben die USA den Staatsstreich in der Ukraine mit Hilfe vieler Millionen US-Dollars und ausgewählter US-Kommandos inszeniert. Aber John Kerry beschuldigte Russland, die „nationale Souveränität“ und „territoriale Integrität“ der Ukraine zu verletzen. Obama erklärte: „Wir glauben, dass Russland mit seinen Aktivitäten gegen das Völkerrecht verstößt.“

Andererseits fallen die USA über jedes Land her, das ihnen aus irgendeinem Grund nicht passt, und scheren sich nicht um das Völkerrecht, die nationale Souveränität und die territoriale Integrität. Sie bombardieren ohne jede Rücksicht auf das Kriegsrecht, dessen Einhaltung sie von anderen Staaten fordern. Wenn die Angriffskriege der USA internationale Zustimmung finden, freut sie das, wenn nicht, greifen sie trotzdem an.

In dem Handbuch heißt es: „Die Berechtigung, Handlungen vorzunehmen, die unter das Kriegsrecht fallen, erwächst aus der Souveränität eines Staats und nicht aus irgendwelchen völkerrechtlichen Vereinbarungen.“ Mit anderen Worten, die USA können sich über Verträge, Abkommen und andere „völkerrechtliche Vereinbarungen“ einfach hinwegsetzen. So hat die US-Regierung im Jahr 2002 sogar ausdrücklich erklärt, sie fühle sich nicht an die Genfer Konvention von 1949 gebunden, sondern wolle an ihrer eigenen Interpretation des Völkerrechts festhalten.

In den Nürnberger Prozessen hat Chefankläger Jackson das Nazi-Regime als monströses kriminelles Unternehmen und als gigantische illegale Verschwörung bezeichnet, die sich auf äußerst zynische und selbstsüchtige Weise ein eigenes „Recht“ geschaffen habe. Die Angeklagten hätten „überrascht zur Kenntnis genommen, dass überhaupt ein allgemein verbindliches Recht existierte. Sie hatten sich an kein Gesetz gebunden gefühlt. Ihre Ideologie ignorierte einfach jede Art von Recht ... Auf das Völkerrecht, das Naturrecht, die deutschen Gesetze und die Gesetze anderer Staaten beriefen sie sich aus propagandistischen Gründen nur dann, wenn sie sich einen Nutzen davon versprachen. Gleichzeitig missachteten sie jedes Recht, wenn es ihre Untaten behinderte.“ Diese Einschätzung trifft voll und ganz auf das Pentagon und dessen Handbuch zum Kriegsrecht zu.

Das Handbuch gibt dem Pentagon ausdrücklich grünes Licht dafür, seine Positionen von heute auf morgen zu wechseln. Seine Autoren schreiben, das Dokument „untersagt dem Pentagon nicht, seine Interpretation des Kriegsrechts jederzeit erneut zu verändern“ (Vorwort, S. 1).

Rahmenkonzept für eine Militärdiktatur

Die gefährlichsten Passagen des Pentagon-„Handbuchs zum Kriegsrecht“ sind die Kapitel, in denen auf andere Rechtsgebiete Bezug genommen wird. Dem Handbuch zufolge steht das Kriegsrecht über allen anderen Rechtssetzungen, auch über den internationalen Verträgen zu Menschenrechten und über der US-Verfassung. Dieses Handbuch macht also den Weg frei für die Verhängung des Ausnahmezustands, die Aussetzung der Verfassung und die Errichtung einer Militärdiktatur.

Anhand von Zitaten aus einer Abhandlung mit dem Titel „Militärrecht und Präzedenzfälle“ behauptet das Handbuch, das Kriegsrecht stehe sogar über der Verfassung: „‘Im Kriegsfall kann das Militär’, wie ein Richter bemerkte, ‘das geltende Recht eines Staats durch das Kriegsrecht ersetzen. Die Rechtsprechung erfolgt dann nicht mehr durch zivile Gerichte, sondern durch Militärgerichte.‘ Da der Kongress oder der Präsident die zwei Verfassungsorgane seien, die den Krieg erklärten, könne das Kriegsrecht zeitweise sogar die Verfassung außer Kraft setzen“ (S. 10, Hervorhebung hinzugefügt).

Da die USA „im Krieg gegen den Terror“ die ganze Welt zum „Schlachtfeld“ erklärt haben, könnten sie mit dieser Interpretation des Kriegsrechts auch eine Militärdiktatur über den ganzen Erdball errichten.

Das neue Pentagon-„Kriegsrecht“ kann sich weder auf historische Präzedenzfälle noch auf das Völkerrecht berufen. Wenn im Handbuch vom „Kriegsrecht“ die Rede ist, ist das nur eine beschönigende Umschreibung für das „Recht“, das sich das Pentagon damit anmaßt.

Das mit juristischen Phrasen getarnte Pentagon-„Kriegsrecht“ will dem US-Militär die juristische Handhabe dafür verschaffen, alle demokratischen Rechte zu beseitigen und eine uneingeschränkte Militärdiktatur zu errichten. In dem Handbuch heißt es dazu: „Das Kriegsrecht diente bisher vor allem dazu, 'kurzzeitige Verbote' auszusprechen. Wenn es innerstaatliches Recht ersetzt, muss es aber auch die Möglichkeit bieten, Verbote aufzuheben und Regierungsgewalt auszuüben“ (S. 14).

Würde man bloß hier und da ein Wort verändern, dann könnten diese Thesen auch aus den Schriften des „Nazi-Kronjuristen“ Carl Schmitt (1888–1985) abgeschrieben sein. Nach Schmitts Thesen zum „Ausnahmezustand“ darf die Exekutive im Falle eines nationalen Notstands demokratische Regelungen außer Kraft setzen und Gesetze ignorieren. Dazu müssen die Gesetze noch nicht einmal aufgehoben, sie können auf unbestimmte Zeit ausgesetzt werden.

Die Nazis benutzten Schmitts Thesen zum „Ausnahmezustand“, um ihr „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ von 1933 zu rechtfertigen. Es wurde als „Ermächtigungsgesetz“ bekannt und legalisierte die Errichtung der Hitler-Diktatur.

Das Pentagon-Handbuch beruft sich auf Schmitts Thesen zum „Ausnahmezustand“, natürlich ohne sie zu benennen. Das Kriegsrecht wird als „Überrecht“ dargestellt, das über dem „allgemeinen Recht“ stehe (S. 9). Aus Effekthascherei wird noch ein lateinisches Zitat hinzugefügt: „Lex specialis derogat legi generali“ (Sonderrecht bricht allgemeines Recht).

So ist laut Pentagon das Kriegsrecht die Ausnahme zu dem „in Friedenszeiten geltenden allgemeinen Recht“. Das ist nichts anderes als die Rechtsauffassung der Nazis, und das Pentagon hat sie damit in sein Grundsatzpapier eingearbeitet.

Im Handbuch des Pentagons wird außerdem festgestellt: „Unter Umständen kollidiert scheinbar das Kriegsrecht [d. h. die Regeln des Pentagons] mit den Regelungen in Menschenrechtsverträgen. In Konfliktfällen gilt jedoch der Grundsatz, dass in bewaffneten Auseinandersetzungen das Kriegsrecht als Lex specialis andere Rechtsvorschriften – auch in Bezug auf den besonderen Schutz von Kriegsopfern – außer Kraft setzt“ (S. 9).

Mit anderen Worten, wann auch immer Maßnahmen des Pentagons im Widerspruch zu Menschenrechtsverträgen stehen, werden die Menschenrechtsverträge einfach ignoriert.

Im Handbuch steht auch: „Gestützt wird diese Rechtsauffassung durch die Tatsache, dass das Kriegsrecht auch im allgemeinen Völkerrecht, das in Friedenszeiten gilt, eine Sonderstellung einnimmt“ (S. 10). Das bedeutet, dass das riesige US-Militär-Establishment in Kriegszeiten eine „unabhängige“ Abteilung der US-Regierung ist, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert und niemandem verantwortlich ist.

Trotz des Hinweises, dass nach der US-Verfassung eigentlich der Kongress und die Regierung über Krieg und Frieden und den Armeeeinsatz zu entscheiden haben, setzen die Verfasser des Pentagon-Handbuchs auch diese Festlegung der Väter der US-Verfassung außer Kraft. In der gegen die Herrschaft des britischen Monarchen gerichteten Unabhängigkeitserklärung heißt es nämlich, dass der König „die Verfügung über das Militär auf eine zivile Regierung übertragen muss“.

Sowohl Bush als auch Obama schmücken sich immer wieder gerne mit dem Titel „Oberbefehlshaber“. Der Terminus kommt in Artikel II der US-Verfassung vor, aber sie stellen seine Bedeutung auf den Kopf. Die amerikanischen Revolutionäre hatten den Präsidenten als Oberbefehlshaber der Marine und Armee bezeichnet, um damit die Unterordnung des Militärs unter die zivile Autorität deutlich zu machen. Sie wollten dem Militär mit dem Präsidenten an der Spitze keinesfalls eine höhere Autorität über den Staat und seine Bevölkerung verschaffen.

Die im Handbuch vertretene Auffassung, die Rechtsgrundsätze seien im Allgemeinen nur im Frieden anwendbar, hat besonders unheilvolle Auswirkungen.

