Die Ansprache von Papst Franziskus vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses der Vereinigten Staaten am Donnerstag stellt einen Meilenstein in der Rechtsentwicklung des amerikanischen politischen Establishments dar. Es lässt die kläglichen Reste seines demokratischen Erbes fallen und wendet sich stattdessen offen der Reaktion zu.
Gekleidet in mittelalterliche Amtstracht fuhren der Papst und sein Gefolge zusammen mit einem riesigen Sicherheitsaufgebot durch Washington. Die Hauptstadt eines Landes, dessen Demokratie in Trümmern liegt.
Von der ersten Zusammenkunft des Kontinentalkongresses 1774 bis zum 114. Kongress, der 2015 zusammentrat, hat noch nie ein Papst vor der amerikanischen Legislative gesprochen. Die beispiellose Ansprache des Papstes war ein direkter Affront gegen die säkularen Grundlagen der amerikanischen Republik und gegen die amerikanische Verfassung.
Der erste Abschnitt des ersten Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung, der ein Teil der Bill of Rights ist, legt das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat fest und verbietet dem Kongress die Bevorzugung einer Religion. Wie Thomas Jefferson es formulierte, sollte der erste Zusatzartikel eine „wall of separation“ (Trennwand) zwischen Kirche und Staat errichten. Dies galt als entscheidend für freies Denken und individuelle Freiheit.
Diese grundlegende demokratische Vorstellung findet sich weder in der Berichterstattung über den Papstbesuch, die von morgens bis abends auf die Bevölkerung einprasselt, noch in den Stellungnahmen der Politiker. Die hohlköpfige Begeisterung und Schwärmerei für „His Holiness“ (Seine Heiligkeit) ist ein Schlag ins Gesicht für Atheisten, Agnostiker, Juden, Muslime und alle anderen, die ein demokratisches Recht darauf haben, in einer Gesellschaft zu leben, die keine Stellung zur Religion an sich oder einem bestimmten Glauben bezieht.
Präsident Obama gab mit seiner offiziellen Begrüßung im Weißen Haus den Ton vor. Er begann mit den Worten: „Was für einen schönen Tag der Herr geschaffen hat“ und nannte den Papst den „Heiligen Vater“ und „Eure Heiligkeit“. Im weiteren Verlauf der zehnminütigen Ansprache fielen die Worte „Gott“ fünfmal, „Herr“ zweimal, „Jesus“ einmal, „heilig“ sechsmal und „Heiligkeit“ zweimal. Der Papst sprach seinerseits über Familienwerte, religiöse Freiheit und die Umwelt, erwähnte einmal den „Schöpfer“ und beendete seine Rede mit „Gott segne Amerika.“
Obama erklärte: „Sie erinnern uns daran, dass Menschen erst dann wirklich frei sind, wenn sie ihren Glauben frei ausüben können.“ Das sagte er, ohne rot zu werden, zum Oberhaupt der Institution, die für die Heilige Inquisition verantwortlich ist, d.h. für jahrhundertelange Unterdrückung und Folter und Morde an Europas „ketzerischen“ Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern. Zum Oberhaupt der gleichen Katholischen Kirche, die enge Beziehungen mit den faschistischen Regimes in Spanien, Italien, Polen, Kroatien und der Slowakei pflegte und 1933 das Reichskonkordat mit Hitler-Deutschland unterzeichnete.
Der amtierende Papst, der ehemalige Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Bergoglio, war persönlich an dem „Schmutzigen Krieg“ in Argentinien von 1976-1983 beteiligt. Unter seiner Führung unterstützte die Kirche die Militärjunta im Namen des Kampfes gegen den Marxismus, während diese 30.000 Arbeiter, Studenten und Intellektuelle „verschwinden“ ließ und zehntausende entführte und folterte. Soviel zu Obamas Kämpfer für die Freiheit!
Doch die amerikanischen Medien interessieren sich für so etwas nicht. Stattdessen überbieten sich die diversen Nachrichtenmedien schamlos in ihrem Kotau vor dem päpstlichen Besucher und veröffentlichen eine Flut von Artikeln und Fernsehsendungen über Themen wie die Einzelheiten der päpstlichen Garderobe, des päpstlichen Gefolges, der päpstlichen Reiseroute und des päpstlichen Papamobils.
Die gegenseitige Liebe zwischen Obama und Franziskus ruft einem die Worte Jeffersons ins Gedächtnis: „In jedem Land und in jedem Zeitalter, war der Priester der Freiheit feindlich gesonnen. Er ist immer im Bunde mit dem Despoten, unterstützt seine Verfehlungen im Gegenzug für seinen eigenen Schutz.“
Nirgendwo in der überschwänglichen Berichterstattung der Medien findet sich etwas, was an demokratisches oder historisches Bewusstsein erinnert. Bei diesem Medienspektakel würde man beispielsweise nie darauf kommen, dass die USA von 1867 bis 1984 keine diplomatischen Beziehungen zum Vatikan hatten, bis sie unter Präsident Ronald Reagan aufgenommen wurden.
