Die französische Nationalversammlung stimmte am Donnerstag mit großer Mehrheit dafür, den Ausnahmezustand, den Präsident François Hollande nach den Terroranschlägen vom 13. November verhängt hatte, um drei Monate zu verlängern.
Im Ausnahmezustand sind Durchsuchungen und Festnahmen ohne richterliche Erlaubnis möglich, auch dürfen Personen ohne Anklage inhaftiert werden. Demonstrationen und Proteste können verboten werden, und die Versammlungsfreiheit ist außer Kraft gesetzt.
Der Gesetzesentwurf ermöglicht die Verhängung von Hausarrest und die „Überwachung durch Fußfessel einer jeden Person, die Grund zur Annahme gibt, dass ihr Verhalten eine Bedrohung für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung ist“.
Bemerkenswert ist, dass in dem Entwurf der Terrorismus mit keinem Wort erwähnt wird. Alle Bestimmungen werden mit Verweis auf die Erhaltung der „öffentlichen Ordnung“ begründet. Das bedeutet, dass die Polizei jede Organisation, die sie als Gegner staatlicher Interessen sieht – auch politische Parteien und Arbeiterorganisationen – ohne richterliche Anordnung unterdrücken kann.
Das Gesetz passierte das Unterhaus mit 551 zu sechs Stimmen bei einer Enthaltung. Alle großen Fraktionen und Parteien, darunter die regierende Sozialistische Partei (PS) und die Grünen, stimmten mit überwältigender Mehrheit dafür.
Bezeichnenderweise stimmten ausnahmslos alle Abgeordneten der Linksfront dafür. Dazu gehören auch die stalinistische Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) und die Linkspartei (PG) von Jean-Luc Mélenchon. Die drei PS- und drei Grünen Abgeordneten, die dagegen stimmten, sind nur eine verschwindende Minderheit ihres jeweiligen parlamentarischen Lagers.
Bruno le Roux, der Führer des Stimmblocks der Sozialisten, Radikalen, Bürger und anderen Linken in der Nationalversammlung, sprach sich im Parlament für das Gesetz aus. Er sagte: „Meiner Meinung nach ist die französische Bevölkerung für eine gewisse, zeitlich streng begrenzte Einschränkung von Freiheiten bereit.“
Die Einmütigkeit der Abstimmung ist Ausdruck der Tatsache, dass es im politischen Establishment keine Unterstützung für grundlegende demokratische Rechte mehr gibt.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlichte eine Erklärung zu den Polizeistaatsmaßnahmen, die in Frankreich gerade eingeführt werden. Darin warnt sie: „Die Notstandsmaßnahmen, die im Moment durch das Parlament gepeitscht werden, erweitern stark die Vollmachten der Exekutive und gehen auf Kosten des Schutzes wichtiger Menschenrechte.“
„Immer wieder werden Notstandsmaßnahmen verlängert und kodifiziert, ehe sie ihren Weg in die normalen Gesetze finden“, sagte John Dalhuisen, der Direktor von Amnesty International für Europa und Zentralasien. „Die Menschenrechte werden immer stärker ausgehöhlt.“
Das Gesetz ist Teil der umfassenden Polizeistaatsmaßnahmen, die Hollande seit dem Terrorangriff vom 13. November durchsetzt. Der Präsident hat zudem eine Abstimmung über die Ergänzung der französischen Verfassung angekündigt, um weitere Polizeistaatsvollmachten zu legalisieren. Er will erreichen, dass der französische Präsident das Land dauerhaft mit Notstandsmaßnahmen regieren kann.
Auf Grundlage des Notstandsgesetzes von 1955, als Frankreich im Krieg mit Algerien lag, kann der Präsident den Ausnahmezustand für zwölf Tage ausrufen. Eine Verlängerung der Dauer erfordert die Zustimmung des Parlaments.