Durch „Menschenrechtsverträge“ werden nach Meinung des Pentagons „die Beziehungen zwischen Personen und Staaten hauptsächlich in Friedenszeiten geregelt“ (S. 22). „In einem Krieg“, auch im „Krieg gegen den Terror“, der weltweit und zeitlich unbegrenzt geführt wird, hätten somit Menschenrechtsverträge keine Gültigkeit mehr.

Mit dieser Einschränkung kann sich das Pentagon nicht nur über Menschenrechtsverträge hinwegsetzen. Nach Meinung der Handbuch-Autoren gelten diese Einschränkungen auch für die „Bill of Rights“ und andere Bürgerrechts-Garantien, die nur in „Friedenszeiten“ gelten sollen. Nach dem Handbuch gehört auch die „Bill of Rights“ zu dem Recht, das für die gesamte Dauer des „Kriegs gegen den Terror“ ausgesetzt wird.

Aber warum sollten die Militärs es dabei belassen? Sind nicht auch die Wahlen durch Gesetze des „nur in Friedenszeiten gültigen Rechts“ geregelt? Wie steht es um andere bürgerliche Freiheiten? Was ist mit dem Recht auf Meinungsfreiheit oder dem Recht, politische Parteien zu gründen? Wie steht es um das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren? Was ist mit der Unantastbarkeit der Privatsphäre und dem Verbot „grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung“? Wie ist es mit Gesetzen gegen rassistische Diskriminierung und dem Recht auf einen Mindestlohn?

Logisch zu Ende gedacht, ermächtigt das „Handbuch zum Kriegsrecht“ auch zur Errichtung einer Militärdiktatur, zur Aufhebung aller demokratischen Rechte und zur Inhaftierung jedes Andersdenkenden.

Sollte ein Leser diese Einschätzung für übertrieben halten, sei er daran erinnert, dass ein ehemaliger US-General kürzlich die Einrichtung militärischer Internierungslager für „illoyale“ und „radikalisierte“ US-Bürger gefordert hat. Der pensionierte General Wesley Clark, ein Mitglied der Demokratischen Partei, hat erklärt: „Wenn sich Leute radikalisieren und aus Überzeugung nicht mehr zu den USA halten, ist das ihr gutes Recht. Es ist aber auch das Recht und die Pflicht der US-Regierung, sie dann für die Dauer eines Konflikts von der US-Bevölkerung zu separieren.“ Er fügte noch hinzu: „Solche Bestrebungen gegen die USA müssen wir von Anfang an unterbinden.“

Kein Politiker oder Journalist hat Clarks beunruhigenden Vorschlägen widersprochen. Keiner der Kandidaten beider Parteien, die sich gegenwärtig um eine Präsidentschaftskandidatur bewerben, hat sich zu Clarks Worte geäußert, vermutlich, weil sie im Prinzip alle seiner Meinung sind. Clarks Vorschläge wirkten sich auch nicht nachteilig auf seine Beraterfirma aus. Das Handbuch des Pentagons macht deutlich, dass Clark nur einen Stein ins Wasser geworfen hat, um die Reaktion zu testen, indem er Pläne veröffentlichte, die auf den höchsten Ebenen des Staats ausführlich diskutiert, entwickelt und genehmigt wurden.

Als Antonin Scalia, ein Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, im letzten Jahr zur militärischen Internierung von US-Amerikanern japanischer Herkunft während des Zweiten Weltkriegs befragt wurde, antwortete er: „Sie irren sich, wenn Sie glauben, das könnte nicht mehr passieren.“ Seine Antwort war vom Geist des Pentagon-Handbuchs geprägt, und entsprechend fügte er hinzu: „In Kriegszeiten hat das Recht Pause.“

Das Handbuch verabreicht auch eine große Dosis der für die Obama-Regierung typische „einlullende“ Rhetorik. Erst wird in abstrakten Formulierungen die Einhaltung demokratischer Prinzipien und bestehender Rechte versichert, und dann wird diese Zusicherung mit den aus dem Kriegsrecht abgeleiteten Einschränkungen wieder zurückgenommen. Die Obama-Regierung hat diese Taktik schon wiederholt zur Rechtfertigung der NSA-Spionage und der Drohnen-Morde eingesetzt.

Im Handbuch wird erläutert: „Zivilisten dürfen nicht angegriffen werden, es sei denn, sie sind direkt an Kampfhandlungen beteiligt.“ Dann wird diese klare Aussage aber sofort wieder verwässert: „Zivilisten können bei Militäroperationen unbeabsichtigt getötet werden. Die Anzahl der getöteten Zivilisten darf jedoch in Bezug zum erwarteten Erfolg der Operation nicht unverhältnismäßig hoch sein. Vorsichtsmaßnahmen müssen getroffen werden, um die Gefahr, dass bei Militäreinsätzen auch Zivilisten zu Schaden kommen, zu verringern“ (S. 128).

Im Klartext heißt das: Auch Zivilisten, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind, dürfen getötet werden, wenn der erhoffte „militärische Vorteil“ groß genug ist. Das macht die eingangs aufgestellte klare Aussage völlig wertlos. In der Praxis bedeutet es, dass Militärkommandeure weiterhin Massenmorde an Zivilisten anordnen und reine Wohngebiet zerstören dürfen, wenn sie das aus militärischen Gründen für notwendig halten.

Die Brutalität des imperialistischen Kriegs

Im Handbuch wird völlig emotionslos erwogen, wann Zivilisten getötet werden dürfen. Nach Ansicht des Pentagons sind auch Massaker an Zivilisten zulässig, wenn dadurch „operative Ziele“ erreicht werden können.

Die Autoren fordern keinesfalls, die Tötung von Zivilisten grundsätzlich zu vermeiden. Es wird nur empfohlen, „zumutbare Vorsichtsmaßnahmen“ zu treffen, damit die Anzahl der zivilen Opfer „nicht übermäßig hoch“ oder „unvernünftig“ werde. Als „zumutbar“ gelten „Vorsichtsmaßnahmen“ nur dann, wenn sie „praktikabel oder praktisch machbar sind, unter Berücksichtigung humanitärer und militärischer Überlegungen“ (S. 190).

In dem Handbuch steht dazu: „Wenn ein Kommandeur zum Beispiel erkennt, dass durch Vorsichtsmaßnahmen der Erfolg eines Militäreinsatzes gefährdet ist oder seine Soldaten selbst in Gefahr geraten, muss er keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen“ (S. 191). Damit wird den Kommandeuren ein Blankoscheck für den Massenmord an Zivilisten ausgestellt, weil sie immer behaupten können, aus militärischer Notwendigkeit gehandelt zu haben. Selbst wenn sie die Bevölkerung einer feindlichen Stadt auslöschen würden, um „die Gefahr“ für die eigenen Soldaten zu verringern, wäre auch das nach dem Pentagon-Handbuch zulässig.

Mit den vagen Formulierungen des Handbuchs werden eindeutige Bestimmungen aus früheren Jahren zurückgenommen. 1987 hat ein Rechtsberater des US-Außenministeriums noch klargestellt: „Zivile Verluste sind nicht mit möglichen militärischen Erfolgen zu rechtfertigen. Wenn viele Zivilisten zu Schaden kämen, ist ein Angriff auch dann zu unterlassen, wenn dadurch ein wichtiges Ziel nicht erreicht werden kann.“ [1]

Das Pentagon-Handbuch schreibt auch die Doktrin der „menschlichen Schutzschilde“ fest. Zivile Opfer bei wahllosen Bombenangriffen tragen selbst die Schuld dafür: „Wenn der Feind Zivilisten absichtlich nicht aus Kampfgebieten entfernt, dann hat er es zu verantworten, wenn bei Angriffen auch Zivilisten getötet werden“ (S. 198).

Das ist aber nur der Versuch, „kollektive Strafaktionen“ unter einem anderen Namen zu rechtfertigen. Selbst wenn ein vom Pentagon identifiziertes „militärisches Ziel“ in einem dicht bevölkerten Gebiet liegt, darf das Militär mit den fadenscheinigen juristischen Begründungen im Handbuch die dort wohnenden Zivilisten mit Spreng- und Streubomben angreifen, weil sie angeblich als „menschliche Schutzschilde“ dienen. Kollektive Strafaktionen sind nach dem Völkerrecht aber Kriegsverbrechen, weil mit ihnen die Bevölkerung terrorisiert und so der Widerstand gebrochen werden soll.

Das Handbuch autorisiert ausdrücklich auch gezielte Tötungen (durch Drohnen oder Killerkommandos). Dazu heißt es: „Militäreinsätze können sich auch gegen einzeln ausgewählte feindliche Kämpfer richten, und die US-Streitkräfte haben solche Einzeloperationen auch schon häufig durchgeführt“ (S. 201).

Zur Begründung gezielter Tötungen zitiert das Handbuch aus einer Rede, die Obama am 2. Mai 2011 gehalten hat: „Heute haben die US-Streitkräfte auf meinen Befehl einen Angriff auf ein Anwesen in Abbottabad in Pakistan vorgenommen [in dem sich Osama bin Laden aufgehalten haben soll]. Die Operation wurde von einem kleinen Team von US-Marines mit außergewöhnlichem Mut und großem Geschick durchgeführt. Kein US-Amerikaner wurde dabei verletzt. Man versuchte auch, zivile Opfer zu vermeiden. Osama bin Laden wurde in einem Feuergefecht getötet; die Marines konnten nur noch seine Leiche bergen“ (S. 201).

