Die Geschichte des Bundesinnenministeriums (BMI) ist brauner als gedacht. Es gab dort von 1949 bis Anfang der siebziger Jahre mehr ehemalige Nationalsozialisten in Führungspositionen als in anderen Ministerien wie dem Auswärtigen Amt und dem Justizministerium, in denen es ebenfalls von Altnazis wimmelte.
Dies belegt der Abschlussbericht einer Vorstudie von Historikern, der am 29. Oktober erschienen ist. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte im Dezember 2014 eine Projektgruppe unter Leitung der Professoren Frank Bösch (ZZF Potsdam) und Andreas Wirsching (IfZ München-Berlin) beauftragt, die NS-Belastung im Innenministerium zu untersuchen und dies auch für die ehemalige DDR zu tun.
Das Bundesinnenministerium hatte eine solche Aufarbeitung länger als die meisten anderen Ministerien und Behörden blockiert. Das überrascht nicht, denn es gab etwas zu verbergen! Nach dem bisherigen Ergebnis waren unmittelbar nach Gründung des BMI im Jahr 1949 die Hälfte aller neu eingestellten Referenten, Abteilungs- und Unterabteilungsleiter ehemalige Mitglieder der Nazi-Partei. Dieser Prozentsatz stieg in den Jahren 1956 und 1961 sogar auf 66 Prozent. Dieser Spitzenwert wurde nur noch vom Bundeskriminalamt (BKA) übertroffen, das dem Innenministerium unterstellt ist. Dort betrug der Nazi-Anteil 75 Prozent.
Unter den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern befanden sich zahlreiche Angehörige der SA. Ihr Anteil stieg von anfänglichen 17 Prozent auf 45 Prozent im Jahr 1961 und ging danach auf 25 Prozent zurück. Das heißt, dass zu Beginn der sechziger Jahre fast die Hälfte aller führenden BMI-Beamten und Anfang der siebziger Jahre immer noch jeder Vierte früher in der paramilitärischen Sturmabteilung der Nazis aktiv gewesen war, deren mörderische Schlägerbanden Hitler mit zur Macht verholfen hatten.
Selbst ehemalige SS-Mitglieder waren im BMI keine Seltenheit. Anfang der siebziger Jahre betrug der Anteil ehemaliger Mitglieder von Hitlers Elitetruppe, die unter anderem die KZs betrieben hatte, 7 bis 8 Prozent.
Auch in der DDR wurden mehr NS-Mitglieder in Staatspositionen übernommen, als in offiziellen DDR-Statistiken angegeben. Mit 14 Prozent war ihr Anteil aber deutlich niedriger als die 66 Prozent in der Bundesrepublik. Zudem verweist die Studie darauf, dass in der DDR nur rund 7 Prozent frühere NSDAP-Mitglieder bei den bewaffneten Organen des Ministeriums des Innern (MdI) tätig waren. In den als „unpolitisch“ geltenden zivilen Bereichen, wie Wissenschaft und Kultur, waren es rund 20 Prozent.
Die Netzwerke von Keßler und Globke
Das Gründungspersonal des Bundesinnenministeriums wurde nach 1949 von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) persönlich zusammengestellt. Er beauftragte Erich Keßler, einst Oberscharführer der SA und noch 1945 Ministerialdirigent im Reichsministerium des Inneren, die „Grundsätze einer neuen Beamtenpolitik“ vorzubereiten sowie „eventuell in Frage kommende Kandidaten für leitende Positionen der Bundesverwaltung“ zu suchen.
Kessler stand Hans Globke zur Seite, der ab 1953 Adenauers Kanzleramt leitete. Globke war bis 1945 Ministerialrat im Reichsinnenministerium gewesen und hatte an den berüchtigten „Nürnberger Rassegesetzen“ mitgewirkt. Als ihn die DDR deshalb verklagte, trat er 1963 zurück.
Der Kreis um Globke und Keßler, zu dem auch der ehemalige Organisator der Olympischen Spiele von 1936, Ritter von Lex, gehörte, war für eine „großzügige Einstellungspolitik“ verantwortlich (Abschlussbericht, S. 26). Die anfängliche Zurückhaltung, besonders belastete NS-Beamte in exponierte Ämter zu bringen, ließen Globke und Kessler schnell fallen. Von 44 leitenden Beamten des BMI waren 24 ehemalige NSDAP-Mitglieder. 15 Prozent hatten der SA und 7 Prozent der SS angehört.
Globke und Kessler nutzten dabei Netzwerke ehemaliger Nazis. Eines dieser Netzwerke kam offensichtlich aus Ostpreußen, insbesondere der Rechtsfakultät der Universität Königsberg. Eine ganze Riege von Staatssekretären und Referenten, die teilweise aus ostpreußischen Junkerfamilien stammten, besetzten Posten der Leitungsebene und der Zentralabteilung des BMI. Neben Ritter von Lex gehörten dazu Keßler selbst, Sklode von Perbandt, Botho Bauch und Reinhard Dullien.
