Nach ihrem deutlichen Sieg bei den kanadischen Parlamentswahlen (Unterhauswahlen) am 18. Oktober kehrt die Liberal Party, die lange Zeit die bevorzugte Regierungspartei der Wirtschaft war, zum ersten mal nach zehn Jahren an die Schalthebel der Macht zurück.
Nur gut vier Jahre nach ihrer schwersten Wahlniederlage gewannen die Liberalen 39,47 Prozent der Stimmen, mehr als das Doppelte ihres Ergebnisses von 2011. Damit katapultierten sie sich von der drittstärksten Kraft zur größten Partei im Unterhaus, dem 338 Abgeordnete angehören. Mit 184 Sitzen errang sie 15 Sitze mehr als die absolute Mehrheit.
Unter der Führung von Justin Trudeau, dem Sohn des früheren Premierministers Pierre Trudeau, erzielten die Liberalen fast überall im Land erhebliche Zugewinne, auch in den atlantischen Provinzen Quebec, Ontario, Manitoba und British Columbia.
Die Wahl war ein entschiedenes Votum gegen Premierminister Stephen Harper und seine seit zehn Jahren amtierende Regierung der Konservativen. Diese verloren mehr als 60 Sitze. Viele ihrer Minister, darunter Finanzminister Joe Oliver, verloren ihr Mandat.
Harper gab seinen Rücktritt als Parteivorsitzender bekannt, noch ehe er seine Wahlniederlage offiziell eingestand.
Die Liberalen profitierten völlig unverdient von der starken Opposition gegen die konservative Regierung, die einschneidende Sparmaßnahmen vorgenommen, Kanada stärker in die offensive Militärstrategie der USA eingebunden und Arbeiterrechte angegriffen hat.
Die Gewerkschaften und die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP) tragen durch ihre rechte Politik die volle Verantwortung dafür, dass sich die Liberalen als Fürsprecher “wirklicher” und “progressiver” Veränderung darstellen konnten.
Seit vielen Jahren arbeiten die Gewerkschaften und die NDP darauf hin, Harper durch eine “progressive” Regierung zu ersetzen, in der die Liberalen eine führende Rolle spielen sollen.
Seit Herbst letzten Jahres führen die Gewerkschaften die „Jeder, nur nicht Harper“-Kampagne an. Sie haben für Kampagnen und Proteste Dritter, die sich gegen die Konservativen richten, Millionen von Dollar ausgegeben.
Die NDP, die sich Hoffnungen machte, die Wirtschaft von ihrer Regierungsfähigkeit überzeugen zu können, initiierte eine “Harper light”-Wahlkampagne. Zum Beispiel versprach sie einen ausgeglichenen Haushalt, keine Steuererhöhungen für die Reichen und Superreichen, eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern und die Erhöhung der Militärausgaben.
Nur dank der vereinten Bemühungen der Gewerkschaften und der NDP konnten die Liberalen als Gegner der Austeritätspolitik auftreten. Dabei hatten sie während ihrer letzten Regierungszeit die größten Sozialkürzungen in der Geschichte Kanadas durchgeführt und der Wirtschaft und der Finanzelite durch massive Senkung der Unternehmens-, Kapitalertrags- und Einkommenssteuer Milliarden in den Rachen geworfen.
Das Wahldebakel der NDP war daher folgerichtig. Als offizielle Oppositionspartei eröffnete die NDP vor elf Wochen den Wahlkampf. Doch ihr Eintreten für Sparpolitik, in Verbindung damit, dass sie zusammen mit den Gewerkschaften die Liberalen als verbündete “progressive” Partei und möglichen Koalitionspartner anpries, bewog viele Arbeiter, die Liberalen zu wählen.
Die NDP erreichte etwa 40 Mandate und verlor damit mehr als die Hälfte ihrer Sitze im Parlament. Ihr Stimmenanteil nahm um mehr als ein Drittel ab und fiel auf weniger als 20 Prozent.
In Quebec waren die Verluste der NDP besonders hoch. Sie verlor Sitze nicht nur an die Liberalen, sondern auch an die Konservativen und an den für die Unabhängigkeit Quebecs eintretenden Bloc Quebecois (BQ), dessen Schwesterpartei auf Provinzebene, die Parti Quebecois, seit Langem die Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie genießt. Im Wahlkampf ergänzten sich die Konservativen und der BQ. Sie gaben gemeinsam reaktionäre und islamfeindliche Aufrufe heraus, forderten, dass das Tragen des Schleiers eingeschränkt werden solle, und lobten die Rolle Kanadas im jüngsten US-Krieg im Nahen Osten.