Im Handbuch wird nicht erwähnt, dass der Journalist Seymour Hersh Obamas Angaben zu der Aktion als „Sack voller Lügen“ bezeichnet hat.

Zensur und der Angriff auf Journalisten als „nicht bevorrechtigte Kriegsteilnehmer“

Das Einzige, was die Aufmerksamkeit der Medien erregt hat, ist die Passage im Handbuch, nach der es erlaubt ist, Journalisten wie Spione zu behandeln. Dazu ist in dem Handbuch zu lesen: „Wenn ein Reporter über Militäroperationen berichtet und dazu Informationen sammelt, kann er auch als Spion betrachtet werden“ (S. 175).

Das Pentagon ermächtigt seine Streitkräfte, Journalisten „festzunehmen“ und „zu bestrafen“. Sie dürfen nicht mehr unangemeldet ihrer Arbeit nachgehen, sondern müssen sich vorher vom US-Militär die „Erlaubnis“ und einen „zusätzlichen Ausweis“ besorgen, um über Militäreinsätze berichten zu dürfen.

In dem Handbuch heißt es weiter: „Ein Journalist, der verdächtigt wird, ein Spion zu sein, kann einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen, festgenommen und bestraft werden. Um nicht mit Spionen verwechselt zu werden, sollten Journalisten offen auftreten und die Erlaubnis der zuständigen Militärbehörden einholen. Das Vorzeigen eines Dokuments, das sie als autorisierte Kriegskorrespondenten ausweist oder ihnen wenigstens die Anwesenheit gestattet, kann Journalisten helfen, nicht mit Spionen verwechselt zu werden“ (S. 175).

Außerdem ist dem Handbuch zu entnehmen, dass Journalisten der Militärzensur unterworfen werden können. Dazu heißt es: „Staatliche Behörden können die Berichte von Journalisten zensieren oder andere Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, damit der Feind keine sicherheitsrelevanten Information von ihnen erhält. Nach dem Kriegsrecht haben Journalisten keine Sonderrechte, die ihnen das Betreten des Territoriums fremder Staaten oder von Kampfgebieten ohne Erlaubnis des Staates erlauben, der dort eine Militäroperation durchführt“ (S. 175).

Solche Einschränkungen sind eigentlich nur in totalitären Polizeistaaten üblich. Diese Art von Recht würde z. B. auch die Errichtung von Internierungslagern und die Verhaftung von Journalisten ermöglichen, die zum Beispiel geheimes Material, wie das von Edward Snowden zur Verfügung gestellte, veröffentlichen. Das Handbuch enthält keine Bestimmung, die es dem Pentagon verbietet, wegen angeblicher Spionage zu Zielpersonen erklärte Journalisten auch mit Drohnen anzugreifen. (Würden bei diesem Angriff auch die Familie und Freunde des betreffenden Journalisten getötet, dann würde man sicher behaupten, daran sei der Angegriffene selbst schuld, weil er die mit ihm Getöteten als „menschliche Schutzschilde“ benutzt habe.)

Halten Sie all dies für übertrieben? In der neuen Frühling/Sommer-Ausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift National Security Law Journal erschien ein Artikel mit der Überschrift „Trahison des Professeurs: The Critical Law of Armed Conflict / Academy as an Islamist Fifth Column“ (Der Landesverrat der Professoren: Die besonderen Gesetze eines bewaffneten Konflikts / Akademiker als 5. Kolonne der Islamisten). In diesem Artikel behauptet der in West Point lehrende Rechtsprofessors William C. Bradford, Akademiker, die den „Krieg gegen den Terror“ kritisierten, würden „dem Feind helfen“ und sollten nach dem Kriegsrecht als „rechtlose Kombattanten“ behandelt werden.

Bradford, der an der renommierten US-Militärakademie Professor ist, vertritt allen Ernstes die Meinung, gewisse Professoren, die den Krieg gegen den Terror kritisierten, stünden „in Diensten der Islamisten, die planen, die westliche Zivilisation zu zerstören und Kalifate zu errichten“. Außerdem wirft Bradford diesen Professoren vor, „die Exekutive zu schwächen“, und bezeichnet sie als „weltfremde Pazifisten“ und „Kosmopoliten“.

Bradford empfiehlt, „illoyale“ Professoren zu entlassen und die anderen einen Treue-Eid schwören zu lassen. Außerdem schlägt er vor, Professoren wegen Landesverrats und wegen Unterstützung von Terroristen einzusperren und anzuklagen. Schließlich fordert er sogar, „illoyale“ Professoren und Universitäten, die sie beschäftigen, nach dem Kriegsrecht als „legitime Ziele“ für einen militärischen Angriff zu betrachten.

Bradford macht sich sogar für einen militärischen Staatsstreich stark („Welche Bedingungen sind notwendig, bevor das US-Militär berechtigt ist, Gewalt anzuwenden oder anzudrohen, um einen US-Präsidenten zu stürzen?“) und er befürwortet Völkermord („Totaler Krieg“ bis „der politische Wille der islamistischen Völker“ gebrochen ist oder bis „alle die den Islamismus unterstützen oder dulden, tot sind“). Diese Politik beinhaltet auch die gezielte Zerstörung der „Heiligen Stätten des Islam“.

Die Zeitschrift hat den Artikel wegen „eines ungeheuerlichen Verstoßes gegen die akademischen Sitten“ zurückgezogen, und Bradford gab am 30. August seine Professur in West Point auf. Sein Artikel verrät jedoch, wie das Pentagon mit Hilfe des neuen „Kriegsrechts“ seine Kritiker auszuschalten gedenkt. Mit seinen faschistischen Hetztiraden hat Bradford ja nur die Möglichkeiten ausgeschöpft, die das neue „Handbuch zum Kriegsrecht“ bietet.

Die Jagd auf Journalisten wie Glenn Greenwald (und seinen Partner David Miranda), auf Julian Assange und die Whistleblower Edward Snowden und Bradley (Chelsea) Manning hat bereits gezeigt, dass die amerikanische Regierung die Enthüllung von Behördenkriminalität als „Spionage“ und „Unterstützung des Feindes“ behandeln wird. Das Pentagon-Handbuch kodifiziert dieses Vorgehen und ermächtigt das Militär zu repressiven Maßnahmen gegen Journalisten.

Das Komitee zum Schutz von Journalisten (Committee to Protect Journalists – CPJ) hat am 31. Juli in einer Erklärung gegen das Handbuch protestiert und auf die steigende Anzahl von Journalisten hingewiesen, die in Ausübung ihres Berufs in bewaffneten Auseinandersetzungen getötet oder verletzt werden. In der CPJ-Erklärung heißt es: „Das Verteidigungsministerium der Obama-Regierung hat die Behinderung von Journalisten, die unter Bush mit Beginn des Kriegs gegen den Terror einsetzte, übernommen und jetzt sogar in Gesetzesform gebracht. Damit hat es dem US-Militär eine Weisung an die Hand gegeben, wie es Journalisten behandeln darf, die über militärische Konflikte berichten.“

Es ist bezeichnend, dass die Begriffe „Meinungsfreiheit“ und „Pressefreiheit“ in dem Pentagon-Handbuch überhaupt nicht vorkommen.

In dem Abschnitt über die Befugnisse des Pentagons bei der militärische Besetzung eines Landes wird festgelegt, dass „die Besatzer zu ihrer Sicherheit die Kontrolle über sämtliche Medien, also über Zeitungen, Radio und Fernsehen, über Unterhaltungsveranstaltungen in Kinos, Konzerthallen und Theatern und über die gesamte Kommunikation ausüben. Die Besatzer können zum Beispiel alle Veröffentlichungen und Zeitungen verbieten, die ihre Sicherheit gefährden könnten, oder Regeln für die Medien festlegen, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen und zu gewährleisten“ (S. 759–760).

In einer Fußnote wird vermerkt, dass „die Regelungen dieses Abschnitts nur im Kriegsfall greifen und nicht die im Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung garantierten Grundrechte einschränken“. Bei Bedarf wird sich das Pentagon aber darauf berufen, dass der Erste Zusatzartikel nur in „Friedenszeiten“ gelte und für die Dauer des „Kriegs gegen den Terror“ durch die „Lex specialis“ ersetzt werde.

Das „Handbuch zum Kriegsrecht“ des US-Verteidigungsministeriums ist die bisher deutlichste Darstellung der Absicht des US-Imperialismus, die ganze Welt mit militärischer Gewalt zu unterwerfen und zu beherrschen.

Das Pentagon ermächtigt sich mit dem Handbuch, gegen jedes beliebige Land Krieg zu führen, es zu besetzen und auch noch dem letzten Winkel des Planeten seine Interpretation von „Recht“ aufzuzwingen. Es formuliert damit den Anspruch des US-Imperialismus auf die Weltherrschaft und verdeutlicht seine logischen Konsequenzen.

„Der US-Kapitalismus steht vor den denselben Aufgaben, die Deutschland 1914 zum Krieg getrieben haben. Die Welt ist bereits aufgeteilt? Dann muss man sie eben neu aufteilen! Deutschland ging es darum, Europa zu ‘organisieren’. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, die ganze Welt zu ‘organisieren’. Die Geschichte treibt die Menschheit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus entgegen.“ Das hat Leo Trotzki, der Gründer der Vierten Internationale, bereits 1934 geschrieben.