Die vordergründige Rechtfertigung für diese Einstellungspraxis lautete, man brauche nach dem Krieg die „Expertise“ der NS-Funktionäre beim Aufbau einer Verwaltung. Allerdings zeigte sich schnell, dass es um mehr ging: Der Kalte Krieg hatte begonnen, und in der Frontstellung gegen die DDR brauchten die Adenauer-Regierung und die Westalliierten die alten antikommunistischen Eliten der Nazi-Zeit. Auf sie stützten sich das Außenministerium in seinen Vorstößen zur Wiederbewaffnung und das Innenministerium bei der Unterdrückung der KPD und anderen linken Organisationen.
Adenauer-Erlass
Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf Adenauers „Memorandum über die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und außen“ vom 29. August 1950 sowie auf seinen Regierungserlass über die „Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Staatsordnung“. Adenauer beschwor darin ein doppeltes Bedrohungsszenario: Die Bundesrepublik sei sowohl durch die kasernierte Volkspolizei der DDR bedroht wie durch die KPD, die angeblich auf eine revolutionäre Erhebung hinarbeite (S. 61).
Während der Regierungserlass die Mitgliedschaft in der KPD, die von den Nazis verfolgt worden war und deren Mitglieder vielfach Widerstand geleistet hatten, und ihren Vorfeldorganisationen als „schwere Pflichtverletzung“ bezeichnete, zählte die frühere Mitgliedschaft in der NSDAP nicht mehr als Einstellungshindernis oder Entlassungsgrund. Für solche Beamte galt das „traditionsverhaftete Bild eines unpolitischen Verwaltungsexpertentums“ (S. 51).
Federführend beim Entwurf des Adenauererlasses war ein gewisser Karl Behnke. Er war Experte auf diesem Gebiet. Er hatte bereits als Beamter im Dritten Reich an der Verdrängung von NS-Gegnern aus dem Staatsdienst mitgewirkt.
Parallel zum Adenauererlass wurden Bemühungen publik, mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsbehörde Deutschland wieder militärisch zu bewaffnen. Bundesinnenminister Gustav Heinemann trat darauf im Oktober 1950 zurück. Unter seinen Nachfolgern Robert Lehr und Gerhard Schröder (beide CDU) wuchs die Zahl NS-belasteter Mitarbeiter in der Führungsebene der Ministeriums. Schröder war selbst NSDAP-Mitglied gewesen. Schon 1957 initiierte er die Debatte über die Notstandsgesetze, die dann 1968 von einer Großen Koalition verabschiedet wurden.
Unter Schröders Regie wurden 15 von insgesamt 17 Posten in der Leitungsebene und der Zentralabteilung des BMI mit ehemaligen NSDAP- und SA-Mitgliedern besetzt. Wesentliche Bereiche wie die Innere Sicherheit, das Ausländerreferat und die Presseabteilung lagen damit in der Hand von Spitzenbeamten der faschistischen Diktatur.
Zu ihnen gehörte unter anderen Erwin Gehrhardt, ab 1959 Pressesprecher des BMI und ab 1965 Leiter des Presserechtsreferats. Gehrhardt war schon 1924 in die NSDAP eingetreten und als SA-Scharführer aktiv gewesen. Als Student hatte er für das Göttinger Kampfblatt geschrieben. 1929 war er dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen beigetreten, und ab 1932 hatte er sich als Propaganda-Redner auf zahlreichen Nazi-Versammlungen betätigt. Bei seiner Einstellung im BMI wurde dies alles als „Jugendsünde“ heruntergespielt.
Das Aufenthalts- und Ausländerreferat leitete von 1953 bis 1964 Kurt Breull, der schon als Gerichtsreferendar ein vehementer Antisemit gewesen war. Als Spitzenbeamter der Bundesrepublik setzte er seine antisemitische Praxis nahtlos fort. Ausgerechnet Breull war im Innenministerium für Föhrenwald zuständig. In dem Lager für Displaced Persons lebten Juden, die den Holocaust überlebt hatten und nach gescheiterten Emigrationsversuchen aus Israel zurückgekehrt waren.
Breull behandelte diese Juden als „Illegale“, wies die Auslandsvertretungen an, ihnen keine Sichtvermerke zur Einreise mehr zu erteilen, verstärkte die Bundesgrenzschutz-Kontrollen und versuchte alles, um die bereits im Lager Befindlichen abzuschieben und ihnen staatliche Leistungen zu streichen. Er scheiterte schließlich an den örtlichen Behörden und der Bevölkerung.
Geheimdienste unter der Kontrolle ehemaliger Nazis
Besonders die Entwicklung der Sicherheitsorgane macht deutlich, wie sehr sich der bundesdeutsche Staat trotz Bekenntnis zur Demokratie auf das Personal der faschistischen Diktatur stützte. Im Zuge der antikommunistischen Hetze der 1950er und 60er Jahre wurde der Sicherheitsapparat stark ausgebaut. Enge Mitarbeiter von Hitlers Innenminister Wilhelm Frick, der 1946 in Nürnberg zum Tode verurteilt wurde, und SS-Chef Heinrich Himmler wurden mehr oder weniger nahtlos in den Bundesdienst übernommen.
