Im amerikanischen Staatsapparat herrschen immer offenere Streitigkeiten über die Frage, welchen Kurs die USA in Syrien verfolgen und wie sie auf die jüngsten russischen Luftangriffe reagieren sollen. Nun hat sich die International Socialist Organization (ISO) in den Streit eingeschaltet, um die aggressivsten imperialistischsten Fraktionen ideologisch zu unterstützen.
Die ISO stellt den blutigen sektiererischen Bürgerkrieg in Syrien seit Jahren als „syrische Revolution“ hin. Sie hat den Charakter der islamistischen „Rebellen“ in Syrien völlig fehlinterpretiert und stellt diese rechten Söldner als „Revolutionäre“ dar. Sie verteidigt außerdem standhaft das „Recht“ dieser Söldner, Waffen und Geld von der CIA und von Washingtons reaktionären Verbündeten in der Region anzunehmen, d.h. von Saudi-Arabien, der Türkei und Katar. Sie unterstützt sogar eine direkte US-Militärintervention.
2013 stellte sich die ISO ins Zentrum einer internationalen Kampagne, um die imperialistische Verschwörung zum Sturz der Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu unterstützen. Sie appellierte im Namen der „Menschenrechte“ an das pseudolinke und liberale Milieu, die „Revolution“ gegen Assad zu unterstützen.
Dabei versuchte sie auf groteske Weise, die Ereignisse in Syrien mit den revolutionären Kämpfen gleichzusetzen, die kurz zuvor in Ägypten und Tunesien ausgebrochen waren. Sie verschwieg bewusst die offenkundigen Unterschiede zwischen den beteiligten Klassenkräften und die Einstellung der USA und der anderen imperialistischen Mächte gegenüber diesen ungleichen Kämpfen.
Die Intervention in Syrien war, genau wie die vorherige in Libyen, Washingtons Antwort auf die revolutionären Ereignisse in Ägypten. Ihr Ziel war es, Marionettenregimes an die Macht zu bringen, die Washington bei seinen Bestrebungen unterstützen sollten, die Hegemonie über die ganze ölreiche Region zu erlangen. Dieses Ziel war auch der Grund für den Krieg im Irak.
Elemente wie die ISO, die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich, die deutsche Linkspartei und ähnliche pseudolinke Organisationen auf der ganzen Welt stellen sich durch ihre Unterstützung für diese Vorhaben eindeutig ins Lager des Imperialismus. Diese Organisationen sprechen für privilegierte Teile des Kleinbürgertums. Das einzig „linke“ an ihnen ist ihr Bereitschaft, mit scheinbar „linken“ Rechtfertigungen die Anhängerschaft für imperialistische Kriege und Aggressionen zu vergrößern. Sie machen sich bewusst zum Sprachrohr der imperialistischen Geheimdienste.
In letzter Zeit schweigt sich die ISO über die wahre Natur der syrischen „Revolutionäre“ weitgehend aus, weil nicht mehr zu leugnen ist, dass es sich dabei um rechte sunnitischen Milizen handelt, die von Saudi-Arabien unterstützt werden und mit Al Qaida verbündet sind.
Da das blutige Gemetzel, das diese Kräfte anrichten, eindeutig nichts mit dem Bild der „Volksrevolution“ für „Freiheit und Würde“ gemein hat, das die ISO heraufbeschworen hatte, hat die Organisation offenbar beschlossen, so wenig wie möglich darüber zu sagen. Bevor Russland letzten Monat seine Luftangriffe begann, veröffentlichte die ISO auf ihrer Webseite seit Beginn des Jahres nur drei Artikel über Syrien.
Angesichts der russischen Luftangriffe zur Unterstützung der Assad-Regierung ist die ISO jedoch wieder in Aktion getreten. Sie versucht, die eskalierende Krise in Syrien als Zusammenstoß zwischen rivalisierenden „Imperialismen“ – dem amerikanischen und dem russischen – darzustellen, sympathisiert aber sichtlich mit ersterem.