Seit Mitte der 1970er-Jahre verfolgt die herrschende Klasse der USA einen rücksichtslosen Militarisierungskurs, der darauf abzielt, mit bewaffneter Gewalt den wirtschaftlichen Niedergang des US-Imperialismus aufzuhalten.

Auch das hat Trotzki schon vorhergesehen, als er schrieb: „In Krisenzeiten wird sich das Hegemonialstreben der USA noch deutlicher, offener und brutaler zeigen als in Boom-Zeiten. Die USA werden ihre Probleme vor allem auf Kosten Europas zu lösen versuchen, unabhängig davon, ob das in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder in Europa selbst geschieht – und nicht nur friedlich, sondern auch durch Kriege.“

Das „Handbuch zum Kriegsrecht“, das Handlungsanweisungen für Militäreinsätze der US-Streitkräfte selbst oder ihrer Hilfsarmeen in jedem Winkel unserer Erde enthält, schafft den juristisch verbrämten Rahmen dafür. Wenn die in dem Handbuch festgelegten Leitlinien umgesetzt werden, die internationale Arbeiterklasse also nicht rechtzeitig auf der Grundlage eines revolutionären Programms eingreift, dann geht die Menschheit einer Zukunft entgegen, die durch Konzentrationslager und beispiellose Gemetzel geprägt sein wird und letztendlich in einem atomaren Holocaust endet.

Das Pentagon-Handbuch ist eine umfassende Erläuterung der einzigen „Lösung“ für die weltweite Krise, welche die imperialistische Clique in Washington und der Wall Street zu bieten hat.

Totaler Krieg

In den ersten beiden Artikeln dieser Serie wurden Parallelen zwischen dem „Handbuch zum Kriegsrecht“ und der juristischen und politischen Ideologie Nazi-Deutschlands gezogen. Es wurde nachgewiesen, dass die gleichen faschistischen Konzepte, die bedeutende US-Juristen in den Nürnberger Prozessen verurteilt haben, in der Form des Pentagon-Handbuchs – juristisch bemäntelt – als offizielle Handlungsanweisungen für die Politik der US-Regierung auftauchen.

Aus späteren Kapiteln des Pentagon-Handbuchs zu Operationen des US-Militärs ist zu ersehen, dass die „Politik der verbrannten Erde“, die von den Nazis gegen die Völker Europas, der Sowjetunion und Nordafrikas betrieben wurde, jetzt auch vom Pentagon und seinem Generalstab befürwortet und verteidigt wird.

Das Handbuch setzt sich über zentrale Grundsätze des Völkerrechts hinweg, die den Einsatz militärischer Gewalt einschränken sollen. Nach dem Oxford English Dictionary ist der totale Krieg „ein Krieg, bei dem in dem angegriffenen Land und gegen dessen Bevölkerung rücksichtslos von allen vorhandenen Waffen Gebrauch gemacht und bei der Verfolgung militärischer Ziele das geltende Kriegsrecht ignoriert wird“. Ohne jedes Zögern ist festzustellen, dass die Vorschriften in dem Pentagon-Handbuch dem so definierten „totalen Krieg“ entsprechen.

Militärische Handlungen, die normalerweise mit dem totalen Krieg, einem Konzept des 19. Jahrhunderts, in Verbindung gebracht werden, führten erst im Zweiten Weltkrieg zu den von imperialistischen Regierungen faschistischer und „demokratischer“ Staaten angerichteten großflächige Zerstörungen. Trotzdem sind diese nach dem Pentagon-Handbuch ausdrücklich oder stillschweigend erlaubt.

Symbolische Einschränkungen werden in dem Handbuch sofort durch Ausnahmeregelungen entwertet, sodass die US-Militärkommandeure zur Erreichung strategischer Ziele praktisch jede Form von Gewalt anwenden dürfen. Formulierungen, die Kommandeure bei der Vorbereitung einer Offensive zur Rücksichtnahme verpflichten könnten, kommen nicht vor. Es ist auch nicht davon die Rede, dass bei übertriebener Gewaltanwendung Strafen drohen könnten.

Das Handbuch ermächtigt die US-Kommandeure dazu, mit strategischen Bombenangriffen auch die zivile und kommerzielle Infrastruktur zu zerstören, sowie Blockaden und Belagerungen durchzuführen. Es erlaubt die Errichtung großer Lager für Häftlinge und Zwangsarbeiter.

Der US-Imperialismus hat im Lauf seiner Geschichte schon immer in erschreckender Weise gegen das Völkerrecht verstoßen, z. B. mit der kollektiven Bestrafung und dem Abschlachten ganzer Bevölkerungen und der Zerstörung großer Städte in Deutschland, Japan, Korea, Vietnam, Kambodscha und zuletzt im Irak.

Mit dem 2003 gegen den Irak angezettelten Krieg wurde eine der fortschrittlichsten Wirtschaften des Nahen Ostens auf das Niveau der ärmsten Länder der Welt zurückgebombt. Vier bis fünf Millionen Iraker wurden während des US-Kriegs und der Besatzung getötet oder vertrieben, oder sie verschwanden einfach. Mehr als die Hälfte der irakischen Ärzte wurden entweder getötet oder waren gezwungen, aus dem Land zu fliehen. Aus 2007 vom Statistischen Amt des Iraks veröffentlichten Zahlen geht hervor, dass vier Jahre nach Kriegsbeginn 43 Prozent der Iraker in „völliger Armut“, ohne ausreichende Nahrung und Kleidung und in unzureichenden Wohnungen lebten.

Auch schon vor Veröffentlichung des Pentagon-Handbuchs in diesem Jahr hat sich das US-Oberkommando über bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Verbote hinweggesetzt, nach denen vorsätzliche Angriffe auf die zivile Infrastruktur und die Zivilbevölkerung untersagt waren. Im aus dem Jahr 1956 stammenden „Handbuch der US-Armee zu den im Landkrieg zu beachtenden rechtlichen Vorgaben“ (US Army Field Manual on the Law of Land Warfare) heißt es, dass Militäroperationen nicht durchgeführt werden dürften, wenn abzusehen sei, dass sie eine große Anzahl ziviler Opfer fordern würden.

Im neuen Handbuch ist das Abschlachten von Zivilisten offiziell zwar genau so verboten wie in dem Handbuch von 1956, es enthält aber Schlupflöcher. Im Falle „militärischer Notwendigkeit“ und bei „hohen militärischen Erfolgsaussichten“ muss keine Rücksicht auf Zivilisten genommen werden.

Mit der Veröffentlichung des neuen Pentagon-Handbuchs verschafft sich die US-Eliten das formale „Recht“, bei der Verfolgung ihrer Ziele ganze Gesellschaften und Völker auszulöschen. Zweifellos wollte das Pentagon damit im Nachhinein auch die Verbrechen legalisieren, die der US-Imperialismus im Irak begangen hat.

Nach den Richtlinien des Handbuchs ist die Massentötung von Zivilisten dann erlaubt und legal, wenn die zuständigen US-Offiziere die Angriffe auf zivile Ziele für „militärisch notwendig und erfolgversprechend“ halten (S. 187).

Militärkommandeure brauchen keinerlei Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen, wenn nach ihrer subjektiven Einschätzung die vorgesehenen Operationen „zur Erringung des Sieges in diesem Krieg unerlässlich sind“. Das gilt auch, wenn der „militärische Erfolg“, der durch den beabsichtigten Angriff zu erzielen ist, von einem „außenstehenden Beobachter“ nach objektiven, allgemeinen Kriterien nicht zu erkennen ist.

„Der mit einem Angriff zu erzielende militärische Erfolg könnte vom Feind oder von einem außenstehenden Beobachter zum Beispiel deshalb nicht zu erkennen sein, weil ihn der Kommandeur wegen nur ihm vorliegender geheimdienstlicher Erkenntnisse befohlen hat, oder weil es seiner Strategie entspricht“, heißt es in dem Handbuch (S. 213).

„Das Abwägen zwischen dem unvermeidlichen Kollateralschaden und dem zu erwartenden militärischen Erfolg lässt sich nicht immer in einer empirischen Analyse nachvollziehen“, wird in dem Handbuch festgestellt (S. 128).

Weiterhin heißt es: „In weniger eindeutigen Fällen kann die Frage, ob der Kollateralschaden unverhältnismäßig hoch ist, auch nicht durch eine nachträgliche gerichtliche Untersuchung geklärt werden, weil deren Ergebnis auch wieder subjektiv und ungenau sein kann.“

Die Definition legitimer militärischer Ziele ist in dem Pentagon-Handbuch so allgemein gehalten, dass auch die komplette Wirtschaft und die Zivilbevölkerung von feindlichen Staaten darunter fallen. Das Handbuch ermächtigt zur Zerstörung der grundlegenden Infrastruktur eines Feindstaates, einschließlich der Wohngebiete, der Versorgungseinrichtungen für Wasser und Energie und der Versorgungskette für Nahrungsmittel. Alles, was direkt oder indirekt zur Erhaltung der „Kampfkraft“ des Feindes beitragen könnte, gilt als legitimes Ziel (S. 206).