Trudeau und die Liberalen werden ihre Mehrheit nutzen, um die Diktate der kapitalistischen Elite durchzusetzen. Angesichts der Wirtschaftskrise in Kanada, die sich durch den Verfall der Rohstoffpreise, schwaches Wachstum der Weltwirtschaft sowie durch die zunehmenden Spannungen zwischen den Großmächten vertieft, werden die Liberalen die Angriffe auf Arbeiterrechte im Innern vorantreiben und die räuberischen Interessen des kanadischen Imperialismus nach außen aggressiver vertreten. Dazu gehört die Annahme des Trans-Pacific Partnership (TPP)-Handelsabkommens, eines zentralen Bestandteils des Bestrebens der Vereinigten Staaten, China strategisch zu isolieren und militärisch einzukreisen.
Im Wahlkampf wurde deutlich, dass sich wichtige Teile der herrschenden Klasse um die Liberalen scharten. Eine mögliche Regierung unter Trudeau wurde von der wichtigsten französischsprachigen Zeitung, La Presse, positiv kommentiert. Auch Conrad Black begrüßte einen Regierungswechsel. Er ist der Begründer der neokonservativen National Post und einer der wichtigsten Unterstützer des Zusammenschlusses von Harpers Canadian Alliance mit den Überbleibseln der Progressive Conservative Party.
Die herrschenden Eliten spekulieren darauf, dass sie nach neun Jahren konservativer Regierung ihre rücksichtslosen Interessen mit einer angeblich „progressive“ Regierung effektiver durchsetzen können. Vor allem hoffen sie, die soziale Wut in Grenzen halten zu können.
Sie sind sich außerdem sehr bewusst, dass die Liberalen seit Langem dafür bekannt sind, in Wahlkämpfen „progressive“ Aussagen zu machen, nur um dann, wenn sie an die Regierung kommen, die politischen Vorgaben ihrer weiter rechts stehenden Gegner durchzusetzen.
Unter der Führung von Jean Chretien kamen die Liberalen 1993 nach neun Jahren Herrschaft der Progressive Conservatives an die Macht. Chretien führte seinerzeit eine „progressive“ Wahlkampagne. Er versprach, die „Fixierung“ der Konservativen auf die Schuldenfrage aufzugeben und alles für „Jobs, Jobs, Jobs“ tun zu wollen. Unter seiner Regierung begann dann der Abbau öffentlicher Dienstleistungen. Die brutalen Kürzungen seiner Regierung werden vom IWF bis heute Regierungen in aller Welt als vorbildliche Sparpolitik empfohlen.
Dieses Mal sind die Liberalen entschlossen, am Polizeistaatsgesetz C-51 festzuhalten, das die Konservativen mit Unterstützung der Liberalen im letzten Frühjahr verabschiedeten. Das Gesetz verschafft dem nationalen Sicherheitsapparat unbegrenzten Zugang zu allen Informationen, die die Regierung über die Kanadier hat. Es erweitert die Befugnisse zur „präventiven“ Verhaftung und ermächtigt den Canadian Security Intelligence Service (CSIS), praktisch jedes Gesetz zu missachten, um vage definierte Bedrohungen für die nationale Sicherheit und die Wirtschaft zu „eliminieren“.
Trudeau hat sich für eine Erhöhung der Zahl kanadischer Spezialkräfte im Irak ausgesprochen, um im Rahmen der US-geführten Kriegskoalition lokale Stellvertretergruppen für den Kampf gegen den IS auszubilden. Weiter hat er versprochen, Ottawas Beziehungen zu Washington zu stärken und die Militärausgaben deutlich zu erhöhen, damit die kanadischen Streitkräfte mit verbesserter Ausrüstung an der Seite der USA weltweit eingreifen können.
Was ihr viel gepriesenes Versprechen angeht, die Sparpolitik zu beenden, so ist dazu zu sagen, dass ihr eigenes Programm vorsieht, während ihrer vierjährigen Regierungszeit jährlich sechs Milliarden Dollar einzusparen.