Die erste umfassende Analyse, die die ISO über die russische Intervention veröffentlichte, war ein Interview mit Gilbert Achcar, einem Professor für internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies der Universität von London. Er ist außerdem der Chefanalyst des pablistischen Vereinigten Sekretariats für den Nahen Osten.
Achcar war, ebenso wie die ISO, einer der wichtigsten Propagandisten der „syrischen Revolution“. Zuvor hatte er sich lautstark für den Nato-Krieg in Libyen ausgesprochen. Während der Intervention in Libyen betonte Achcar, „antiimperialistische“ Prinzipien müssten aus „humanitären“ Gründen verworfen werden. Er plapperte die Rechtfertigungen der Imperialisten für den Krieg nach und erklärte, in der ostlibyschen Stadt Bengasi stehe ein Massaker bevor, das nur durch einen Nato-Luftkrieg verhindert werden könne.
Nach der Intervention wurde allgemein zugegeben, dass das drohende Massaker nur als Teil der Propagandakampagne Washingtons existierte, um den Krieg zu rechtfertigen. Das Ergebnis waren 30.000 libysche Todesopfer. Noch heute herrschen Chaos und Zerstörung in dem Land.
Die Erfahrung in Libyen hat Achcar nichts gelehrt. Er versucht vielmehr, in Syrien genauso zu verfahren und geht so weit, sich mit dem Syrischen Nationalrat zu treffen, einer Ansammlung von amerikanischen und französischen Geheimdienstlern, und sie dabei zu beraten, wie sie sich am besten für eine westliche Militärintervention einsetzen können.
Das Interview, das von der ISO unter dem Titel „Was Russland in Syrien will“ veröffentlicht wurde, wurde von der Webseite LeftEast durchgeführt. Die Quelle ist nicht gerade unwichtig. LeftEast hat zugegeben, Gelder von der Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten zu haben, der SPD-nahen Denkfabrik, die eines der wichtigsten Werkzeuge des deutschen Imperialismus zur Propagierung seiner internationalen Interessen ist. Die Stiftung war höchst aktiv an der Vorbereitung des Putsches in der Ukraine beteiligt, ebenso wie bei den vorherigen „Farbrevolutionen“ in der ehemaligen Sowjetunion.
Die ISO stört sich aus gutem Grund nicht an solchen Beziehungen. Die amerikanische Organisation wird selbst von ähnlichen Stiftungen finanziert.
Zu Beginn seines Interviews rügt Achcar „oberflächliche Kritiker der USA“ und argumentiert, die Obama-Regierung strebe „in Syrien keineswegs einen Regimewechsel [an].“ Vielmehr, erklärt er, „will sie nur das Assad-Regime ohne Assad.“
Mit anderen Worten, der US-Imperialismus will nicht den ganzen Staatsapparat in Syrien zerstören, sondern ihn nur enthaupten. Aber warum macht er sich überhaupt die Mühe, Assad zu stürzen? Darüber schweigt Achcar und verheimlicht auf diese Weise, dass Washington seine eigene Marionette an die Spitze des syrischen Staates setzen will, um seinen Würgegriff um den Nahen Osten zu verstärken und seinen regionalen und internationalen Rivalen Russland, China und dem Iran einen strategisch wichtigen Verbündeten zu nehmen.
Die Verheimlichung der zentralen Ziele des US-Imperialismus ist von entscheidender Bedeutung für Achcars zentrales Argument, nämlich die Darstellung Russlands als wichtigstem „imperialistischem“ Aggressor in Syrien. Er erklärt: „Putins machohaftes Einschüchterungsgehabe steht in deutlichem Kontrast zur zurückhaltenden Einstellung der Obama-Regierung im Nahen Osten in den letzten Jahren.“
Wen will Achcar damit täuschen? Die „zurückhaltende“ Obama-Regierung hat zehnmal mehr Soldaten in den Irak geschickt als Russland nach Syrien. Sie hat in der ganzen Region Drohnenmorde und Massaker verübt. Sie hat Waffen und Militärberater geschickt, um Saudi-Arabien in seinem brutalen Krieg gegen den Jemen zu unterstützen und Israel letztes Jahr in seinem Krieg im Gazastreifen auf ähnliche Weise unterstützt. Sie ist der mit großem Abstand wichtigste Waffenlieferant in der Region: alleine im letzten Jahr hat sie für zweistellige Milliardenbeträge Waffen an Saudi-Arabien, Katar, die VAE, Ägypten und andere Länder geschickt.