„Der Begriff 'militärisches Ziel' schließt auch Kombattanten und sämtliche Objekte ein, die in einer militärischen Auseinandersetzung durch ihr Vorhandensein, ihre Lage, ihre Verwendbarkeit oder ihren Nutzen zur Erhaltung oder Verlängerung der Kampffähigkeit des Gegners beitragen können“, wird in dem Handbuch weiter ausgeführt.

„Es ist nicht notwendig, dass ein Zielobjekt unmittelbare taktische oder operative Bedeutung hat oder einem speziellen US-Militäreinsatz besonderen Nutzen bringt. Es reicht aus, wenn es längerfristig zur Erhaltung der Kampffähigkeit des Gegners beiträgt… Der militärische Erfolg muss sich also nicht sofort einstellen“ (S. 210).

„Das Kriegsrecht schreibt auch nicht vor, dass Angriffe auf ein militärisches Ziel nur in der Nähe laufender Kampfhandlungen, in einem Kriegsgebiet oder auf dem Schauplatz einer militärischen Auseinandersetzung stattfinden dürfen“ (S. 199).

In einem kritischen Artikel zu der in dem Pentagon-Handbuch getroffenen Zielauswahl mit dem Titel „Nur das Pentagon ist für die Zielauswahl zuständig“ (The Defense Department Stands Alone on Target Selection) schreibt Professor Adil Haque von der Rutgers School of Law (Newark), das Handbuch ermächtige US-Kommandeure zu Angriffen jeder Art, unabhängig davon, wie hoch die Anzahl der zivilen Opfer dabei sein könnte.

„Eine sehr beunruhigende Bestimmung im neuen ‘Handbuch zum Kriegsrecht‘ legt fest, dass Kommandeure nicht mehr verpflichtet sind, das Völkerrecht zu achten und die Anzahl der zivilen Opfer möglichst gering zu halten, indem sie eine entsprechende Zielauswahl treffen“, führt Haque aus. „Die USA entziehen sich damit einer völkerrechtlichen Festlegung, die vorschreibt, militärische Ziele so auszuwählen, dass mit möglichst geringen Kollateralschäden zu rechnen ist.“

Große Teile des Handbuchs sind der Belagerung, dem Aushungern und der Besetzung dicht bevölkerter städtischer Gebiete gewidmet. Es ermächtigt zur Errichtung von Ghettos und abgesperrten Bereichen, um die Bewegungsfreiheit der Bewohner einzuschränken.

„Aushungern ist ein legitimes Mittel der Kriegsführung“, heißt es auf Seite 291 des Handbuchs. „Insbesondere ist es erlaubt, feindliche Kräfte durch Aushungern zum Aufgeben zu bewegen.“

Bei Belagerungen ist es US-Militärkommandeuren unter anderem auch erlaubt, die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Versorgungsgütern zu unterbinden. „Lebensmittel können rationiert, Ernten zerstört und die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln kann reglementiert werden“, heißt es im Abschnitt „Das Aushungern feindlicher Streitkräfte ist nicht verboten“ (Starvation of Enemy Forces Not Prohibited) auf Seite 1037.

Damit ist es US-Offizieren gestattet, nur „bestimmten Kategorien von Zivilisten“ den Abzug aus belagerten Städten zu erlauben und zuzulassen, dass ein Teil der Zivilbevölkerung in den abgesperrten Ghettos dem Hungertod überlassen wird. Den Kommandeuren wird erlaubt, ganze städtische Areale komplett abzuriegeln und den darin Verbliebenen jede Zufuhr von wichtigen Versorgungsgütern zu verweigern.

„Der Kommandeur einer US-Belagerungstruppe ist nicht verpflichtet, den Durchlass von medizinischem oder religiösem Personal oder medizinischem und sonstigem Bedarf zu gestatten“, heißt es dazu in dem Handbuch (S. 316).

Das US-Militär hat nach den neu im Pentagon-Handbuch festgelegten Bestimmungen schon damals, im Jahr 2004, die Belagerung der irakischen Stadt Falludscha durchgeführt. Mehrere zehntausend Männer im Alter von fünfzehn bis 55 Jahren wurden daran gehindert, vor einem verheerenden Bombenangriff aus der Stadt zu fliehen. Ungefähr sechzig Prozent der Gebäude der Stadt wurden zerstört, das komplette Stadtgebiet mit toxischen Stoffen verseucht und die Bevölkerung dauerhaft um fünfzig Prozent dezimiert.

Dass im Pentagon-Handbuch der totale Krieg propagiert wird, ist auch daran zu erkennen, dass es den Einsatz geächteter Waffen wie Streumunition und Atomwaffen gegen „militärische Ziele“ autorisiert, zu denen es auch „Bergpässe, Höhenrücken, Hohlwege, Brückenköpfe, Weiler, Dörfer oder Städte“ zählt, vorausgesetzt, deren Zerstörung sei militärisch notwendig (S. 215).

„Unter bestimmten Umständen kann es vorteilhaft sein, auch Streubomben einzusetzen“, steht im Handbuch. „Die USA haben befunden, dass ihre nationalen Sicherheitsinteressen nicht gewahrt werden können, wenn sie die Bestimmungen der Streubomben-Konvention einhalten.“

Leser des Pentagon-Handbuchs stoßen immer wieder auf Formulierungen, mit denen sogar der Einsatz von Atomwaffen, sofern er „militärische Vorteile“ bringt, offen autorisiert wird.

Auf Seite 420 heißt es: „Angriffe mit Atomwaffen sind nicht gerechtfertigt, wenn die erwartete Schädigung von Zivilisten im Vergleich zum militärischen Erfolg übermäßig ist“ (S. 420).

Mit derart schwammigen Formulierungen wird in Wirklichkeit für jede Situation grünes Licht gegeben. Würde das Pentagon die Zerstörung der militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur Chinas als „militärisch notwendig“ erachten? Selbstverständlich, und deshalb würde es Atomangriffe dafür als gerechtfertigt betrachten.

Tatsächlich sieht der Plan des Pentagons für einen Luft- und Seekrieg gegen China auch einen vernichtenden Erstschlag mit Atomwaffen gegen das chinesische Festland vor, der flächendeckend sein muss, um einen möglichen Zweitschlag des chinesischen Militärs zu verhindern.

Massenhaftinhaftierungen und Konzentrationslager

Unter völliger Missachtung demokratischer und rechtlicher Grundsätze, die im Lauf von Jahrhunderten entwickelt wurden, ermächtigt das Pentagon-Handbuch den militärischen Sicherheitsapparat dazu, überall auf unserem Planeten auch Zivilisten ohne Angabe von Gründen jederzeit zu internieren. „Inhaftierungen sind in Kriegen oder bei anderen Militäroperationen unerlässlich“, behaupten die Pentagon-Rechtsanwälte in den einleitenden Bemerkungen des Abschnitts „Inhaftierung: Übersicht und Grundregeln“ (Detention: Overview and Baseline Rules) auf S. 515.

Die Exekutive hat sich mit dem bereits 2012 vom Kongress verabschiedeten National Defense Authorization Act schon einschlägige Befugnisse verschafft. Das Pentagon, das ja nur ein dem US-Präsidenten unterstehendes Ministerium ist, maßt sich jetzt als unabhängige Regierungsbehörde eigene hoheitliche Befugnisse an, mit der es unbegrenzte Macht ausüben kann.

Das Handbuch ermächtigt das Pentagon dazu, internationale Verträge und internationale Abmachungen, die ungerechtfertigte willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen verbieten, zu ignorieren. Es beansprucht für die USA die uneingeschränkte Berechtigung, bewährte Bestimmungen des Völkerrechts einfach für null und nichtig zu erklären.

Die Pentagon-Rechtsanwälte gehen sogar so weit, wichtige Bestandteile des Völkerrechts zu zitieren, die ihren eigenen Rechtssetzungen widersprechen, um diese völkerrechtlichen Bestimmungen einfach mit der Feststellung vom Tisch zu wischen, sie seien mit dem Rechtsverständnis der US-Regierung unvereinbar.

„Wenn jemand durch Festnahme oder Inhaftierung seiner Freiheit beraubt wird, muss er das Recht haben, von einem Gericht umgehend überprüfen zu lassen, ob seine Festnahme oder Inhaftierung zu Recht erfolgt ist, oder ob er sofort wieder freigelassen werden muss, weil ihm Unrecht geschah“, lautet ein Passus des Internationalen Vertrags über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights, ICCPR), der im Handbuch zitiert wird (S. 50f).

An gleicher Stelle wird dann erklärt, die US-Regierung „verstehe“ diese Bestimmung so, dass sie für die USA nicht gelte. Falls das Pentagon oder die US-Regierung von Bestimmungen des Völkerrechts betroffen seien, dann gelte nur die von den obersten Rechts- oder Verwaltungsabteilungen des Militärs vorgenommene Interpretation dieser Bestimmungen.

„So würde zum Beispiel das in Art. 9 des ICCPR zugestandene Recht, die Rechtmäßigkeit einer Festnahme von einem Gericht überprüfen zu lassen, mit dem Kriegsrecht kollidieren, das erlaubt, dass bestimmte Personen auch ohne gerichtliche Anordnung oder Anklage verhaftet werden können“, ist in dem Handbuch zu lesen.

