Israelisches Militär intensiviert Repressionen in Jerusalem und im Westjordanland

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu reagierte auf die eskalierende Gewalt zwischen rechten israelischen Juden und Palästinensern, indem er den „muslimischen Extremismus“ für die Krise verantwortlich machte und Israel in Kriegsstimmung versetzte.

Die Gewalt rechter Zeloten, welche die Regierung dazu bringen wollen, das Gelände der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee unter ihre Kontrolle zu bringen, um jüdische Gebete auf der gesamten Stätte zu ermöglichen, weitete sich von den überwiegend palästinensischen Gebieten des Westjordanlandes und Ostjerusalems nach Israel selbst aus. Sie verfügt über das Potenzial, eine dritte palästinensische Intifada (Aufstand) oder gar einen erbitterten religiösen Bürgerkrieg auszulösen.

Außerdem könnte diese Gewalt Proteste in der gesamten arabischen Welt entfachen, die die Beziehungen Israels mit Washington und seinen arabischen und muslimischen Nachbarn verschlechtern könnten. Israel hilft unter der Hand seinen Nachbarstaaten bei dem von den USA unterstützten Krieg zum Sturz des Regimes des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.

Die Situation ist dermaßen angespannt, dass Netanjahu letzten Donnerstag ein Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin absagte, das anlässlich der seit 50 Jahren bestehenden diplomatischen Beziehungen der beiden Staaten geplant war.

Stattdessen hielt er eine Ansprache vor seinen Militär- und Geheimdienstleitern. Auf seiner ersten Pressekonferenz seit dem Ausbruch der Gewalt im September sagte Netanjahu: „Hasserfüllte Terroristen versuchen, unser Volk zu treffen.“ Er beschuldigte die Hamas, die Islamische Bewegung in Israel, die palästinensische Autonomiebehörde und Länder der Region, die „Lüge“ zu verbreiten, Israel wolle die Vereinbarungen über das Gelände der al-Aqsa-Moschee abändern und damit Unruhen anfachen. Das Gelände der al-Aqsa-Moschee gilt Moslems als heilige Kultstätte und ist zugleich der Tempelberg der Juden.

Netanjahu wies die Polizei an, Minister der Regierung und jüdische sowie palästinensische Parlamentarier nicht auf das Gelände der al-Aqsa-Moschee vorzulassen. Er sagte: „Wir brauchen keine zusätzlichen Sprengzünder, um den Boden in die Luft zu jagen.“ Zugleich betonte er, seine hauptsächliche Verpflichtung sei die Sicherheit Israels und er brauche internationale Unterstützung für seine „Anti-Terror“-Maßnahmen.

Er erging sich zunächst in Lobeshymnen über die Sicherheitskräfte, die seit dem 3. Oktober zwei palästinensische Kinder getötet und über 1.600 Palästinenser verletzt haben, und dann sagte er: „Israel wusste stets Terroristen zurückzuschlagen und das Land aufzubauen.“

Israel habe bereits Maßnahmen ergriffen, „dem Terror die Wurzel auszureißen“, bemerkte er. Hierzu zählen die zeitweise Schließung der Jerusalemer Altstadt für Palästinenser, die außerhalb Jerusalems ansässig sind, die Illegalisierung der muslimischen al-Aqsa-Wachen, die strenge Begrenzung palästinensischer Gottesdienste auf dem Gelände, der Schießbefehl gegen Steinewerfer, die Verhängung von Gefängnisstrafen für Brandbomben- und Steinewerfer von mindestens vier Jahren sowie die schnellstmögliche Niederreißung der Wohnungen der Angehörigen jener Palästinenser, die Angriffe ausgeführt haben.

Diesen repressiven Maßnahmen gingen die Entsendung von vier zusätzlichen Bataillonen der israelischen Armee in das Gebiet um Nablus im nördlichen Westjordanland voraus, das vollständig abgesperrt wurde, sowie das Verbot für Palästinenser unter 40 Jahren, das al-Aqsa-Gelände zu betreten. In die Altstadt und umliegende Gebiete wurden Polizeiverstärkungen geschickt; um Ostjerusalem wurden Barrikaden errichtet.

Netanjahu rief die Oppositionsparteien zu einer Regierung der nationalen Einheit auf und sagte, es bestünden keine echten Unterschiede zwischen ihnen. Seine rechtsstehende Koalition in der Knesset verfügt lediglich über eine Mehrheit von einem Sitz.

Die weit rechtsstehende Siedlerbewegung wird vom regierenden Likud und weiteren ultranationalistischen und religiösen Parteien seit dem Sechstagekrieg von 1967 gefördert, der das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen und die syrischen Golanhöhen unter israelische Kontrolle gebracht hatte. Das Verlangen der Siedler, die Kontrolle über die Jerusalemer al-Aqsa-Moschee ganz in jüdische Hand zu nehmen, ist ein offener Bruch der Friedensvereinbarung von 1994 mit Jordanien. Jordanien leitet die Islamische Stiftung, welche die Aufsicht über die muslimischen Heiligtümer in Ostjerusalem führt und Muslimen garantiert, dort beten zu können. Die Ausübung des jüdischen Kultus ist auf die Klagemauer beschränkt.