Ebenso würde niemand darauf kommen, dass die Wahl des ersten katholischen Präsidenten, John F. Kennedy, höchst umstritten war. 1960 wurde ihm als Präsidentschaftskandidat vorgeworfen, er würde aufgrund seines katholischen Glaubens als Präsident Befehle aus Rom entgegennehmen.
Kennedy antwortete in einer wichtigen Rede seinen Kritikern: „Ich glaube an ein Amerika, in dem die Trennung von Kirche und Staat absolut ist, in dem kein katholischer Prälat dem Präsidenten, wenn er denn katholisch ist, vorschreibt, wie er handeln soll, und kein protestantischer Pfarrer seinen Gemeindemitgliedern sagt, wen sie wählen sollen, in dem keine Kirche oder Konfessionsschule öffentliche Gelder oder politische Bevorzugung erhält und in dem niemandem ein öffentliches Amt vorenthalten wird, nur weil er eine andere Religion ausübt als der Präsident, der ihn möglicherweise ernennt, oder die Leute, die ihn vielleicht wählen.“
Kennedy war stolz darauf, gegen die Entsendung eines Botschafter in den Vatikan gewesen zu sein. Er erklärte: „Ich spreche in öffentlichen Angelegenheiten nicht für meine Kirche, und die Kirche spricht nicht für mich.“
Der Gegensatz zwischen Kennedy und Obama könnte kaum deutlicher sein. Allerdings geht es hier nicht nur um Individuen, sondern um den langen Verfall der amerikanischen Demokratie im letzten halben Jahrhundert. Die Kennedy-Regierung repräsentierte zwar alles andere als ein goldenes Zeitalter, aber im Vergleich mit ihr werden die Folgen von jahrzehntelanger politischer Reaktion und der zunehmenden Unterordnung aller Institutionen des Landes unter eine kriminelle, immer reichere Finanzaristokratie deutlich.
In den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts begann ein direkter, umfassender Angriff auf demokratische Grundrechte und Institutionen, der mit einer immer stärkeren Zunahme von sozialer Ungleichheit und militärischer Aggression im Ausland einherging. In Amerika überwacht die Regierung alle Aktivitäten ihrer Bürger, Folterer und mordende Polizisten genießen völlige Straffreiheit, während sich der Präsident das Recht anmaßt, die Ermordung jeder beliebigen Person an jedem Ort der Welt anzuordnen. Das Wahlverfahren wurde jedes echten demokratischen Inhalts beraubt und in einen abscheulichen Wettbewerb zwischen diversen Strohmännern von milliardenschweren Oligarchen verwandelt, die von zwei Parteien ins Rennen geschickt werden, die völlig von der Wirtschafts- und Finanzelite, dem Militär und der CIA kontrolliert werden.
Die vorsätzliche Förderung von religiösem Obskurantismus dient eindeutigen politischen Zielen. Der Papstbesuch fällt mitten in eine unablässige Kampagne zur Wiederbelebung mittelalterlicher, reaktionärer, gegen Vernunft, Wissenschaft und Demokratie gerichteter Vorstellungen, deren Ziel die Mobilisierung sozialer Kräfte ist, die eingesetzt werden können, um den Widerstand der Bevölkerung zu blockieren und zu unterdrücken.
Letztes Jahr hatte der Oberste Gerichtshof beispielsweise entschieden, dass das „christliche Unternehmen“ Hobby Lobby das „Recht“ habe, seinen Angestellten religiöse Ansichten aufzuzwingen. Im vergangenen Monat fand eine reaktionäre Kampagne um Kim Davis statt, eine kommunale Sachbearbeiterin aus Kentucky, die sich weigerte schwulen Paaren Heiratslizenzen auszustellen, weil dies angeblich gegen „Gottes Autorität“ verstoße. Mehrere Präsidentschaftskandidaten der Republikaner versuchen zudem offen antimuslimische Bigotterie zu schüren.
Lenin formulierte 1905 unzweideutig die sozialistische Haltung zur Trennung von Kirche und Staat: „Vollständige Trennung der Kirche vom Staat – das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt“.
Und: „Den Staat soll die Religion nichts angehen, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem muss es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen, d.h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist.“
Die völlige Unterwerfung des amerikanischen politischen Establishments und der Medien unter den Papst verdeutlicht, dass die Verteidigung demokratischer Rechte, darunter das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat, untrennbar mit der Entwicklung einer sozialistischen Massenbewegung der Arbeiterklasse verbunden ist.