„Die USA interpretieren den Art. 9 des ICCPR so, dass ein Staat ihn nicht einhalten muss, wenn er sich im Krieg befindet, und zwar sowohl in einem Krieg mit einem anderen Staat, als auch in bewaffneten Auseinandersetzungen mit nichtstaatlichen Gegnern. Das gilt bis zum Ende der Feindseligkeiten.“ (S. 50)

Das Handbuch ermächtigt das Pentagon sogar dazu, eigene juristische Instrumente zu schaffen, die bestehende völkerrechtliche Bestimmungen außer Kraft setzen können, und erlaubt die Anwendung spezieller „Ad-hoc-Rechtsvorschriften und juristischer Verfahren“ und „Sondergerichte“.

Entsprechend dem Kapitel „Inhaftierungsvollmachten“ können Häftlinge, nach rassischen und ethnischen Kriterien getrennt, in speziellen Lagern festgehalten werden. „Häftlinge können in Einzellagern oder in speziellen Abteilungen von Sammellagern nach Staatsbürgerschaft, Sprache und Lebensgewohnheiten getrennt werden. Die Lagerverwaltung kann aber auch andere Kriterien anwenden, um Häftlinge für administrative, sicherheitstechnische, geheimdienstliche oder medizinische Zweck oder aus Gründen der Strafverfolgung voneinander zu trennen.“ (S. 498)

US-Militärbehörden werden ermächtigt, „aus zwingenden militärischen Gründen“ ganze Bevölkerungsteile umzusiedeln. Unter der Überschrift „Umsiedlung der Zivilbevölkerung“ ist in dem Handbuch zu lesen: „Die Besatzungsmacht kann ein von ihr festzulegendes Gebiet teilweise oder ganz evakuieren – zur Sicherheit der Bevölkerung oder aus zwingenden militärischen Gründen.“ (S. 778)

Und weiter: „Die Umsiedlung der Zivilbevölkerung soll nicht aus konfliktbedingten Gründen erfolgen, es sei denn, die Sicherheit der betroffenen Zivilisten oder zwingende militärische Gründe gebieten es.“ (S. 1035)

Kriegsrecht und Besetzung

Das Handbuch enthält auch Bestimmungen für die militärische Besetzung und die Verhängung des Kriegsrechts über eroberte Gebiete. Diese Vorschriften sind so allgemein formuliert, dass sie sowohl auf besetzte ausländische Territorien als auch auf besetzte Gebiete in den USA selbst anzuwenden sind.

Die Bewohner von Gebieten unter US-Militärverwaltung müssen die Anordnungen der „Besatzungsmacht“ bedingungslos befolgen und „nur noch den Befehlen der Besatzungsmacht gehorchen“, steht im Handbuch im Abschnitt „Aufhebung und Ersetzung der Regierungsgewalt“.

US-Kommandeure erhalten innerhalb des besetzten Territoriums die „Verfügungsgewalt über alle öffentlichen und privaten Transportmittel zu Land, zu Wasser und in der Luft; sie können sie requirieren“, und das Handbuch ermächtigt sie dazu, „die Transportmittel sofort einzuziehen und darüber zu verfügen“.

Damit nicht die Illusion entsteht, die Bestimmungen für die militärische Besetzung und die Entmachtung der gewählten Regierung wurden nicht auch innerhalb der Grenzen der USA selbst gelten, wird in dem Pentagon-Handbuch festgestellt, das Kriegsrecht sei integraler Bestandteil des in den USA geltenden Rechts. „Das in Kriegszeiten geltende Recht ist auch für die Innenpolitik und sämtliche Behörden bindend und wird in das derzeit geltende Recht und alle bestehenden Gesetze, Bestimmungen, Regeln und Vorschriften eingearbeitet“, heißt es im Dokument (S. 1057).

In dem Abschnitt „Bewaffnete Auseinandersetzungen mit nichtstaatlichen Gegnern“, hat das Pentagon ein weiteres Schlupfloch gelassen, das es den USA ermöglicht, die Genfer Konventionen und andere internationale Vereinbarungen zu missachten, wenn es gewaltsam gegen Personen oder Organisationen vorgeht, die nicht formell einem international anerkannten Staat angehören.

In militärischen Konflikten mit konkurrierenden Staaten billigt das Handbuch dem Völkerrecht noch eine gewisse Relevanz zu, doch in bewaffneten Konflikten mit nichtstaatlichen Gegnern gelten nur die im Pentagon-Handbuch festgelegten uneingeschränkten Rechte des mächtigsten Staats der Welt.

Nichtstaatliche Gegner können sich nicht auf die Rechte der Regierung eines Staates berufen, sie werden als „vogelfrei“ betrachtet und sind der Gnade der US-Regierung ausgeliefert, die ihnen noch nicht einmal die geringsten Rechte von Kriegsgefangenen zubilligen muss.

„Die Gleichheit souveräner Staaten ist in einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen einem Staat und einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe nicht anwendbar. Ein Staat kann sowohl die aus seiner Souveränität als auch die aus dem Kriegsrecht erwachsenden Befugnisse gegen bewaffnete nichtstaatliche Gruppen anwenden...“ (S. 1025).

„Das durch das Völkerrecht begrenzte Recht eines Staates in der bewaffneten Auseinandersetzung mit nichtstaatlichen Gruppen ändert nicht den Grundsatz, dass ein souveräner Staat mit seiner ganzen Macht gegen nichtstaatliche bewaffnete Gruppen vorgehen kann… In bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Staaten haben auch Kombattanten, die nicht den regulären Streitkräften des feindlichen Staates angehören, gewisse Rechte. Keinem Staat zuzurechnende bewaffnete Gruppen haben im Kampf mit einem Staat jedoch keinerlei Rechte.“ (S. 1025)

Derartige Ausführungen sollen die US-Offiziere darauf hinweisen, dass sie bei der Bekämpfung von Aufständen der amerikanischen Arbeiterklasse oder der Arbeiterklasse eines andern Landes nicht an das Kriegsrecht, bzw. das in Jahrhunderten entwickelte Völkerrecht, gebunden sind.

Laut dem Pentagon kann, wer Befehle befolgt, kein Kriegsverbrecher sein

Wie wir in früheren Artikeln dieser Reihe bereits nachgewiesen haben, ist das „Handbuch zum Kriegsrecht“ des Pentagons nur ein Neuaufguss autoritärer Rechtstheorien, wie sie schon das Nazi-Regime in Deutschland und andere faschistische Regierungen entwickelt hatten.

Der Versuch des US-Verteidigungsministeriums, mit seinem „Handbuch zum Kriegsrecht“ die Unanfechtbarkeit militärischer Befehle zu rechtfertigen, folgt diesem Vorbild und hat eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit dem Hauptargument der Verteidiger der Nazi-Kriegsverbrecher im Nürnberger Prozess. Sie erklärten damals, ihre Mandanten hätten „ja nur auf höheren Befehl gehandelt“. So wird auch im „Handbuch“ – in völligem Widerspruch zu allen in Nürnberg etablierten Prinzipien – jedem Untergebenen versichert, er könne sich „darauf verlassen“, dass alle von seinen Vorgesetzten gegebenen Befehle rechtlich unangreifbar seien. Die Soldaten könnten alle Befehle bedenkenlos und ohne Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen befolgen.

Nach dem Pentagon-Handbuch muss den US-Soldaten schon während der Ausbildung beigebracht werden, dass von Vorgesetzten erteilte Befehle rechtlich unanfechtbar seien: „Untergebene, die das Gegenteil nicht beweisen können, haben davon auszugehen, dass gegebene Befehle rechtmäßig sind. Selbst wenn der Befehl eines Vorgesetzten nicht rechtmäßig wäre, könnten sie bei Ausführung eines solchen Befehls nicht dafür verantwortlich gemacht werden.“ (S. 1148)

In einer Fußnote heißt es auf S. 1058: „Sollte es in seltenen Fällen einmal vorkommen, dass ein Untergebener einen unrechtmäßigen Befehl ausgeführt hat, trifft ihn keine Schuld, weil er davon ausgehen musste, dass auch dieser Befehl rechtmäßig war.“ Die Fußnote beruft sich auf ein Zitat aus „Winthrop's Military Law and Precedents“ (Winthrops Militärrecht und Präzedenzfälle).

Wenn Unteroffiziere Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Befehls eines Vorgesetzten haben, werden sie ermutigt, den Befehl so zu „interpretieren“, dass ihnen seine Ausführung legitimer erscheint. „Befehle und Anordnungen sollten nicht so verstanden werden, dass sie automatisch Verstöße gegen das Kriegsrecht erlauben, wenn andere Interpretationen möglich sind“, heißt es im Handbuch.

Die Autoren behaupten auch, dass das Kriegsrecht darin bestehen könne, „militärische Instruktionen, Vorschriften und Verfahrenshinweise“ des Pentagons umzusetzen. „Die Anwendung des Kriegsrechts nach den vom Pentagon vorgegeben Instruktionen, Vorschriften und Verfahrenshinweisen hat die Wirkung, dass sie rechtlich unanfechtbar bleibt, wenn die Anweisungen des Pentagons eingehalten werden.“ (S. 1069)

Aus diesen Formulierungen ist ersichtlich, dass es keinen Unterschied zwischen den Instruktionen des Pentagon und dem „Kriegsrecht“ des Verteidigungsministeriums gibt. Dieses ist keineswegs wirkliches Recht, sondern eine spezielle Sammlung militärischer Befehle, herausgegeben von den Militärjuristen und Karrieristen im Verteidigungsministerium.