Zu den bekanntesten Beispielen gehört Reinhard Gehlen, der ehemalige Chef der „Abteilung Fremde Heere Ost“, der nach dem Krieg in Zusammenarbeit mit den USA den deutschen Auslandsgeheimdienst aufbaute, 1950 Bundesbeamter wurde und eine große Anzahl seiner früheren Mitarbeiter in den Bundesnachrichtendienst übernahm.
Ein weiteres Beispiel ist Max Hagemann, der im BMI die Unterabteilung Öffentliche Sicherheit leitete und eine führende Rolle beim Aufbau des Bundeskriminalamts (BKA) spielte. Er war vor 1945 im Reichsjustizministerium tätig gewesen, zuletzt als Referent im Reichskommissariat für die „Behandlung feindlichen Vermögens“. Von dort wechselte er in die von den Alliierten gegründete „Zentralstelle für Vermögensverwaltung“ und wurde 1949 im BMI Referent für Polizei und Polizeirecht. Als leitender Redakteur der Zeitschrift Kriminalistik hatte Hagemann im Dritten Reich einen „mitleidlos und bis zur Vernichtung geführten Kampf“ gegen vermeintlich erbbedingte Kriminelle propagiert und sich in einer Rezension lobend zu Globkes Kommentar der Rassegesetze geäußert.
Braune Spur bis in die Gegenwart
Die Vorstudie zur NS-Vergangenheit des Bundesinnenministeriums konzentriert sich auf personelle Kontinuitäten. Die geplante Hauptstudie, die bis 2018 vorliegen soll, will das Augenmerk auf die Frage richten, in welcher Weise die ehemaligen NS-Mitglieder die Innenpolitik beeinflusst haben.
Allerdings lassen die bisherigen Ergebnisse bereits wichtige Schlussfolgerungen zu. Vordergründig fand der Aufbau der Bundesrepublik nach den Zerstörungen des Kriegs unter demokratischen Vorzeichen statt. Aber von Anfang an gab es im Staatsapparat parallele Strukturen, die tief in der braunen Diktatur verwurzelt waren. Wie die Autoren der Studie selbst bemerken, gab es ein „nach außen gerichtetes öffentliches Bekenntnis zu den ‚in deutschem Namen‘ begangenen Verbrechen und die Ausgrenzung und Tabuisierung von neonazistischen Tendenzen, andererseits aber auch die bewusste Integration eines Großteils der Mitläufer und Täter aus der NS-Zeit.“ (S. 14)
Die „obrigkeitsstaatliche“ und antidemokratische Ausrichtung der Beamten sei nach 1945 nicht verschwunden und lasse sich auch in der Sachpolitik des BMI nachweisen. So gebe es „klare Hinweise auf fortbestehende antisemitische Grundhaltungen im Aufenthalts- und Ausländerrechtsreferat“, auf „obrigkeitliche Zensurpraxis in der Kulturabteilung“ und auf ein „sozial-konservativ ausgerichtetes Verständnis“ in der Sozialabteilung.
Zudem habe die Untersuchung über das Bundeskriminalamt im Jahr 2011 aufgezeigt, „wie Konzepte der Verbrechensbekämpfung, die im Kontext des Partisanenkampfes während des Zweiten Weltkriegs entwickelt worden waren, noch bei der Terrorismusabwehr während der 1970er Jahre Anwendung fanden oder sich ein ‚kulturalistischer Rassismus‘ bei diskriminierenden Maßnahmen gegen Sinti und Roma niederschlug.“
Die Historiker erklären in ihrem Papier, in Deutschland habe sich in späteren Jahren trotz NS-Belastung „eine stabile Demokratie“ entwickelt. Aber gerade jüngere Ereignisse stellen diese Behauptung in Frage. 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur gibt es zwar keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder mehr im Staatsapparat; die noch Lebenden befinden sich alle im Rentenalter. Aber die braune Tradition lebt fort.
Das zeigen unter anderem die rassistische Mordserie des NSU, die unter den Augen der Geheimdienste und der Polizei stattfand, die ungeklärten Fragen über das Münchener Oktoberfestattentat und die massive, illegale Überwachung durch die Geheimdienste. Mit der Zuspitzung der sozialen Gegensätze und der Wiederbelebung des deutschen Militarismus kehren auch die antidemokratischen, rassistischen und militaristischen Grundtendenzen des deutschen Staats mit Macht zurück.
Dies ist weniger der Tatsache geschuldet, dass unter den heutigen Spitzenbeamten auch Nachfahren ehemaliger Größen des Dritten Reichs zu finden sind – allen voran Innenminister Thomas de Maizière selbst, dessen Vater als Offizier des Generalstabs das besondere Vertrauen Hitlers genoss. Vielmehr liegt der Grund darin, dass die Ursache von Krieg und Faschismus in der Stunde Null nicht beseitigt wurde – das kapitalistische Profitsystem, das heute erneut seine Krise mit Kriegen und diktatorischen Maßnahmen zu lösen sucht.