Die 140.000 Quadratmeter des Komplexes um die Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt, ein UNESCO-Weltkulturerbe, sind das drittwichtigste Heiligtum des Islam. Der Tempelberg ist die heiligste Stätte des Judentums. Ariel Scharons provokatives Vordringen auf das Al-Aqsa-Gelände im September 2000, unter massivem bewaffnetem Schutz, löste die zweite Intifada aus.

Es wurden zahllose Versuche unternommen, das Gelände unter israelische Kontrolle zu bringen. Ein seit langem existierender Plan der Zionisten sieht vor, die Stadt zu judaisieren, die Mehrzahl der palästinensischen Bewohner zu entfernen und ganz Jerusalem mit jüdischen Siedlungen zu umgeben. Damit würde Ostjerusalem von seinem palästinensischen Hinterland abgeschnitten und jegliche Möglichkeit verbaut, dass die Palästinenser Ostjerusalem je zur Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates erklären könnten.

Netanjahu beteuert, er wolle den Status quo erhalten. Doch er erlaubt immer wieder Provokationen auf dem al-Aqsa-Gelände, welches zum Schwerpunkt des rechten Siedlerprojektes wurde, die Kontrolle über das gesamte Westjordanland zu übernehmen.

Seit Ende August wuchsen die Spannungen beträchtlich an, als die Polizei Palästinensern zwischen 7 und 11 Uhr den Zutritt zum Gelände verwehrte, aber rechten israelischen Gruppen unter schwerer Bewachung die Besichtigung gestattet hatte. Die Einwände der Islamischen Stiftung wurden ignoriert.

Im gesamten Westjordanland und in Ostjerusalem brachen Proteste und Demonstrationen aus, in deren Folge es wiederholt zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kam. Dutzende Palästinenser und mehrere Soldaten wurden dabei verletzt.

Seitdem eskaliert die Gewalt. Bei mehreren Messerstechereien in Tel Aviv, Ostjerusalem und dem Westjordanland wurden am Donnerstag sechs Israelis verwundet und ein Angreifer niedergeschossen. In der Woche zuvor starben bei einer Reihe von Zwischenfällen vier Israelis und drei Angreifer durch Messerstiche bzw. Schusswaffen.

Es gab gewaltsame Vorkommnisse außerhalb der besetzten Territorien, darunter in Vororten von Tel Aviv und in Städten im Süden Israels. Freitagmorgen lief ein israelischer Mann Amok und verwundete drei Palästinenser und einen arabischen Israeli mit einer Stichwaffe. Die Polizei verhaftete den Mann, gab aber seine Identität nicht preis. Sie sagte, er habe ein „nationalistisches“ Motiv für seine Angriffe gehabt.

Am Donnerstag versuchte eine israelische Araberin an der zentralen Busstation in Afula, einer israelischen Stadt nahe dem Westjordanland, einen Sicherheitsposten niederzustechen. Sie wurde angeschossen und ins Krankenhaus gebracht.

In Bethlehem erschossen israelische Sicherheitskräfte während eines Zusammenstoßes mit örtlichen Jugendlichen einen dreizehnjährigen Jungen, der von der Schule nachhause ging. Dies war das sechste palästinensische Kind in diesem Jahr, das von israelischem Militär oder von Siedlern im Westjordanland getötet wurde. Netanjahu verkündete daraufhin, dass Israel sich „im Krieg“ mit Steinewerfern befinde, womit er weitere Demonstrationen und Zusammenstöße provozierte.

Es tauchte Videomaterial von den Zusammenstößen im Westjordanland auf, das israelische Soldaten zeigt, die als Palästinenser verkleidet bei den Steinwürfen teilnehmen bis sie plötzlich ihre versteckte Pistole herausholen und Palästinenser festnehmen. Das israelische Militär hat das Filmmaterial nicht kommentiert, doch Berichten zufolge ist diese Praxis weit verbreitet.

Die Siedler aus dem Westjordanland haben zahlreiche Angriffe auf Palästinenser, ihre Häuser, Autos, Obstplantagen und Moscheen verübt, die straflos blieben. Laut der palästinensischen Organisation Ahrar-Zentrum für Häftlingsstudien und Menschenrechte wurden in den vier ersten Oktobertagen mindestens 126 Angriffe oder Akte des Vandalismus gegen Palästinenser begangen. In Jerusalem grölten wütende israelische Mobs „Tod den Arabern“ und verletzten Umstehende.

In den vergangenen Wochen campierten Siedler vor Netanjahus offizieller Residenz in Jerusalem. Ihre Führer in der Jüdischen Heimatpartei (Jisra’el Beitenu), im Likud und verschiedenen religiösen Parteien kritisierten Netanjahu für seine „milde“ Haltung gegenüber den Palästinensern. Sie fordern Maßnahmen gegen die Palästinenser und die Errichtung einer neuen Siedlung für jeden einzelnen palästinensischen Angriff.

Eine ausschlaggebende Waffe in Netanjahus Waffenkammer stellt die Palästinensische Autonomiebehörde dar, die von Präsident Mahmud Abbas geführt wird. Abbas rief die Palästinenser auf, eine „Eskalation“ mit Israel zu vermeiden, womit er seine Rolle als israelischer Polizist bestätigte. Auf einem Treffen des Exekutivkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), das am Dienstag in Ramallah stattfand, erklärte er: „Wir wollen keine Eskalation mit ihnen, weder mit dem Militär noch mit den Sicherheitsdiensten.“

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