Dennoch betont Achcar, Russlands Luftangriffe in Syrien seien ein „wichtiger Durchbruch für den russischen Imperialismus in seinem Konkurrenzkampf mit dem US-Imperialismus.“
Das ist Unsinn. Russlands Intervention in Syrien ist reaktionär und dient den Interessen der Oligarchen, die sich an der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie, die Plünderung von Staatseigentum und die Verelendung der Arbeiterklasse bereichert haben. Von Moskaus Standpunkt aus ist seine Militäraktion in Syrien jedoch größtenteils defensiv. Ihr Ziel ist es, Washington zu hindern, Russland seines einzigen Verbündeten in der arabischen Welt und seiner einzige Militärbasis in Übersee zu berauben. Außerdem soll der Westen gehindert werden, die Russische Föderation einzukreisen und letzten Endes zu zerstückeln.
Man muss lediglich diesem einzigen russischen Stützpunkt in Syrien die mehr als 700 US-Basen in 63 Ländern gegenüberstellen, und der Tatsache, dass Washington mehr als eine Viertelmillion Soldaten im Ausland stationiert hat. Die Vorstellung eines amerikanisch-russischen „inter-imperialistischen Konkurrenzkampfes“, wie ihn Achcar darstellt, ist von Grund auf falsch. Das Bruttonationaleinkommen der USA ist 39mal höher als das Russlands. Die russische Wirtschaft ist größtenteils von Öl und Gas abhängig, das für 68 Prozent der Exporteinnahmen des Landes verantwortlich ist. Damit ähnelt das Verhältnis Russlands zum Weltmarkt eher dem des Iran als dem der USA und anderer imperialistischer Mächte.
Achcar und die ISO ignorieren diese Fakten. Ebenso wenig befassen sie sich mit der Tatsache, dass der derzeitige kapitalistische Staat in Russland das Ergebnis einer völlig anderen historischen Entwicklung ist als derjenigen in den USA oder den anderen imperialistischen Mächten: Er ist das Ergebnis der stalinistischen Auflösung des Staates, dessen Wurzeln in der Oktoberrevolution von 1917 lagen.
Achcar behauptet, der Grund für den Aufstieg des „russischen Imperialismus“ im Nahen Osten sei die zu wenig aggressive Intervention der USA in Syrien. Er erklärt, der Grund für den Niedergang der „gemäßigten syrischen Opposition“ sei „fehlende Unterstützung durch Washington und vor allem das Veto Obamas gegen die Lieferung von Luftabwehrwaffen.“ Er behauptet, dies habe zum Entstehen der „dschihadistischen“ Kräfte geführt.
Washington ist deshalb davor zurückgeschreckt, Boden-Luft-Raketen an die „gemäßigte Opposition“ zu liefern, weil diese „gemäßigte Opposition“ von Anfang an von Al Qaida-nahen Kräften dominiert war, die diese Luftabwehrsysteme letzten Endes gegen die USA selbst hätten einsetzen können. Das hat es aber nicht davon abgehalten, hunderte Tonnen Waffen und Munition über die Türkei, Saudi-Arabien und Katar zu liefern.
Achcar bedauert, dass die USA ihren Stellvertreterkrieg in Syrien nicht genügend eskaliert haben: „Diejenigen, die sich für eine Unterstützung der gemäßigten Opposition ausgesprochen haben, u.a. [Hillary] Clinton und der damalige CIA-Direktor David Petraeus, fühlen sich jetzt von den Ereignissen bestätigt. Die katastrophale Entwicklung der Lage in Syrien geht zum Großteil auf Obamas falsche Politik zurück.“
Mit seiner eigenen Meinung hält Achcar hinter dem Berg, ebenso wie die ISO. Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass sie mit Clinton und Petraeus einer Meinung sind. Die beiden fordern jetzt eine „Flugverbotszone“ in Syrien. Dieser Schritt könnte zu einem militärischen Konflikt zwischen den USA und Russland führen und die Bedingungen für einen Atomkrieg schaffen.