Pläne zur Unterdrückung der US-Bevölkerung

Zusätzlich zu seiner Bedeutung für internationale Konflikte liefert das „Handbuch zum Kriegsrecht“ auch Anweisungen für die Niederschlagung von Aufständen und für den Ausnahmezustand innerhalb der USA selbst. Diese Anweisungen wurden seit dem Ende der 1960er Jahre vom US-Verteidigungsministerium als direkte Antwort auf die politische Radikalisierung der Arbeiterklasse und von Teilen der Mittelschicht entwickelt.

Im „Handbuch zum Kriegsrecht“ wird beschrieben, wie eine massenhafte Internierung von Zivilisten abzulaufen hat. Die beschriebene Vorgehensweise stützt sich teilweise auf frühere Leitfäden, ausgearbeitet vom Amt des US-Verteidigungsministerium für zivile Unruhen (Department of Defense Civil Disturbance Directorate), von der Bundesagentur für Katastrophenschutz (Federal Emergency Management Agency, FEMA) und vom Ministerium für Innere Sicherheit der Vereinigten Staaten (Department of Homeland Security), dem die FEMA heute untersteht.

Der treibende Impuls für diese Vorbereitungen ist die Furcht vor bewaffneten Aufständen der Arbeiterklasse und der Umstand, dass die Zahl der Kriegsgegner in der US-Bevölkerung ständig wächst.

Im Jahr 1967, nach den blutigen Unruhen in zahlreichen amerikanischen Großstädten, schuf das Verteidigungsministerium das Directorate of Civil Disturbance Planning und Operations als dauerhafte Einrichtung. Damit wollte die Regierung sicherstellen, dass zur Bekämpfung innerer Unruhen jederzeit auch Bundestruppen zur Verfügung stehen würden.

Seit 1968 aktualisieren Militärplaner jedes Jahr den US Army Civil Disturbance-Plan, der den Tarnnamen „Operation Garden Plot“ trägt. Darin wurde festgelegt, welche Einheiten der US-Army innerhalb von sechs Stunden in welche US-Großstädte einrücken müssen, um allenfalls dort ausgebrochene Aufstände mit Waffengewalt niederzuschlagen. Die Autoren dieses Plans gaben offen zu, er sei eine „konterrevolutionäre“ Reaktion zur Bekämpfung von Massenstreiks, Antikriegsprotesten und Unruhen in Ghettos der Schwarzen und zur Unterdrückung rebellischer Studenten, die gleichzeitig an den Universitäten aktiv würden.

Aktionen im Rahmen der Operation Garden Plot zielten darauf ab, „auf Streiks, zivile Proteste und Arbeitsverweigerung zu reagieren, die sich gegen militärische Einrichtungen richten, und auf Streiks und zivile Unruhen, die so groß sind, dass sie den Einsatz von US-Truppen nötig machen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen“.

In diesem Plan ist zu lesen: „Zivile Unruhen, die von Behörden einzelner Städte oder Bundesstaaten nicht mehr eingedämmt werden können, sind jederzeit möglich. Bewegungen zum Schutz der Umwelt und gegen Rassismus und Demonstrationen gegen die Außenpolitik der US-Regierung, besonders gegen den Vietnam-Krieg und die damit zusammenhängenden, zahlreichen Einberufungen zum Militärdienst, gefährden den politischen und sozialen Frieden und könnten zu gewaltsamen Angriffen auf unsere Gesellschaftsordnung führen.“

Im Rahmen der Operation Garden Plot sollten „städtische Gebiete durch Polizei- und Militärpatrouillen“ gesichert, mit Hubschraubern überwacht und bei Bedarf durch den Einsatz von Artillerie und Panzern mit taktischer Unterstützung aus der Luft und durch psychologische Kriegsführung befriedet werden.

„Unruhen, die das Eingreifen von regulären US-Truppen erfordern, können gleichzeitig in bis zu 25 Städten auftreten, die über das ganze Staatsgebiet der CONUS [Continental United Staates] verteilt sein können. Zur Bekämpfung dieser Aufstände sind jeweils bis zu fünf Brigaden mit je 2000 Soldaten plus zusätzliche unterstützende Truppen erforderlich; für Washington D.C. werden mindestens 30 000 Soldaten benötigt“, legt der Plan fest (zitiert aus „US Department of the Army Civil Disturbance Plan ,GARDEN PLOT‘“ vom 10. September 1968).

Die Planungen zur „Erhaltung der Regierungsfähigkeit“ (Continuity of Government, COG – eine beschönigende Umschreibung für die Anwendung des Kriegsrechts im Innern) hatten schon „mit der Überwachung linksorientierter US-Bürger durch US-Militärgeheimdienste und die CIA während der Proteste in den 1960er und 1970er Jahren begonnen“. Das stellt Peter Dale Scott in seiner Studie zum Anwachsen des Militär- und Geheimdienstapparats in der Nachkriegszeit fest („9/11: Wealth, Empire and the Future of America“, S. 11).

Um „Erkenntnisse über die Unruhestifter“ in den 1960er und 1970er Jahren zu sammeln, hatte das Pentagon in den Hauptquartieren der Nationalgarde aller Bundesstaaten so genannte Emergency Operation Centers (EOCs) eingerichtet und mit Analysten der US-Militärgeheimdienste besetzt, die sein „innenpolitisches Lagezentrum“ ständig mit aktuellen Informationen versorgten.

Diese Initiative wurde im Mai 1971 mit der Einrichtung des California Specialized Training Institute (CSTI) durch Ronald Reagan richtig in Fahrt gebracht, der damals noch Gouverneur von Kalifornien war. Von Mai 1971 bis Mai 1975 absolvierten im CSTI in San Luis Obispo mehr als 4000 Nationalgardisten, Soldaten der US-Armee, Polizisten und Angestellte privater Sicherheitsfirmen eine „Ausbildung für den Notfall“.

Die soziale Konterrevolution erhielt nach 1975 starken Auftrieb, und so wurden die Planungen zur Anwendung des Kriegsrechts immer stärker auf die höchste Regierungsebene in Washington verlagert und durch zahlreiche Notfallverordnungen abgestützt.

FEMA und REX 84

In den letzten vierzig Jahren wurden die autoritären juristischen und politischen Instrumente fieberhaft ausgebaut und als dauerhafter Teil der Exekutive fest etabliert. Praktisch jedes Jahr wurden neue Verordnungen und Vorschriften erlassen, die allmählich die Grundlagen für einen Polizeistaat herstellten.

Der lange Zeitraum und die Konsequenz, mit der die Einrichtung eines amerikanischen Polizeistaats vorbereitet wurde, lassen darauf schließen, dass es nicht nur um eine Initiative einiger reaktionärer bürgerlicher Politiker geht, sondern dass diese Entwicklung den Klassenbeziehungen in den USA entspringt. Er ist die Folge davon, dass sich der US-Imperialismus weltweit im Niedergang befindet.

Mit dem „Handbuch zum Kriegsrecht“ dehnt das Verteidigungsministerium die schon seit den 1970er Jahren bestehenden Möglichkeiten zur massenhaften Internierung und Inhaftierung von US-Bürgern weiter aus. Schon 1978 verschaffte sich das Pentagon mit der Aktualisierung des US Army Civil Disturbance-Plans das Recht, in Zusammenarbeit mit lokalen und staatlichen Behörden Internierungslager zu schaffen.

„Die Unterstützung ziviler Behörden bei der Internierung von US-Bürgern kann von einfachen Maßnahmen, wie der Verstärkung der Polizei beim Transport von Inhaftierten in Internierungslager, bis zum Errichten und Betreiben eigener Lager zur Ergänzung jener Einrichtungen reichen, die von zivilen Behörden betrieben werden“, stand in dem Civil Disturbance-Plan der US-Armee.

Der zivile Apparat der US-Regierung wird seit Jahrzehnten immer wieder ergänzt und umgebaut. Immer stärker wird er so zum administrativen Arm der seit Langem beabsichtigten Militärdiktatur. Bereits unter Präsident Carter wurden Verordnungen zur zivil-militärischen Planung „nationaler Notfälle“ erlassen. Zu diesem Zweck wurde die Bundesagentur für Katastrophenschutz (Federal Emergency Management Agency, FEMA) ins Leben gerufen. Mit der Durchführungsverordnung 12148, die Präsident Carter 1979 unterzeichnete, begann die Zusammenarbeit von FEMA und Pentagon in allen Fragen des „Zivilschutzes“, die bis heute besteht.

Anfang der 1980er Jahre richtete die Reagan-Regierung eine weitere Instanz zur Verankerung des Kriegsrechts auf höchster Regierungsebene ein. 1981 ernannte Präsident Reagan Oberst Louis Giuffrida, Chef seines „California Specialized Training Institute (CSTI)“, zum „zentralen Notfall-Beauftragten“.

Giuffrida hatte als CSTI-Gründungsmitglied einen günstigen Eindruck auf den künftigen US-Präsidenten Reagan gemacht. Am US Army War College verfasste er das Thesenpapier „National Survival – Racial Imperative“, das Pläne für die Internierung von Millionen „Afro-Amerikanern“ in Massenlagern und Camps enthält.

Im Dezember 1982 genehmigte Reagan die Bildung des Ausschusses zur Vorbereitung von Notfall-Maßnahmen (Emergency Mobilization Preparedness Board, EMPB). Dieser Ausschuss wurde mit der Planung für die künftige Zusammenarbeit der FEMA mit dem Pentagon in Notfallsituationen beauftragt.