Hollande schlägt außerdem vor, die Möglichkeit zu schaffen, Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische Staatsangehörigkeit zu entziehen, wenn sie wegen Terrorismus verurteilt sind, und „Entradikalisierungszentren“ für muslimische Jugendliche zu schaffen.
Premierminister Manuel Valls lobte das Gesetz als „schnelle Reaktion einer Demokratie auf die Barbarei“ und fügte hinzu: „Das ist praktisch die juristische Reaktion auf eine Ideologie des Chaos.“ Er sagte, die Maßnahmen seien „moderne, wirkungsvolle Werkzeuge im Kampf gegen die terroristische Bedrohung“.
Die neuen Notstandsvollmachten ergänzen die massive staatliche Überwachung, die im Juni nach den Angriffen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Gesetzesform gegossen wurden.
Der belgische Ministerpräsident Charles Michel forderte das Parlament seines Landes auf, ähnliche Maßnahmen zu verabschieden. Er will, dass die belgischen Behörden alle Personen auf einer Terror-Beobachtungsliste zwingen können, elektronische Fußfesseln zu tragen. Auf dieser Liste stehen momentan 800 Personen. Weiter schlug Michel vor, alle Passagiere von Hochgeschwindigkeitszügen und Flugzeugen verbindlich zu registrieren und Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss auszuweiten.
Die massive Reaktion der Polizei in Frankreich und Belgien geht unvermindert weiter. Aufgrund der Vollmachten des von Hollande verhängten Ausnahmezustands wurden 414 Razzien durchgeführt und sechzig Verhaftungen vorgenommen. Nur wenige Verhaftungen standen im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 13. November. Die belgische Polizei hat seit Freitag schon etwa 200 Razzien durchgeführt.
Wie die französischen Behörden am Donnerstag bestätigten, war der mutmaßliche Organisator der Anschläge, Abdelhamid Abaaoud, einer der Toten, die am Mittwoch beim Polizeiüberfall im Pariser Stadtteil St. Denis starben. Bei dieser massiven Polizei- und Militäraktion, bei der die Polizei mehr als 1500 Schüsse abgab, wurde Abaaouds Körper derart zerfetzt, dass er später mithilfe seiner Fingerabdrücke identifiziert werden musste. Ein weitere Personen kam bei der Erstürmung zu Tode.
Parallel zu diesen Polizeiaktionen wurde die französische Kampfmission in Syrien ausgeweitet. Hollande gab nach einer Sitzung des Verteidigungsrats eine „Intensivierung“ der Luftschläge gegen Ziele des Islamischen Staats in Syrien und im Irak bekannt. Am Donnerstag traf sich der französische Generalstabschef Peter de Villiers mit seinem russischen Amtskollegen Valerie Gerassimow, um die „Koordinierung“ der französischen und russischen Militäroperationen zu besprechen.
Französische Politiker, die nach den Anschlägen am Freitag die Landesgrenzen schlossen, forderten andere europäische Länder auf, ähnlich repressive Maßnahmen gegen Flüchtlinge zu ergreifen. „Alle Länder, besonders die Nachbarländer Frankreichs, müssen ihre Verantwortung wahrnehmen“, erklärte Premierminister Valls am Donnerstag.
Regierungen in ganz Europa und Nordamerika nutzen die Anschläge von Paris zu weiteren Angriffen auf Flüchtlinge und fremdenfeindliche Übergriffe auf Muslime. Am Donnerstag nahm das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz an, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in die Vereinigten Staaten deutlich erschwert.
Am Mittwoch erwähnte der Bürgermeister von Roanoke im amerikanischen Bundesstaat Virginia, David A. Bowers, zustimmend die Internierung japanischer Amerikaner im Zweiten Weltkrieg. Er meinte, ähnliche Maßnahmen seien heute notwendig. Donald Trump, der führende Präsidentschaftsbewerber bei den Republikanern, sagte am Donnerstag, er schließe nicht aus, dass Muslime verpflichtet werden könnten, Personalpapiere bei sich zu tragen, die Auskunft über ihre Religion geben.