Während sich Achcar für eine direktere imperialistische Intervention einsetzt, macht er sich über Moskaus Standpunkt lustig, seine Intervention sei legal und geschehe auf Anforderung der „legitimen“ Regierung in Syrien. Er bezeichnet Moskaus Vorstellung von „Legitimität“ als „sehr beschränkt“.
Er schreibt: „Man könnte natürlich sagen, Assad repräsentiert vom völkerrechtlichen Standpunkt die legitime Regierung, aber sicherlich nicht vom Standpunkt demokratischer Legitimität. Sie ist vielleicht nach den Standards der UN die 'rechtmäßige' Regierung, aber sie ist sicherlich nicht 'legitim', weil sie nie demokratisch gewählt wurde. Dieses Regime ist das Ergebnis eines Putsches vor 45 Jahren. Es hat die Präsidentschaft per Erbschaft in einer quasi-königlichen Dynastie weitergereicht bekommen, die das Land mittels Geheimdiensten und einer Militärdiktatur regiert.“
Dieser rechtmäßige Status „nach den Standards der UN“, den Achcar leichtfertig abtut, ist in der UN-Charta festgelegt. Sie verbietet „die Androhung oder den Einsatz von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates“ und bekräftigt, dass es kein Recht gibt, „sich in Angelegenheiten einzumischen, die im Wesentlichen in den inneren Zuständigkeitsbereich eines Staates fallen.“
Der US-Imperialismus hat diese Grundsätze internationalen Rechts nie akzeptiert. Er hat im letzten Jahrhundert in einem Land nach dem anderen interveniert, ihre Staatsgebiete besetzt und ihre Regierungen gestürzt. Achcar liefert hier eine scheinlegale Rationalisierung für solche Verbrechen.
Was seine erweitere Definition von „Legitimität“ angeht, so könnte man eindeutig argumentieren, dass die große Mehrheit der Regierungen im Nahen Osten illegitim sind. Seltsamerweise scheint ihn das nur bei denjenigen Regimes zu stören, die ins Fadenkreuz des Imperialismus gerückt sind, wie Libyen und Syrien, nicht aber bei denjenigen, die an der Seite des Imperialismus kämpfen wie die Ölmonarchien in Saudi-Arabien und Katar.
Dass solche Regimes im Nahen Osten die Mehrheit stellen, zeigt die organische Unfähigkeit der nationalen Bourgeoisie, ihre Rechnungen mit dem Imperialismus durch eine Revolution zu begleichen und wirklich demokratische Gesellschaften zu aufzubauen. Da sie sich auf die Grenzen, Staatsstrukturen und religiösen Spaltungen stützen, die sie vom Kolonialismus geerbt haben, können sie ihre Herrschaft nur mit diktatorischen Mitteln verteidigen.
Nur die Arbeiterklasse kann dieses historische Problem durch den Sturz dieser Regimes und die sozialistische Revolution lösen. Sie darf diese Aufgabe nicht den imperialistischen Mächten und ihren Stellvertretern anvertrauen.
Was die „syrische Revolution“ angeht, so fallen Achcar keine so hochtrabenden Begriffe für eine schmutzige imperialistische Intervention mehr ein. Jetzt betont er nur noch schlicht, dass die imperialistischen Mächte „Assad loswerden“ müssen und erklärt: „Der schönste Traum für die einfache Bevölkerung Syriens ist jetzt ein Ende des Krieges und die Stationierung von UN-Truppen, um wieder für Ordnung zu sorgen und den Staat und das Land wieder aufzubauen.“ Mit anderen Worten, eine Rückkehr zum Kolonialismus.