Als Mitglied des EMPB hat Oberstleutnant Oliver North, der durch die Iran-Contra Affäre traurige Berühmtheit erlangte, den Plan REX 84 entwickelt, der heute als wichtigster Vorläufer des „Handbuchs zum Kriegsrecht“ betrachtet werden kann.

Der Journalist Alfonso Chardy hat diesen Plan in einem 1987 für den Miami Herald geschriebenen Artikel bekannt gemacht. REX 84 sah „für den Krisenfall die Aussetzung der amerikanischen Verfassung, die Übernahme der Regierung durch die FEMA und die Einsetzung von US-Offizieren als Gouverneure und Chefs von Kommunalverwaltungen und die sofortige Verhängung des Kriegsrechts“ vor.

Der von Chardy enthüllte Plan REX 84 war durch seine Erwähnung in der Kongress-Anhörung zum Iran-Contra-Skandal allen Kongressabgeordneten bekannt. (Beim Iran-Contra Skandal ging es um die geheimen, illegalen Waffenverkäufe an den Iran und die Nutzung des Verkaufserlöses zur Finanzierung der nicaraguanischen Contra-Rebellen.) Die Entwicklung der politischen und juristischen Grundlagen einer Militärdiktatur wurde also in den USA vorangetrieben, obwohl sämtliche Kongressabgeordneten Bescheid wussten.

Unter Berufung auf Carters Executive Order 12171 und auf die Executive Order 12681 des Präsidenten George H. W. Bush aus dem Jahr 1989 wurde die FEMA-Führung ermächtigt, den National Labor Relations Act (und die darin garantierten Rechte der Gewerkschaften) auszusetzen. Seither darf die FEMA Arbeiter und Angestellte zur Zwangsarbeit verpflichten und die Leitung von Teilen der Wirtschaft oder einzelner Betriebe dem Militär oder einem Geheimdienst übertragen.

In dem Vierteljahrhundert seit der Auflösung der Sowjetunion sind die Vorbereitungen zur Errichtung einer Militärdiktatur in den USA systematisch beschleunigt worden. Sowohl unter den Präsidenten Bush I und Clinton als auch unter Bush II fanden Großeinsätze des Militärs gegen die amerikanische Bevölkerung statt.

Im April 1992 hat Bush I Tausende von Soldaten der US-Armee, des Marinekorps und Agenten von Geheimdiensten eingesetzt, um Los Angeles zu besetzen, als Antwort auf die Unruhen, die am 29. April begannen. Während der Republican National Convention im August 2000 (auf der George W. Bush zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde) hat das Pentagon Militäreinheiten „zur Vollstreckung der Verordnung Operation Garden Plot und zur Eindämmung von Unruhen“ in Bereitschaft versetzt. Das geht aus vertraulichen FEMA-Dokumenten hervor, die Declan Mc-Cullagh von Wired News veröffentlicht hat („US military poised to respond to attack on GOP convention“, Wired News, August 2000).

Im April 2002 errichtete die Regierung Bush II das Regionalkommando NORTHCOM, das für ganz Nordamerika zuständig ist. NORTHCOM, das erste voll entwickelte Militärkommando, das sich auf die kontinentalen USA konzentriert, ist der Nachfolger des in Garden Plot vorgesehenen Militärkommandos. Wie 2010 durchsickerte, hat das neue Kommando die für die „Operation Garden Plot“ vorgesehenen Bestimmungen durch den so genannten CONPLAN 3501 ersetzt. Er beinhaltet detaillierte Pläne, wie unter NORTHCOM eine systematische Arbeitsteilung zur militärischen Besetzung der Vereinigten Staaten aussehen würde.

Schlussfolgerungen

Das „Handbuch zum Kriegsrecht“ markiert einen Wendepunkt im Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie in den USA. Mit diesem „Handbuch“ missachtet die herrschende Elite alle demokratischen Prinzipien, die in der US-Verfassung festgeschrieben sind. Protest dagegen gab es bisher nur in einem kurzen Leitartikel der New York Times. Die übrigen bürgerlichen Medien hüllen sich bisher über die neue Kodifizierung der Pentagon-Doktrin in Schweigen. Genauso wenig haben sich die demokratischen und republikanischen Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur – vom „liberalen“ Rand Paul bis zum angeblichen „demokratischen Sozialisten“ Bernie Sanders – bisher zum neuen Pentagon-„Handbuch zum Kriegsrecht“ geäußert.

Nach diesem Handbuch soll der amerikanische Militärapparat zur höchsten gesetzgebenden Gewalt auf unserem Planeten werden, er soll nach Belieben und freihändig „Gesetze“ erlassen und ständig modifizieren dürfen und ist berechtigt, militärische Operationen durchzuführen, die die gesamte Weltbevölkerung unterjochen würden.

Das Handbuch ist weniger das Ergebnis des Größenwahns der US-Generalität und der Pentagon-Bürokraten, als das Resultat der objektiven Entwicklungslogik des Kapitalismus als eines welthistorischen Gesellschaftssystems.

Schon Lenin hat in seinem epochalen Werk „Staat und Revolution“ erklärt, die Entwicklung des kapitalistischen Staats seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weise im Allgemeinen eine „ungewöhnliche Stärkung der ,Staatsmaschinerie‘auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparates“.

Trotz der Unterschiede in der Regierungsform verschiedener kapitalistischer Staaten besteht nach Lenin eine deutliche allgemeine Tendenz zur Zentralisierung der Macht in den Händen großer, dauerhafter Bürokratien, die in jedem kapitalistischen Staat die eigentliche „permanente Regierung“ ausübten und immer an der Macht blieben, völlig unabhängig davon, welche Parteien oder Personen die letzte Wahl gewonnen hätten.

In einem anderen seiner Hauptwerke, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ untersucht Lenin die wesentlichen Prozesse, die diese Entwicklung vorantreiben. Seit den 1870er Jahren sicherte das Wachstum von Monopolen und die Erzielung von Superprofiten durch die Ausbeutung von Kolonien und in kolonialer Abhängigkeit gehaltener Staaten die bis zu diesem Zeitpunkt größte Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen von Finanzoligarchien.

Leo Trotzki, der zusammen mit Lenin die russische Revolution anführte, erklärte im „Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt“ (1919), die führenden Bankhäuser der USA und Europas hätten sich während und nach dem Ersten Weltkrieg mit den Militärs der bürgerlichen Staaten verschmolzen. „Das Finanzkapital, das die Menschheit in den Abgrund des Krieges geworfen, hat selbst im Lauf des Krieges katastrophale Veränderungen erlitten“, schrieb Trotzki.

Weiterhin erklärte er, dass „durch den Gang des Krieges die regulierende Rolle den Händen der ökonomischen Vereinigungen entrissen und direkt der militärischen Staatsmacht ausgeliefert [wurde]. Die Verteilung der Rohstoffe, die Ausnutzung des Petroleums von Baku oder Rumänien, der Donezkohle, des ukrainischen Getreides, das Schicksal der deutschen Lokomotiven, Eisenbahnwagen, Automobile, die Versorgung des hungernden Europa mit Brot und Fleisch – all diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb, nicht durch Kombinationen nationaler und internationaler Trusts und Konsortien geregelt, sondern durch direkte Anwendung militärischer Gewalt im Interesse ihrer weiteren Erhaltung.

Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen.“

Mit diesen Überlegungen haben Trotzki und die Dritte Internationale bereits die Haupttendenz der imperialistischen Entwicklung erkannt, die die Jahre zwischen den Kriegen beherrschte und nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Höhepunkt erreichte.

Mit der Verabschiedung des National Security Acts im Jahr 1947 legten die großen US-Banken die Fundamente für das Wachstum eines auf Dauer angelegten „Sicherheitsstaats“. Das Gesetz wurde von Anwaltskanzleien entworfen, die der Wall Street nahestanden und auch an der Schaffung der CIA, des Nationalen Sicherheitsrats und der US-Luftwaffe beteiligt waren. Der Staat, der daraus hervorging, war in diesem Ausmaß noch gar nicht vorstellbar, als Lenin von der „Vervollkommnung“ des bürgerlichen Staates geschrieben hatte.

In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und den ersten fünfzehn Jahren des einundzwanzigsten hat die soziale Ungleichheit extrem zugenommen. Die herrschende Klasse der USA hat den Finanzparasitismus gefördert und große Teile der US-Industrie einfach stillgelegt. Unter diesen Bedingungen ist das neue „Handbuch zum Kriegsrecht“ nichts anderes als ein Aufruf zur weltweiten Rettung des kapitalistischen Systems. Angesichts einer US-Bevölkerung, die sämtliche Institutionen in wachsendem Maße ablehnt, versuchen die Militärkommandeure in Washington und ihre Zahlmeister von der Wall Street ihre Privilegien durch die Errichtung einer Militärdiktatur im Innern und durch einen weltweiten, totalen Krieg zu retten.

Fußnoten:

[1] Siehe: „The Position of the United States on Current Law of War Agreements. Remarks of Judge Abraham D. Sofaer, Legal Adviser, United States Department of State, Jan. 22, 1987“, American University Journal of International Law and Policy (1987), S. 460, 468. Zitiert im „Law of War Manual“ (Handbuch für das Kriegsrecht) auf S. 247.

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